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Angesichts der sich ausbreitenden Digitalisierung wird aktuell befürchtet, dass die damit verbundenen Prozessinnovationen sich überaus negativ auf die Beschäftigung auswirken könnten. Aus historischer Perspektive zeigt sich indes, dass mehr oder weniger disruptive Produktivitätssteigerungen zur Genese des historisch gesehen recht jungen Kapitalismus gehören. Demzufolge setzen Innovationen allein, so gravierend sie sein mögen, die zentralen Funktionsprinzipien der modernen Ökonomie nicht außer Kraft. Mit einer geeigneten Politik lässt sich im Übrigen ein drohender Stellenabbau infolge solcher Transformationsprozesse des in seiner Grundstruktur gleichbleibenden zeitgenössischen Wirtschaftssystems bekämpfen.

Gegenwärtig beschäftigen sich etliche Publikationen und Konferenzen mit dem „Fluch und Segen der Digitalisierung“1. Es geht generell darum, Risiken und Chancen der Umwälzung vieler Lebensbereiche auszuleuchten, die in der Verwandlung von analogen Signalen in diskrete Werte ihren Ursprung haben. Die kommenden Ausführungen drehen sich indes nur um ausgewählte gesamtwirtschaftliche Fragen, welche die modernen Informations- und Kommunikationstechniken bis hin zur Künstlichen Intelligenz aufwerfen. Keine Erörterung finden damit verbundene Potenziale und Herausforderungen auf der individuellen sowie der institutionellen Ebene, z. B. aus der Unternehmensperspektive. Spezifische Probleme, wie etwa die Marktmacht der Internetkonzerne Google, Facebook und Co., bleiben ebenfalls außen vor.

Die Volkswirtschaftslehre gilt seit ihren Anfängen als „dismal science“, denn die Disziplin verkündet bis heute oft trostlose Botschaften. Im Jahr 1798 hat Thomas Robert Malthus erstmals sein Bevölkerungsgesetz publiziert, wonach die einer arithmetischen Reihe gehorchende und daher linear zunehmende Lebensmittelproduktion zu einem zukünftigen Zeitpunkt nicht mehr in der Lage sei, die gemäß einer geometrischen Reihe exponentiell wachsende Menschenmasse zu ernähren: Tritt man diesem Prozess nicht entgegen, muss die überzählige Bevölkerung notgedrungen zugrunde gehen.2

Wachstum der Bevölkerung und der Güterproduktion

Ohne die Prämissen und Prognosen von Malthus näher zu würdigen,3 ist damit das Stichwort gefallen, das auf die historische Zäsur verweist, die den Globus seit etwas mehr als 200 Jahren kennzeichnet. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Weltbevölkerung seit der Zeitwende. Während die Population über Jahrhunderte praktisch stagnierte, schießt ab dem 18. Jahrhundert die Bevölkerungszahl raketenartig in die Höhe und beträgt gegenwärtig ca. 7,5 Mrd. Mit der rasanten Bevölkerungsexpansion ist zwangsläufig eine gewaltige Steigerung der gesamten Güterproduktion verbunden. Das bedeutet aber keineswegs, dass jeder Einzelne zufriedenstellend versorgt wird: Nach längerem Rückgang steigt seit 2015 die Zahl der Hungernden wieder und beläuft sich 2017 nach UNO-Angaben auf 821 Mio., das sind fast 11 % aller Individuen.4 Die meisten Menschen leben in Entwicklungs- und Schwellenländern, die allerdings fast immer dem Konsummodell „reifer“ Volkswirtschaften nachzueifern versuchen. Dabei liegt auf der Hand, dass das Ökosystem schnell zusammenbräche, wenn die Milliarden Personen in den nachziehenden Regionen den gleichen Ressourcenverbrauch an den Tag legen wollten, wie das „im Westen“ gang und gäbe ist.

