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Im Sommer 2017 machte in den deutschen Zeitungen eine Meldung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung die Runde, in der von einer weiteren Zunahme des Pendelns berichtet wurde. Basierend auf Daten der Bundesagentur für Arbeit wurde berichtet, dass mittlerweile (2015) 60 % der Arbeitnehmer einer Tätigkeit jenseits ihres Wohnorts nachgehen: „Besonders viele Menschen pendeln demnach in die Großstädte: Inzwischen wohnen zwei Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die in den Metropolen Frankfurt am Main, Düsseldorf und Stuttgart arbeiten, außerhalb der Stadtgrenzen. Die meisten Pendler hat München: Hier stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die außerhalb der Stadt wohnen, seit dem Jahr 2000 auf 355 000 – ein Plus von 21 %.“1

Wer dagegen Städte wie den regionalen Job-Turbomotor München unter einem anderen Aspekt betrachtet, nämlich dem von Arbeitslosigkeit, bekommt ein ganz anderes Bild gezeichnet. Wieder auf Basis von Daten der Bundesagentur für Arbeit und zu einem ähnlichen Zeitpunkt (2014) sieht es so aus, als sei das Pendler-Paradebeispiel München hier relativ schlechter als das Umland aufgestellt. Abbildung 1 markiert ansteigende Arbeitslosenquoten in kräftigeren Grautönen. Und solche dunkleren Flecken stellen alle größeren Städte in Bayern wie München, Nürnberg, Erlangen, Fürth, Augsburg dar, aber auch die kleineren wie Memmingen, Kempten oder Rosenheim.

Abbildung 1
Regionale Arbeitslosigkeit in Bayern (Auszug)
Regionale Arbeitslosigkeit in Bayern (Auszug)

Je dunkler die Grautöne sind, desto höher ist die Arbeitslosenquote.

Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: interaktiver Online-Atlas INKAR (Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung), http://inkar.de/ (2.1.2018).

Ähnlich sieht es auch in anderen Bundesländer aus. Beispielhaft soll hier nach dem südlichsten Bundesland noch das nördlichste dargestellt werden (vgl. Abbildung 2). Zwar ist die Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein im Vergleich zum stärker prosperierenden Süden insgesamt höher, aber auch hier fallen alle vier kreisfreien Städte noch einmal negativ gegenüber ihrem Umfeld ab. Die Städte Flensburg, Kiel, Neumünster und Lübeck sind jedoch wieder zugleich regional attraktive Arbeitsmärkte, sichtbar an ihrer jeweiligen positiven Pendlerbilanz.2

Abbildung 2
Regionale Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein
Regionale Arbeitslosigkeit in Schleswig-Holstein

Je dunkler die Grautöne sind, desto höher ist die Arbeitslosenquote.

Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: interaktiver Online-Atlas INKAR (Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung), http://inkar.de/ (2.1.2018).

Wie kommt es zu diesen Unterschieden in der Darstellung, auf der einen Seite regionaler Jobmotor, auf der anderen aber Arbeitslosenschwerpunkt? Ist das ein Mismatch-Phänomen, bei dem schlecht ausgebildete Innenstadtbewohner oft vergeblich nach Arbeit suchen, während die reichlich vorhandenen Jobs mit besser qualifizierten Umlandbewohnern besetzt werden? Die Evidenz dafür ist relativ schwach. Denn wenn dem so wäre, sollte der Anteil der Langzeitarbeitslosen an allen Arbeitslosen in den Städten hoch, im Umfeld dagegen relativ niedrig sein. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen gilt als besonders guter Indikator für schwer auf dem Arbeitsmarkt zu vermittelnde Personen.3 Im Beispielland Bayern ergeben sich aber folgende Angaben:4 Städte insgesamt haben eine Arbeitslosigkeit von 5,6 %, Kreise von 3,1 %. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen beträgt entsprechend 28,2 % und 22,9 %. In Schleswig-Holstein lauten die Vergleichsziffern bei der Arbeitslosigkeit 10,3 % versus 5,8 %. Und bei den Langzeitarbeitslosen 38,1 % gegenüber 36,0 %. Während die städtische Arbeitslosigkeit sowohl in Bayern als auch in Schleswig-Holstein deutlich über der ländlichen liegt, ist dieser Unterschied bei den Langzeitarbeitslosen wesentlich geringer.

