Im vergangenen Konjunkturzyklus nach der Jahrhundertwende hat die Industrie ihre Position in der deutschen Volkswirtschaft gestärkt. Ihre Bruttowertschöpfung ist bis 2008 real kräftiger gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt und die Bruttowertschöpfung in allen anderen großen Wirtschaftsbereichen. Bereits 2008 aber und damit früher als in der Gesamtwirtschaft setzte ein durch die Finanz- und Wirtschaftskrise bedingter Rückgang ein. Bis 2007 hat die Industrie ihren Anteil an der Wirtschaftsleistung ausbauen können. Er betrug 2007 in jeweiligen Preisen 26,4%, nach rund 25% um die Jahrhundertwende. Die Beschäftigung in der Industrie war dagegen infolge der überdurchschnittlichen Produktivitätssteigerungen absolut und anteilsmäßig rückläufig. Je nach Wahl der Messgröße sprechen diese Befunde zum Teil gegen einen Bedeutungsverlust dieses Sektors, zum Teil aber auch dafür.
Folgt man beispielsweise der Drei-Sektoren-Hypothese, verläuft der langfristige Entwicklungsprozess durch eine kontinuierliche Verschiebung von Produktion und Beschäftigung vom primären (Landwirtschaft) über den sekundären (Produzierendes Gewerbe) zum tertiären Sektor (Dienstleistungen). Die abwechselnde Dominanz der einzelnen Sektoren geht gleichzeitig einher mit Stadien steigenden Durchschnittseinkommens.1 Die „Entdecker“ der Hypothese sahen den Ursprung dieses Zusammenhangs in den Verschiebungen der Nachfrage bei steigenden Einkommen und dem dadurch ausgelösten Wandel von Produktions- und Beschäftigungsstrukturen2 oder in der unterschiedlichen Intensität des technischen Fortschritts mit sektoral divergierenden Produktivitätssteigerungen.3
Für Deutschland wurde die empirische Gültigkeit der Hypothese in den 1970er Jahren debattiert und teilweise verworfen.4 In den darauffolgenden Jahrzehnten entwickelte sich der Strukturwandel der deutschen Wirtschaft jedoch bei steigenden Pro-Kopf-Einkommen eindeutig im Einklang mit der Hypothese. In allen Jahrzehnten seit 1970 ist die reale Bruttowertschöpfung im Kernbereich des sekundären Sektors, der Industrie, im Jahresdurchschnitt schneller als in der Land- und Forstwirtschaft, aber langsamer als in allen drei großen Dienstleistungsbereichen gestiegen. Dieses Wachstumsgefälle hat zu den erwarteten Anteilsverschiebungen zugunsten des tertiären Sektors geführt. Dieser Trend wurde allerdings in einzelnen Jahren mit konjunkturellen Hochzeiten vor–übergehend unterbrochen, so im Boomjahr 2000 sowie im Aufschwung von 2004 bis 2007 und den Aufholprozessen in den Jahren nach der vergangenen Finanz- und Wirtschaftskrise. In diesen Jahren hat die Industrie Produktionsanteile zurückgewonnen.
Problematische Einteilung der Sektoren
Zur Illustration wird die Entwicklung in der Abbildung 1 als Verschiebung der Anteile der nominalen Bruttowertschöpfung abgebildet. Dabei wird auf eine Einteilung der Sektoren zurückgegriffen, die auf den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen fußt und sich in der Praxis durchgesetzt hat. Ein Aussagenverlust dürfte mit dieser Spezifikation nicht verbunden sein, da die Zuordnungen der Wirtschaftszweige zu den Sektoren je nach Begründungszusammenhang der Drei-Sektoren-Hypothese nur geringfügig voneinander abweichen.
Abbildung 1
Anteil der Sektoren an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung
Quellen: Statistisches Bundesamt, FS 18, Reihe 1.5; eigene Darstellung.