Abbildung 1
Entwicklung der Weltbevölkerung seit der Zeitwende
Entwicklung der Weltbevölkerung seit der Zeitwende

Quellen: Daten für die Jahre 1 bis 200: K. K. Goldewijk, A. Beusen, G. van Drecht, M. de Vos: The HYDE 3.1 spatially explicit database of human-induced global land-use change over the past 12,000 years, in: Global Ecology and Biogeography, Vol. 20 (2011), S. 73-86. Daten für die Jahre 2000 bis 2020: UNO: Department of Economic and Social Affairs, Population Division: World Population Prospects: The 2017 Revision, https://population.un.org/wpp/Download/Standard/Population (7.1.2019).

Das geschilderte Phänomen wird üblicherweise mit einer simplen Formel in Zusammenhang gebracht: Dampfmaschine plus Bevölkerungswachstum gleich Industrielle Revolution. Diese Deutung ist jedoch oberflächlich und ungenau: Weder wurde in den ersten Jahrzehnten des sozialen, ökonomischen und kulturellen Epochenwandels die neue Antriebsmaschine weiträumig benutzt, noch geschah die Umwälzung quasi über Nacht in einem rapide ablaufenden Vorgang. In Ansätzen kommt diese Erkenntnis schon darin zum Ausdruck, dass man einerseits sowohl von der Industriellen Revolution schlechthin als einem singulären Ereignis spricht, als auch andererseits eine Abfolge solcher industriellen Revolutionen aneinanderreiht.

Grundlagen der industriellen Revolution(en)

Disruptive Technologien werden oft mit einer jeweils charakteristischen Basisinnovation assoziiert. Demnach präge die Dampfmaschine die erste industrielle Revolution, Fließbandfertigung die zweite, um von dem Computer auf der dritten Stufe abgelöst zu werden. Bei der von der Digitalisierung befeuerten „Industrie 4.0“ handelt es sich um die aktuelle Ausprägung.5 In Wahrheit orientiert sich die Terminologie hauptsächlich auf im Alltagsleben wahrzunehmende, wenngleich tiefgreifende Transformationsprozesse eines in seiner Grundstruktur beständigen kapitalistischen Systems, dessen ökonomische Triebkräfte meist im Dunkeln bleiben.

Allzu oft fällt die wichtigste Voraussetzung der historisch einmaligen Dynamik unter den Tisch: Ohne die beträchtlichen Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft wäre der Aufschwung des Abendlandes zum Schrittmacher des Fortschritts undurchführbar gewesen. Aber auch in dieser Hinsicht sollte man nicht von einer agrarischen „Revolution“ reden, die der industriellen vorausgegangen sei. So lagen etwa Bemühungen, den hölzernen Hackpflug durch von Ochsen oder Pferden gezogene Gerätschaften zu ersetzen, Jahrhunderte zurück, um schließlich im schweren Eisenpflug zu münden. Die ersten Ansätze zum Übergang von der Zwei- auf die Dreifelderwirtschaft finden sich bereits zu karolingischer Zeit. Zum Durchbruch der wesentlich ergiebigeren Anbaumethode verhalf indes eine Katastrophe: Im Zuge der im 14. Jahrhundert einsetzenden Pestwellen verloren manche Regionen bis zur Hälfte der Population, worauf der an seine Grenzen geratene überkommene Ackerbau den nötigen Spielraum zur allgemeinen Einführung der überlegenen Fruchtfolge gewann. Wasser- und Windmühlen taten ihr Übriges für den vehementen Anstieg des Mehrprodukts in der Nahrungsmittelproduktion. Nur auf dieser Basis konnten die Kalorien zur Versorgung der kräftig wachsenden Schar an (städtischen) Essern außerhalb des Agrarsektors abgezweigt werden.6

Tatsächlich liegen die Wurzeln der Moderne bereits im Mittelalter.7 In dieser Phase wurden grundlegende Erfindungen gemacht, z. B. die mechanische Uhr, der Kompass, das Ruder der Schiffe und der Buchdruck, um nur eine Auswahl zu nennen. Eine herausragende Bedeutung erlangte die im 14. Jahrhundert beginnende Entwicklung der Feuerwaffe, die erst die globale Verbreitung des Kapitalismus ermöglichte. Überhaupt finden sich fürchterliche „Fortschritte“ in den Tötungsverfahren, von der konventionellen Kriegsführung über die atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen bis hin zu den Killerrobotern.