Wenn also die Struktur der städtischen Arbeitslosen bestenfalls einen kleineren Anteil der gemessenen höheren Arbeitslosigkeit erklären kann, was ist dann der überwiegende Grund dieser frappierenden Gleichzeitigkeit von Jobmotor und Arbeitslosigkeitshotspot? Die Antwort liegt in der Statistik. Arbeitslose werden am Wohnort gezählt.5 Aber auch der Nenner der Arbeitslosenquote – die zivilen Erwerbspersonen – sind wohnortbezogen definiert.6 Was auf den ersten Blick als methodische Konsistenz erscheint, ist im Zeitalter zunehmenden Pendelns inhaltlich dysfunktional geworden. Bei einer regionalbezogenen Arbeitslosenquote interessiert schließlich die Chance der Arbeitslosen auf „ihrem“ jeweiligen Arbeitsmarkt zu reüssieren. Und dafür ist die Zahl der in diesem Gebiet Tätigen und Arbeitsuchenden die richtige Bezugsgröße. Dass die von der Bundesagentur für Arbeit berichtete relativ höhere Arbeitslosigkeit der Städte tatsächlich etwas mit den nicht-berücksichtigten Pendlern zu tun hat, lässt sich wieder an den beiden Beispiel-Bundesländern aufzeigen. Korreliert man auf Kreis­ebene die Arbeitslosigkeit mit der Pendlerbilanz (als Anteil an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten)7 erhält man für Bayern einen Zusammenhang von 0,63 und für Schleswig-Holstein von 0,79 auf dem 0,1-%-Signifikanzniveau.

Was würde eine Alternativberechnung ergeben, die tatsächlich auf die Beschäftigung am Arbeitsort bezogen wäre? Eine solche lässt sich nicht ganz präzise durchführen, da die Originaldaten dafür nicht systematisch vollständig, sondern nur in einzelnen Regionalberichten partiell publiziert sind:8 Aber man kann doch näherungsweise auf die von Destatis veröffentlichten Gesamt-Erwerbstätigenangaben (wieder für 2014)9 zurückgreifen, um eine solche Schätzung durchzuführen. Allerdings zeigen sich bei der Nutzung dieser zugänglichen Informationen kleinere Stichdaten-, Rundungs- und Abgrenzungsfehler. Im Unterschied zur Statistik der Bundesagentur, die nur auf den zivilen Beschäftigten beruht, sind hier Militärangehörige enthalten.

Unterstellt man, dass die Gruppe der Selbständigen, der mithelfenden Familienangehörigen und der Beamten das gleiche regionale Pendlerverhalten wie die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aufweist – und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass hier signifikante Abweichungen vorliegen –, kann man näherungsweise eine regionale Arbeitslosenquote mit Arbeitsort-Bezug errechnen. Für die Beispielländer Bayern und Schleswig-Holstein sieht das Ergebnis dann so aus: Waren die offiziellen Arbeitslosigkeitsquoten für die Städte im Süden im Durchschnitt 5,6 % und 3,1 %, sind es jetzt 3,7 % und 3,5 %. Nach der Korrektur ist also kein wirklicher Unterschied mehr zu erkennen. In Schleswig-Holstein ist die Fallhöhe größer, mit ursprünglich 10,3 % und 5,8 %. Nun ergeben sich im korrigierten Fall 7,8 % und 7,2 %. Tabelle 1 zeigt für alle Bundesländer die durchschnittlichen Arbeitslosenquoten vor und nach der Korrektur, getrennt nach Städten und Kreisen sowie insgesamt.10 Die Reihenfolge der Länder entspricht derjenigen der Regionalstatistik.