Als statistische Grundlage für den Nachweis der Hypothese bedienten sich die ersten Autoren Größen der im Aufbau befindlichen Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Als Maß der Produktion nutzten sie das Sozialprodukt (Inlandsprodukt), das in zusammenfassender Form das Endprodukt einer Volkswirtschaft zum Inhalt hat und aus Angaben der produzierenden und dienstleistenden Institutionen wie beispielsweise Unternehmen abgeleitet wird. Diese Wirtschaftseinheiten sind jedoch komplexe Gebilde, in deren Rahmen ganz heterogene Aktivitäten von der Produktion über die Distribution bis hin zu Forschung und Entwicklung ablaufen können, die unter dem Schwerpunkt der Tätigkeit subsumiert werden und somit in dieser Klassifikation untergehen. Mit diesem methodischen Vorgehen wird zwar ein Makrobild der Volkswirtschaft erzeugt, mit dem die materiellen Wohlstandsbeiträge der Sektoren gemessen werden können. Dabei werden jedoch die Interdependenzen zwischen den Sektoren, die Entwicklung der intersektoralen Arbeitsteilung und der Wechsel der Tätigkeiten in den Institutionen entweder ganz ausgeblendet oder nur partiell wiedergegeben. Diese Nachteile lassen sich mildern, wenn – wie im Folgenden – als Datengrundlage auf funktional gegliederte Informationen wie in Input-Output-Tabellen zurückgegriffen wird. Solche Tabellen zeigen die produktions- und gütermäßige Verflechtung innerhalb einer Volkswirtschaft und mit dem Ausland auf.5 Im Unterschied zur Statistik des Inlandsprodukts gehen sie von homogenen Produktions- und Gütereinheiten aus und zeigen die Verwendung der Güter für die Endnachfrage und den Vorleistungsverbrauch der Produktionsbereiche.6 Anknüpfend an den Produktionswert der Güter (Output) lässt sich so der Strukturwandel anhand der wechselseitigen Durchdringung der Produktionsprozesse zwischen den drei Sektoren und deren Entwicklung zeigen. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge ist seit der forcierten Globalisierung der Wirtschaft in den 1990er Jahren, der Fragmentierung der nationalen Produktionsprozesse und der anschließenden Auslagerung einzelner Produktionsabschnitte in das In- und Ausland (Outsourcing) sowie der wachsenden Bedeutung von Prozess- und Produktinnovationen besonders für wirtschaftsstrategische Überlegungen wichtig.
Die Industrie ist vielseitig verknüpft mit den Produktionsprozessen in den anderen Güterbereichen.7 Sie ist der größte Lieferant von Vorleistungen für andere Bereiche, aber auch der größte Empfänger von Zulieferungen aus ihnen. Vor allem ist sie ein Nettoverbraucher von Dienstleistungen und dies mit steigender Tendenz. Sie bezieht zunehmend mehr Dienstleistungen aus dem tertiären Sektor zur Ausführung der industriellen Fertigungsprozesse als sie Güter an ihn zur Ausführung von Dienstleistungsprozessen liefert. Dieser Saldo hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten deutlich erhöht und spricht für die wachsende Durchdringung der Industrieproduktion mit Dienstleistungen. Eine wichtige Rolle spielen dabei das Outsourcing von Aktivitäten – hier als Oberbegriff für verschiedene Arten von Outsourcing und Offshoring verwendet –, mit dem die Kernkompetenzen der Unternehmen durch die Nutzung von Spezialisierungs- und Größenvorteilen von Dienstleistungsanbietern gestärkt werden soll. Nicht weniger wichtig scheint der Rückgriff auf Forschungs- und Entwicklungsleistungen und andere industrienahe, mit dem technischen Fortschritt verbundene Dienstleistungen zu sein,8 die vor allem vom Produktionsbereich Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleister beigesteuert werden. Die Angaben in Tabelle 1 sind ein starkes Indiz für die Tertiarisierung der Industrieproduktion selbst.