Angesichts recht alter, doch wenig genutzter Inventionen diskutiert man in der Wirtschaftsgeschichte die „Needham-Question“. Wie Joseph Needham in seinem vielbändigen Werk ausführlich dargelegt hat, besaßen die Chinesen lange vor anderen Kulturkreisen eindrucksvolle wissenschaftliche und technische Kenntnisse, ohne eine industrielle Revolution zu inszenieren.8 Stattdessen wurde im Reich der Mitte über die Jahrhunderte eine eher selbstgenügsame, vor allem auf Bedarfsdeckung gerichtete Wirtschaftsweise beibehalten. Als Gründe hierfür werden üblicherweise religiöse, soziale und psychologische Faktoren angeführt: „Der Buddhismus pries die weltflüchtige Beschaulichkeit und der sich durchsetzende sog. Neukonfuzianismus wirkte durch seine Betonung der Familiengemeinschaft als Hemmnis des Fortschritts.“9

Gesellschaftliche Voraussetzungen

Dies verweist auf die hinreichende Bedingung, die zu den notwendigen technischen Fähigkeiten treten musste, um die Entfaltung und Weiterentwicklung der in ihren Grundlinien meist schon bekannten Produktionsmethoden hervorzurufen. Offenkundig bedarf es entsprechend motivierter Individuen, die einer Industrialisierung die Sporen geben. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts richteten immer mehr Europäer ihr Interesse auf das Leben hienieden, statt darauf, nach gottgefälligem Durchschreiten des irdischen Jammertals schließlich im himmlischen Paradies das ewige Seelenheil zu finden. Es ist darum kein Zufall, dass die industrielle Revolution mit einer in verschiedenen Bereichen zu beobachtenden Diesseitsorientierung der Menschen einhergeht. So wenden sich emanzipierende Aufständische 1776 in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung oder 1789 in der Französischen Revolution gegen fremde bzw. feudale Mächte. Schließlich entwickeln sich Institutionen, z. B. Kapitalgesellschaften, und Verkehrsformen, wie die marktkoordinierte Arbeitsteilung, um den Spielraum des zunehmend verbreiteten Erwerbstriebs zu erweitern. Handel und Gewerbe sollen nicht mehr bloß ein standesgemäßes Dasein erlauben, sondern der Reichtumsmehrung von Akteuren dienen, die nun ihr Schicksal in die Hand nehmen dürfen, können und wollen. In den früheren Perioden wurde das immer schon zumindest latent vorhandene Trachten nach Besitzvergrößerung in erster Linie durch friedliche oder gewaltsame Aneignung des Vermögens anderer befriedigt, wobei man den Handel lange als Nullsummenspiel interpretierte: Der Gewinn einer Partei geht zulasten der anderen. Beim Geschäftemachen der neuen Zeit wird hingegen die Erzeugung eines Mehrwerts Mittel zum Zweck: die unternehmerische Plusmacherei.

Vor diesem Hintergrund wuchs der Drang, die Perspektiven der sich abzeichnenden Verselbstständigung der Ökonomie aus integrierten Gesellschaften, in denen wirtschaftliches Handeln in einen übergeordneten Zusammenhang eingebettet war, wissenschaftlich zu begleiten.10 Der Titel des im Jahr 1776 veröffentlichten Hauptwerks von Adam Smith bringt das Forschungsprogramm auf den Punkt: „An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“. Der manchmal als „Adam und Schmid der Volkswirtschaftslehre“ bezeichnete Schotte griff das fürstliche Merkantilsystem mit der Argumentation an, dass das Vorteilsstreben der einzelnen Bürger unter Wettbewerbsbedingungen eben nicht in Chaos und Niedergang münde, sondern quasi automatisch zugleich das Gemeinwohl befördere.