Tabelle 1
Wohn- und arbeitsortbezogene Arbeitslosenquoten der Bundesländer
Wohnortbezogen Arbeitsortbezogen
Städte Kreise Insgesamt Städte Kreise Insgesamt
Schleswig-Holstein 10,3 5,8 6,8 7,8 7,2 7,2
Hamburg - - 7,6 - - 5,8
Niedersachsen 8,0 5,9 6,5 6,0 6,8 6,6
Bremen - - 10,9 - - 8,1
Nordrhein-Westfalen 10,2 6,7 8,2 8,3 7,4 7,9
Hessen 7,8 5,1 5,7 4,6 5,7 5,1
Rheinland-Pfalz 7,6 4,7 5,4 5,2 6,2 5,6
Baden-Württemberg 5,7 3,6 4,0 3,6 3,9 3,8
Bayern 5,6 3,1 3,8 3,7 3,5 3,6
Saarland 9,8 6,0 7,2 7,5 6,2 6,9
Berlin - - 11,1 - - 10,1
Brandenburg 10,1 9,3 9,4 8,3 11,5 10,5
Mecklenburg- Vorpommern 11,0 11,4 11,2 9,0 13,0 11,8
Sachsen 9,4 8,6 8,8 8,0 9,7 8,9
Sachsen-Anhalt 11,6 10,4 10,7 10,1 12,2 11,4
Thüringen 8,4 7,6 7,8 6,7 9,0 8,0

Quelle: Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Laufende Raumbeobachtung – Raumabgrenzungen, http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/Gemeinden/gemeinden_node.html (2.1.2017). Die Städte Hannover, Aachen und Saarbrücken, die jeweils in Regionalverbünden integriert und deshalb nach dem interaktiven Online-Atlas INKAR den Landkreisen zugeordnet sind, wurden als Städte rekodiert. Alle drei Gebiete haben einen positiven Pendlersaldo.

Der Eindruck großer Ähnlichkeit mit dem Umfeld, meistens sogar mit einem kleineren Vorteil für die Stadt (neunmal), seltener für das Land (viermal), gilt auch für die Situation der Stadtstaaten, bei denen in den Medien gerne eine Elendsmassierung konstatiert wird.11 Berlin hat statt 11,1 % zwar nach der Korrektur immer noch hohe 10,1 %. Aber im umgebenden und stärker pendelnden Brandenburg steigt die durchschnittliche Arbeitslosenquote von ursprünglich 9,4 % auf jetzt 10,5 %, sodass in dem Großraum Berlin-Brandenburg ebenfalls ein eher nivelliertes Bild von Metropole und Land aufscheint. In Hamburg sinkt die Ziffer von 7,6 % auf 5,8 %, in der Stadt Bremen von 10,1 % auf 7,5 %, im bei der Kreisstatistik getrennt angegebenen Bremerhaven von 14,7 % auf 11,1 %. Der Durchschnitt Schleswig-Holsteins lag nach der Korrektur bei 7,2 %, der von Niedersachsen bei 6,6 %. Hamburg steht bei der Arbeitslosigkeit somit eindeutig besser als seine beiden benachbarten Flächenländer da, Bremen dagegen mit jetzt durchschnittlich 8,1 % in Relation zu dem es einschließenden Niedersachsen weiterhin schlechter.

Tabelle 1 spiegelt implizit auch die Bedeutung des Ost-West-Pendelns wider. Aktuell wird geschätzt, dass beruflich verursacht etwa 400 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte von Ost nach West, dagegen nur 135 000 in die umgekehrte Richtung pendeln.12 Entsprechend steigen deshalb die korrigierten Arbeitslosenquoten für alle östlichen Flächenländer etwas an. Am stärksten ist das neben dem im Zusammenhang mit Berlin erwähnten Brandenburg noch in Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen-Anhalt zu beobachten, während Sachsen und Thüringen nur ganz bescheidene Veränderungen aufweisen.