Tabelle 1
Bezüge und Lieferungen für die inländische Produktion zwischen Industrie1 und Dienstleistungen
Dienstleistungs-Bezüge der Industrie | Lieferungen der Industrie an Dienstleistungs-Sektoren | Saldo aus Bezügen und Lieferungen | Dienstleistungs-Bezüge der Industrie | Lieferungen der Industrie an Dienstleistungs-Sektoren2 | |
---|---|---|---|---|---|
in Mio. Euro | Jahresdurchschnittliche Veränderung in % | ||||
1995 | 204 826 | 71 476 | 133 350 | ||
2000 | 250 098 | 83 234 | 166 864 | 4,1 | 3,1 |
2005 | 270 012 | 86 908 | 183 104 | 1,5 | 0,9 |
2007 | 302 452 | 91 697 | 210 755 | 5,8 | 2,7 |
1 Die Industrie umfasst hier die Produktionsbereiche Bergbau, Verarbeitendes Gewerbe, Energie- und Wasserversorgung.
2 Ohne Lieferung von Investitionsgütern der Industrie.
Quellen: Statistisches Bundesamt, FS 18, Reihe 2; eigene Berechnungen.
Entwicklung industrieller Endprodukte
Die Relevanz dieses Prozesses für die gesamtwirtschaftliche Stellung der Industrie wird klar, wenn auf Basis der Input-Output-Tabellen die Entwicklung der industriellen Endprodukte analysiert wird, also jenes Teils der Industrieerzeugnisse, die im jährlichen Produktionsprozess nicht als Vorleistungsgüter verbraucht werden, sondern ihn als Konsumgut, Investitionsgut oder Exportgut verlassen. Von 2000 bis 2007 ist die Nachfrage nach industriellen Endprodukten um 35% und damit auch deren Ausstoß deutlich stärker als das Endprodukt der Volkswirtschaft insgesamt (22%) und seiner Dienstleistungsbestandteile gestiegen. Der Anteil der industriellen Endprodukte erhöhte sich damit von rund 36% im Jahr 2000 auf knapp 40% im Jahr 2007.
Die Input-Output-Analyse bietet mit der Anwendung der Leontief-Inversen die Möglichkeit, über den direkten und indirekten Vorleistungsverbund zu zeigen, wie die Produktionsbereiche mit ihrer Wertschöpfung zu den Industriegütern beitragen, die Bestandteile des volkswirtschaftlichen Endprodukts sind. So verkörpern die industriellen Endprodukte nur zu fast zwei Dritteln Wertschöpfungsanteile aus der Industrie selbst und zu einem Fünftel Anteile aus dem Produktionsbereich Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleister. Während die Anteile der Industrie seit 2000 prozentual stabil geblieben sind, hat dieser Dienstleistungssektor seine Bedeutung auf Kosten anderer Produktionsbereiche von 19% auf 21% erhöht.
Die industriellen Endprodukte enthalten zugleich eine deutlich größere Bruttowertschöpfung als der Produktionsbereich Industrie direkt hervorbringt. Entfielen auf den Industriebereich im Jahr 2000 22,9% der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung und hatten die industriellen Endprodukte 30,8% der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung absorbiert, so hatten sich die entsprechenden Relationen auf 23,8% bzw. 32,8% im Jahr 2007 erhöht (vgl. Tabelle 2). Damit vergrößerte sich der Abstand prozentual von 34% im Jahr 2000 auf 38% im Jahr 2007. Verantwortlich für den Endproduktüberschuss industrieller Erzeugnisse gegenüber der Wertschöpfung in der Industrie ist die Tertiarisierung der Industriellen Fertigungsprozesse. Dies wirkt dem Anteilsverlust der rein industriellen Fertigungsprozesse entgegen.