Tatsächlich hat sich unterdessen der von Egoismus und Gier getriebene Homo oeconomicus in einer säkularisierten Welt kräftig vermehrt. Die Verbreitung der Eigenliebe und Habsucht unter den modernen Menschen sollte deshalb weniger unter der Rubrik „Industrielle Revolution“ geführt werden, sondern inhaltlich präziser „kapitalistische Genese“ heißen. Der Prozess ist mit einer extensiven und intensiven Landnahme der modernen Wirtschaftsweise verbunden: Die Globalisierung hat die internationale Konkurrenz mit Macht ergriffen und in den Ländern selbst unterliegt die Bereitstellung öffentlicher Güter – wie Infrastruktur und Bildungswesen – in erhöhtem Maß unternehmerischen Effizienzkriterien, bis hin zur Privatisierung.

Technischer Fortschritt und Beschäftigung: das Scherentheorem in Aktion

Bezeichnenderweise erkennen die Klassiker der Volkwirtschaftslehre in der Arbeit und ihrer Ergiebigkeit die Quelle des Wohlstands.11 Der große Unterschied gegenüber den früheren Epochen besteht jedoch darin, dass die Arbeitskraft des Proletariers (persönlich frei, aber besitzlos) nach Abschaffung der Leibeigenschaft selbst zur Ware geworden ist. Im Feudalismus war die den Hörigen abgepresste Mehrarbeit mit bloßem Auge erkennbar: Die Herrschaftsverhältnisse, die eine unentgeltliche Aneignung der von den Hintersassen erbrachten Leistungen gestatten, lagen offen zutage. Im Kapitalismus geht es hingegen subtiler zu: Die Gesetze des Warentausches gewährleisten, dass die Bezahlung der Beschäftigten nicht dem Gebrauchswert, sondern lediglich dem Tauschwert ihrer Tätigkeiten entspricht. Selbstverständlich ist eine Subsistenzvergütung, die nur die Reproduktion der Arbeitskraft erlaubt, abhängig von sozialen sowie kulturellen Gegebenheiten und sichert in entwickelten Volkswirtschaften mehr als die rein physische Existenz. Der Unterschied zwischen dem Sozialprodukt und der Lohnsumme konstituiert freilich stets den Mehrwert. Ohne diesen Überschuss könnte kein Gewinn anfallen, dessen Maximierung die kapitalistische Warenproduktion befeuert. In der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung spiegelt sich dies darin, dass die Differenz zwischen Volkseinkommen und Arbeitnehmerentgelt dem Unternehmens- und Vermögenseinkommen entspricht.

Neben der Umsatzsteigerung durch eine geeignete Preis- und Produktpolitik erscheint die Kostensenkung als probates Mittel, den Firmenprofit zu erhöhen. Dabei geht es letzten Endes meist um die Verringerung des Personalaufwands, d. h. es kommt darauf an, vom tunlichst billigen Produktionsfaktor Arbeit möglichst wenige Einheiten einzusetzen. Damit ist das Problem der technologischen Arbeitslosigkeit angesprochen, das die Ökonomik seit langem umtreibt.