Schließlich ist es aufschlussreich, auch noch einmal die Situation für die Gesamtheit aller Kreise und Städte in Deutschland zu beschreiben. Ursprünglich lagen die kreisfreien Kommunen mit einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von 8,6 % erheblich über den Kreisen mit 5,6 %. Nach der Korrektur lauten die Ziffern in beiden Fällen 6,4 %. Insgesamt sind also in Bezug auf Arbeitslosigkeit die Bewohner der Städte in Deutschland in einer sehr ähnlichen Lage wie die des Landes – wenn die Pendlerbilanz Berücksichtigung findet. Das wird aber weder in der öffentlichen Wahrnehmung noch in statistischen Ausarbeitungen thematisiert. Stattdessen werden die auf dem Wohnort basierenden regionalen Angaben von Destatis und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kritiklos übernommen. Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft schlägt z. B. mit „Arbeitslose sind häufiger Stadt- als Landbewohner“13 in genau die gleiche Kerbe wie die Friedrich-Ebert-Stiftung mit „Ein deutliches Gefälle ist auch zwischen Stadt und Land zu sehen: In kreisfreien Städten ist die Arbeitslosenquote meist höher als in den Landkreisen, oftmals liegt sie über zehn Prozent.“14 Hier wurde gezeigt, dass man dieses unterstellte Stadt-Land-Gefälle zulasten des urbanen Raums begründet bestreiten kann. Es wäre in einer Zeit intensiven und weiter zunehmenden Pendelns hoch angebracht, wenn die dafür zuständigen Einrichtungen in Zukunft regelmäßig (wenigstens auch) eine regionale Arbeitslosenquote auf Basis des Arbeitsorts berechnen und publizieren würden.

* Der Beitrag entstand im Zusammenhang mit dem Projekt „Lebenszeit 4.0“ gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

  • 1 Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Immer mehr Menschen pendeln zur Arbeit, April 2017, http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Home/Topthemen/2017-pendeln.html (2.1.2018).
  • 2 Nach Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: interaktiver Online-Atlas INKAR (Indikatoren und Karten zur Raum- und Stadtentwicklung), http://inkar.de/ (2.1.2018).
  • 3 Vgl. R. Konle-Seidl: Integration arbeitsmarktferner Personen im Ländervergleich: Kein Patentrezept in Sicht, IAB-Kurzbericht, Nr. 1/2016, Nürnberg.
  • 4 Nach Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: interaktiver Online-Atlas INKAR, Ausgabe August 2017, http://inkar.de/ (2.1.2018).
  • 5 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Statistik der Arbeitslosen, Arbeitsuchenden und gemeldeten erwerbsfähigen Personen, Stand 3.3.2016.
  • 6 Vgl. Bundesagentur für Arbeit: Erweiterung der Berichterstattung über Arbeitslosenquoten, Nürnberg 2009.
  • 7 Nach Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: interaktiver Online-Atlas INKAR, http://inkar.de/ (2.1.2018).
  • 8 „Aus diesem Grund dürfen die Komponenten der Bezugsgröße (speziell: Daten über Beamte, Selbständige und Grenzpendler) außerhalb dieses Bezuges nicht verwendet werden. Eine Veröffentlichung der von statistischen Ämtern oder anderen Dritten zugelieferten Komponenten (Beamte, Selbständige, mithelfende Familienangehörige und Grenzpendler) werden grundsätzlich nur auf Bundesebene veröffentlicht. Die Bezugsgrößen veröffentlicht die Bundesagentur für Arbeit nur in den regionalen Gliederungen von Agenturbezirken und Kreisen bzw. kreisfreien Städten.“ Bundesagentur für Arbeit: Erweiterung ..., a. a. O., S. 6.
  • 9 Vgl. Regionaldatenbank Deutschland, https://www.regionalstatistik.de/.
  • 10 Zur ursprünglichen Einordnung vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Laufende Raumbeobachtung – Raumabgrenzungen, http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Raumbeobachtung/Raumabgrenzungen/Gemeinden/gemeinden_node.html (2.1.2017).
  • 11 Für viele ähnliche Zeitungsmeldungen sei nur diese vom Tagesspiegel mit der Aussage zitiert: „Stadtstaaten mit ihren geballten sozialen Probleme“, vgl. A. Kühne: Der Geburtsort als Bildungsschicksal, Tagesspiegel vom 1.3.2017.
  • 12 O. V.: Viele pendeln von Ost- nach Westdeutschland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung online vom 16.4.2016, http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/beruf/mobilitaet-im-beruf-viele-pendeln-von-ost-nach-westdeutschland-14182344.html (2.1.2018).
  • 13 Vgl. Informationen aus dem Institut der deutschen Wirtschaft Köln: Regionale Armut „Städte machen arm“, Köln 2016.
  • 14 Vgl. J. Albrech, P. Fink, H. Tiemann: Ungleiches Deutschland: Sozioökonomischer Disparitätenbericht 2015, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2016, S. 12.

Beitrag als PDF


DOI: 10.1007/s10273-018-2243-5