Tabelle 2
Verteilung der Bruttowertschöpfung auf Produktionssektoren und sektorale Endprodukte
1995 | 2000 | 2005 | 2007 | |
---|---|---|---|---|
Produktionssektoren | ||||
Land- und Forstwirtschaft | 1,3 | 1,2 | 0,8 | 0,9 |
Industrie | 23,9 | 22,9 | 22,9 | 23,8 |
Baugewerbe | 6,3 | 5,2 | 4,1 | 4,2 |
Handel, Gastgewerbe, Verkehr | 18,8 | 19,1 | 18,4 | 18,3 |
Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleister | 27,4 | 28,8 | 30,8 | 30,8 |
Öffentl. und sonstige private Dienstleistungen | 22,2 | 22,8 | 23 | 22,1 |
Insgesamt | 100 | 100 | 100 | 100 |
Endprodukte | ||||
Land- und Forstwirtschaftliche Güter | 0,7 | 0,8 | 0,6 | 0,7 |
Industriegüter | 30,1 | 30,8 | 31,3 | 32,8 |
Bauleistungen | 9,8 | 7,9 | 6,1 | 6,2 |
Handels-, Gastgewerbe- und Verkehrsleistungen | 17,9 | 18,7 | 19,0 | 18,9 |
Finanzierungs-, Vermietungs- und Unternehmensdienstleistungen | 16,6 | 17,0 | 18,1 | 17,7 |
Öffentl. und sonstige private Dienstleistungen | 24,9 | 24,9 | 24,9 | 23,7 |
Insgesamt | 100 | 100 | 100 | 100 |
Quellen: Statistisches Bundesamt, FS 18, Reihe 2, Input-Output Tabellen; eigene Berechnungen.
Summa summarum kann der Bedeutungswandel der Industrie nicht allein von ihrem Anteil an der gesamtwirtschaftlichen Bruttowertschöpfung abgeleitet werden. Ihre volle Bedeutung wird erst sichtbar, wenn die Interdependenzen der Industrie mit den anderen Produktionsbereichen in die Betrachtung einbezogen werden. Ein Bedeutungsverlust der Industrie kann dabei für das Jahrzehnt vor der Wirtschafts- und Finanzkrise auf keinen Fall festgestellt werden. Deutschland hat seinen Status als Industrieland zumindest erhalten können.
- 1 E. Görgens: Die Drei-Sektoren-Hypothese, in: WISU, 6/1975, S. 287.
- 2 Vgl. A. G. B. Fisher: Production, primary, secondary, tertiary, in: Economic Record, 15 (1939), S. 24-38.
- 3 Vgl. C. Clark: The conditions of economic progress, London 1940; J. Fourastié: Le grand espoir du XXe siècle, Paris 1949. Deutsche Übersetzung: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1954.
- 4 M. Willms: Strukturpolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 4. Auflage, München 1990, S. 369 f.
- 5 Für Deutschland hat das Statistische Bundesamt seit der Vereinigung Input-Output-Tabellen ab 1991 für eine ganze Reihe von Jahren bis 2007 in der Gliederung nach 71 Produktions- und Güterbereichen bereitgestellt.
- 6 Zur Abbildung der homogenen Produktionseinheiten in den Input-Output-Tabellen vgl. insbesondere C. Stahmer, P. Bleses, B. Meyer: Input-Output-Rechnung. Instrumente der Politikberatung, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2000.
- 7 Vgl. dazu ausführlicher P. Kalmbach, R. Franke, K. Knottenbauer, H. Krämer: Die Interdependenz von Industrie und Dienstleistungen. Zur Dynamik eines komplexen Beziehungsgeflechts, Berlin 2005.
- 8 Henning Klodt et al. gehen hier bis zur Formulierung einer „Innovationshypothese“. Vgl. H. Klodt, R. Maurer, A. Schimmelpfennig: Tertiarisierung in der deutschen Wirtschaft, Kieler Studien, Nr. 283, Institut für Weltwirtschaft, Tübingen 1997, S. 56.