Den frühen Kristallisationspunkt dieser Kontroverse bildet David Ricardos Werk „On the Principles of Political Economy and Taxation“. In den ersten beiden Auflagen hatte er der sogenannten Kompensationstheorie beigepflichtet. Demnach kommen zunächst entlassene Arbeiter wieder in Lohn und Brot, da die Innovationen Gewinnsteigerungen und Preissenkungen hervorrufen, womit zusätzliche Nachfrage ausgelöst werde, die den deshalb bloß transitorischen Beschäftigungsrückgang ausgleiche. Von dieser Auffassung rückte Ricardo jedoch im hinzugefügten 31. Kapitel „On Machinery“ der 1821 erschienenen dritten Auflage ab: „All I wish to prove, is, that the discovery and use of machinery … will be injurious to the labouring class, as some of their number will be thrown out of employment, and population will become redundant …“12

In der aktuellen Diskussion der Frage, welche Auswirkung die Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt habe, wird auf Studien verwiesen, die drastische Beschäftigungseinbrüche prognostizieren. So üben nach Frey und Osborne 47 % der US-amerikanischen Beschäftigten Tätigkeiten aus, die in den nächsten zehn bis 20 Jahren wegrationalisiert werden,13 für Deutschland wurden sogar 59 % genannt.14

Freilich ist es keineswegs ausgemacht, dass die Automatisierung und Computerisierung wirklich das an die Wand gemalte Schreckgespenst massenhafter Erwerbslosigkeit heraufbeschwört. Gordon meint etwa, die Digitalisierung bleibe hinter den mit der Elektrifizierung und der Diffusion des Verbrennungsmotors verbundenen Umwälzungen der zweiten industriellen Revolution zurück, die zwischen 1913 und 1972 zu einem goldenen Zeitalter stark wachsender Produktivität geführt habe.15 Seitdem verläuft die Zunahme recht moderat, ja es ist von einer säkularen Stagnation die Rede.16 Dazu passen Untersuchungen, die ein eher konstantes Beschäftigungsniveau vorhersagen, wenngleich sich traditionelle Berufsbilder zum Teil stark verändern oder gar wegfallen.17

Tatsächlich lässt sich die Wirkung des technischen Fortschritts auf die Erwerbstätigkeit nicht monokausal erklären. Der Personaleinsatz hängt neben der individuellen Arbeitszeit vom Arbeitsvolumen (N) ab, das die auf ein Jahr bezogene Gesamtzahl der in einer Volkswirtschaft verrichteten Arbeitsstunden umfasst. Diese Größe ergibt sich definitorisch als Quotient des Bruttoinlandsprodukts (Y) und des Ertrags pro Stunde (y):

Zur Dynamisierung dieser Formel berechnet man zunächst das totale Differenzial:

Die Division des Ausdrucks (2) durch die Gleichung (1) ergibt die Änderungsrate des Arbeitsvolumens:

Offenkundig schwankt das Arbeitsvolumen stets, wenn die Variation der makroökonomischen Gesamtleistung (dY/Y) von der Fluktuation des mikroökonomischen Ertrags (dy/y) abweicht. Sofern die Digitalisierung zu einem Wachstum der Stundenproduktivität führt, das die prozentuale Zunahme des Bruttoinlandsprodukts (BIP) übertrifft, nimmt die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden ab. Dieser zuweilen als „Scherentheorem“ bezeichnete Zusammenhang gilt ebenfalls auf der Unternehmens- bzw. Branchen­ebene: Entlassungen oder Einstellungen ergeben sich je nach Konstellation zwischen der individuellen Schaffenskraft und der von der betrachteten Einheit zu erbringenden Leistung.

Grundsätzlich strebt jede Unternehmensleitung danach, dass die Belegschaft bei gegebenen Lohnsätzen möglichst gute Ergebnisse liefert. Hierzu wählen Entscheidungsträger aus einem Spektrum an Alternativen die in ihren Augen optimale Technik: Nicht die Dampfmaschine hat uns den Fabrikanten beschert, in Wahrheit diente der fauchende Apparat dem Ziel des Arbeitgebers: mehr Gewinn zu machen. In der Alltagswahrnehmung ist die Subjektverkehrung freilich typisch. So heißt es gegenwärtig allerorten: „Die Digitalisierung verändert unser Leben“. Das ist indes eine der Oberfläche verhaftete Auffassung von einer vermeintlich exogen oktroyierten Technik. Stattdessen konzipieren und benutzen Akteure Instrumente, die ihnen unter systemendogenen Umständen besonders zieltauglich erscheinen. Schumpeter ging sogar soweit, nur jene Wirtschaftssubjekte Unternehmer zu nennen, „… deren Funktion die Durchsetzung neuer Kombinationen ist und die dabei das aktive Element sind.“18

Doch selbst bei extremer Steigerung der Arbeitsproduktivität müssen der Gesellschaft nicht die Jobs ausgehen, wie einige behaupten. Vielmehr vermag eine (selbstverständlich ressourcenschonende!) Wachstumspolitik einen Stellenabbau durchaus zu kompensieren. Es ist eine zentrale Aufgabe der Makroökonomik, die Determinanten des BIP aufzudecken und damit die erforderlichen Hinweise zu geben, wie sich die gesamtwirtschaftliche Leistung steuern lässt: Der Markt sorgt eben keineswegs allein und immer für Vollbeschäftigung.

Die Abbildung 2 gibt für Deutschland die Entwicklungen des realen BIP, der Stundenproduktivität und des Arbeitsvolumens seit 1950 wieder. Die Darstellung zeigt, dass all die in der Vergangenheit implementierten Neuerungen sich nicht so negativ in der verrichteten Gesamtstundenzahl niedergeschlagen haben, wie manche mein(t)en und andere für die Zukunft befürchten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass seit etlichen Jahren vielerorts Computer, Roboter und das Internet die menschliche Arbeitskraft verstärken.

Abbildung 2
Reales Bruttoinlandsprodukt (BIP), Stunden-­produktivität und Arbeitsvolumen in Deutschland
Reales Bruttoinlandsprodukt (BIP), Stunden-­produktivität und Arbeitsvolumen in Deutschland

Quelle: The Conference Board: Total Economy Database (Original version), https://www.conference-board.org/data/economydatabase/index.cfm?id=27762 (7.1.2019).

Wegen des Strukturwandels in Richtung Dienstleistungen mit eher bescheidenen Möglichkeiten zur Prozessinnovation ist die gesamtwirtschaftliche Produktivitätssteigerung in letzter Zeit relativ gering ausgefallen. Sie wird üblicherweise als Restgröße zwischen den statistisch bekannten Verläufen des BIP und des Arbeitsvolumens ermittelt. Die tatsächliche Kausalität verläuft indes andersherum: In Wahrheit determiniert der Unterschied zwischen der Entwicklung der Gesamtleistung und des Stundenertrags die Dynamik des Arbeitsvolumens, wie es die Gleichung (3) auch ausdrückt.

Solange die Expansion des BIP mit der Produktivitätssteigerung Schritt gehalten hat, blieb das Arbeitsvolumen konstant. Obwohl dem seit der Wiedervereinigung nicht mehr so ist, wuchs bei leicht gesunkenem Arbeitsvolumen die Zahl der abhängig Beschäftigten und beträgt aktuell ungefähr 40 Mio. Dazu gehören allerdings inzwischen etwa 10 Mio. reguläre Teilzeitkräfte, weshalb sich die durchschnittliche Wochenarbeitszeit auf gegenwärtig knapp 30 Stunden reduziert hat.19

In diesem Licht rückt eine weitere Stellschraube in den Blick, um negativen Wirkungen der eigentlich positiv zu bewertenden Einsparung an überwiegend routinierten Tätigkeiten im Zuge der Digitalisierung zu begegnen: Wie bei vorhergegangenen Schüben des technischen Fortschritts erlaubt eine individuelle Arbeitszeitverkürzung, das Gesamtpensum auf mehr Personen zu verteilen. Allerdings sollte dies sozialverträglicher als gegenwärtig geschehen: Derzeit möchte ein erheblicher Teil der Vollbeschäftigten weniger Stunden absolvieren, während sich viele Mini- und Midi-Jobber längere Arbeitszeiten wünschen.20

Fazit

Im Ergebnis wirft die Digitalisierung aus volkswirtschaftlicher Sicht keine völlig neuen Probleme auf. Jedenfalls ließe sich mit einer geeigneten Wachstums-, Verteilungs- und Arbeitszeitpolitik der Segen der aktuellen und künftigen Transformationsprozesse des Kapitalismus mehren und ihr Fluch mindern. Doch nach wie vor macht die orthodoxe Ökonomik ihrem düsteren Ruf alle Ehre, indem sie dem Publikum ganz im Stile der alten „dismal science“ weismacht, die Ursache allen Übels seien zu hohe Löhne, zu kurze Arbeitszeiten, zu üppige Sozialleistungen usw.21 Kritische Wissenschaftler verweisen indes auf den inzwischen erreichten Stand der Produktivkräfte, der die Perspektive eröffne, mit den geeigneten Maßnahmen künftige Häutungen – in Umkehrung einer bekannten Formel – als „zerstörerische Schöpfung“ zu gestalten. Es dürfte aber eine sehr lange Strecke sein, welche die kapitalistische Genese auf diesem Weg noch zurückzulegen hat.

  • 1 So lautete auch das Oberthema eines Festaktes am 16. November 2018 zur Feier des 25-jährigen Bestehens der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Technischen Universität Chemnitz. Bei diesem Text handelt es sich um die Schriftfassung eines Vortrags, den der Verfasser im Rahmen der Veranstaltung gehalten hat.
  • 2 Vgl. T. R. Malthus: Das Bevölkerungsgesetz, München 1977.
  • 3 Vgl. dazu K. G. Zinn: Malthus, Marx und Keynes zur Überbevölkerungsthese, in: H. Gischer, J. Hartwig, B. Sahin (Hrsg.): Bewegungsgesetze des Kapitalismus, Festschrift für Fritz Helmedag, Marburg 2018, S. 251-269.
  • 4 Vgl. FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO: The State of Food Security and Nutrition in the World 2018, http://www.fao.org/3/I9553EN/i9553en.pdf (7.1.2019). Den Unterernährten stehen freilich weltweit in etwa genauso viele Übergewichtige gegenüber.
  • 5 Indes löste Peter Glotz schon vor der Jahrtausendwende in Deutschland mit seiner Analyse des „Digitalen Kapitalismus“ ein beachtliches Echo aus. Vgl. P. Glotz: Die beschleunigte Gesellschaft, Kulturkämpfe im digitalen Kapitalismus, München 1999.
  • 6 Die Trennung in einen Lohn- und einen Luxusgutsektor erweist sich auch für die makroökonomische Analyse als fruchtbar. Die Primärproduktion erzeugt die Waren und Dienste, die mit Arbeitseinkommen bezahlt werden. Diese Branche determiniert die realen Lohnstückkosten bzw. die allgemeine Profitrate. Die Sekundärindustrie bedient die Nachfrage, die sich aus den restlichen Einkommen speist. Vgl. F. Helmedag: Marx und Keynes: Mit Arbeitswerten zum Arbeitsvolumen, in: H. Hagemann, J. Kromphardt, B. Sahin (Hrsg.): Arbeit und Beschäftigung – Keynes und Marx, Schriften der Keynes-Gesellschaft, Bd. 12, Marburg 2019, S. 263-282.
  • 7 Vgl. K. G. Zinn: Kanonen und Pest. Über die Ursprünge der Neuzeit im 14. und 15. Jahrhundert, Opladen 1989.
  • 8 Vgl. J. Needham: Science and Civilization in China, Cambridge 1954 ff.
  • 9 W. Zorn: Wirtschaftsgeschichte, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 9, Stuttgart, New York u. a. O. 1982, S. 55-82, S. 73. Freilich dürfte auch die von 1279 bis 1368 währende Besetzung durch die Mongolen zur Stagnation beigetragen haben. Vgl. J. P. Voiret: Needham’s Puzzle in retrospect, in: P. Widmer (Hrsg.): Europe in China – China in Europe, Mission as a vehicle to intercultural dialogue, Stuttgart 2012, S. 121-126.
  • 10 In diesem Phänomen besteht nach Polanyi das Wesen der industriellen Revolution, die er „Great Transformation“ nennt. Vgl. K. Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1997.
  • 11 Vgl. im Einzelnen F. Helmedag: Warenproduktion mittels Arbeit. Zur Rehabilitation des Wertgesetzes, 3. Aufl., Marburg 2018.
  • 12 D. Ricardo: On the Principles of Political Economy and Taxation, in: P. Sraffa (Hrsg.): The Works and Correspondence of David Ricardo, Vol. I, Cambridge 1970, S. 390.
  • 13 Vgl. C. B. Frey, M. A. Osborne: The future of employment: How susceptible are jobs to computerisation?, in: Technological Forecasting & Social Change, Vol. 114 (2017), S. 254-280.
  • 14 Vgl. C. Brzeski, I. Burk: Die Roboter kommen. Folgen der Automatisierung für den deutschen Arbeitsmarkt, in: INGDiBa Economic Research, 30. April 2015. Allerdings haben die Autoren unterdessen ihre extreme Einschätzung relativiert; vgl. C. Brzeski, I. Fechner: Die Roboter kommen (doch nicht?), Folgen der Automatisierung für den deutschen Arbeitsmarkt – eine Bestandsaufnahme, in: INGDiBa Economic & Financial Analysis, 11. Juni 2018.
  • 15 Vgl. R. J. Gordon: Does the „New Economy“ Measure up to the Great Inventions of the Past?, in: Journal of Economic Perspectives, Vol. 14(4) (2000), S. 49-74. Eine weitaus ausführlichere Darlegung bietet R. J. Gordon: The Rise and Fall of American Growth. The U.S. Standard of Living Since the Civil War, Princeton, Oxford 2016.
  • 16 Vgl. L. H. Summers: Demand Side Secular Stagnation, in: The American Economic Review, Papers & Proceedings 2015, Vol. 105 (5), S. 60-65.
  • 17 Vgl. A. Warning, E. Weber: Digitalisation, hiring and personnel policy, IAB Discussion Paper 10/2018.
  • 18 J. A. Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmergewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, 9. Aufl., Berlin 1997.
  • 19 Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: IAB-Prognose für 2017/2018, in: IAB-Kurzbericht 21/2017, S. 1-12, S. 11.
  • 20 Vgl. DGB Bundesvorstand: Arbeitszeit-Vielfalt für Beschäftigte – durch Tarifvertrag und Gesetz!, in: DGB klartext 07/2018.
  • 21 Vgl. F. Helmedag: Trügerisches Wirtschaftswissen: Akademische Fehlurteile und populäre Irrtümer im Überblick, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Bd. 41, Jg. 2015, S. 291-302; sowie D. H. Ehnts, F. Helmedag: The Present State of Economics: Errors and Omissions Excepted, in: O. Feraboli, C. J. Morelli (Hrsg.): Post Crash Economics, Plurality and Heterodox Ideas in Teaching and Research, Palgrave Macmillan 2018, S. 149-172.

Title:Industrial Revolution(s): Transformation Processes of Capitalism

Abstract:Against the backdrop of digitisation, the author focuses on the effects of process innovations, particularly with respect to employment. He exposes the technical and mental roots of the contemporary mode of production and shows that more or less disruptive productivity increases belong to the genesis of historically young capitalism. In fact, innovations alone, as pervasive as they may be, do not suspend the central operating principles of modern economics. But appropriate policies are required to fight the threat of unemployment resulting from transformation processes within the system.

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DOI: 10.1007/s10273-019-2420-1