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In der Märzausgabe 2019 veröffentlichte der Wirtschaftsdienst einen Aufsatz mit dem Titel „Vorschlag zur Grundrente: ungerecht, ineffizient und teuer“ von Franz Ruland. Tim Köhler-Rama vertritt hier eine andere Auffassung, er plädiert für die Grundrente als Element des sozialen Ausgleichs im Rentenrecht. Im Anschluss erläutert Ruland seinen Standpunkt in einer Erwiderung.

Grundrente ist kein Systembruch – eine Replik

Von Tim Köhler-Rama

In Heft 3/2019 des Wirtschaftsdienst veröffentlichte Franz Ruland einen kritischen Beitrag zur Grundrente.1 Ruland hält die von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil vorgeschlagene Grundrente für ungerecht, weil sie wegen der zeitlichen Voraussetzungen (35 Pflichtbeitragszeiten) nur in Ausnahmefällen den „wirklich Bedürftigen“ zugute käme. Er hält sie für ineffizient, weil Altersarmut anders besser bekämpft werden könne. Und er hält sie für teuer, weil sie gegenüber den Vorgängermodellen „Zuschuss- und Lebensleistungsrente“ (Ursula von der Leyen) bzw. „Solidar- und Zuschussrente“ (Andrea Nahles) den Personenkreis, der davon profitieren würde, erheblich erweitert.

Die Grundrente in der von Heil vorgeschlagenen Form stellt aber keinen Systembruch im Rentensystem dar, sondern knüpft konzeptionell an die bestehende „Rente nach Mindestentgeltpunkten“ an. Insofern lässt sie sich als ein Element des sozialen Ausgleichs, welches das Risiko der Lohndiskriminierung im Niedriglohnsektor kompensiert, charakterisieren. In Hinblick auf ihre eigentliche Zielsetzung – Anerkennung langjähriger Beitragszahlung – ist sie somit weder ungerecht, noch ineffizient. Nach Schätzungen des Finanzministers würde die Grundrente 4 Mrd. bis 6 Mrd. Euro pro Jahr kosten. Dies entspräche rund 2 % der gesamten Rentenausgaben im laufenden Jahr (2019: 278 Mrd. Euro). Die Rücklage der Rentenversicherung beträgt aktuell rund 38 Mrd. Euro und der Beitragssatz liegt mit 18,6 % auf einem niedrigen Niveau. Trotz Alterung der Bevölkerung sinkt seit 2010 der Rentenbeitrag und liegt heute weit unterhalb der 2001 prognostizierten Werte. Wenn das Ziel der Armutsvermeidung realisiert werden sollte, bedarf es effektiver Umverteilungsmechanismen innerhalb des Rentensystems zugunsten von Gruppen, die besonders stark vom Armutsrisiko betroffen sind. Geringverdiener gehören hierzu. Seit langem kritisieren internationale Organisationen wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), dass das deutsche Rentensystem für Geringverdiener einen zu geringen Deckungsgrad aufweist.2

Grundrente von Heil ist kein Systembruch im Rentensystem

Der Vorschlag von Hubertus Heil führt dazu, dass Arbeitsverdienste von solchen langjährig Versicherten höher bewertet werden, die es trotz langjähriger Pflichtversicherung nicht geschafft haben, einen Rentenanspruch, der oberhalb der Sozialhilfe liegt, zu akkumulieren.3 Damit unterscheidet sich der Vorschlag grundlegend von den genannten Reformmodellen ehemaliger Ministerinnen. Sie beinhalteten im Kern Sozialhilfe-Zuschläge im Alter. Es macht aber einen fundamentalen Unterschied, ob langjährig Versicherte mit einer Rente unterhalb der Sozialhilfe eine etwas höhere Sozialhilfe im Alter bekommen, oder ob sie ungeachtet irgendeiner Bedürftigkeitsprüfung aufgrund ihrer langjährigen Beitragszahlung eine Aufstockung ihrer Rentenansprüche erfahren. Das eine wäre tatsächlich nur eine (von Ruland zu Recht so bezeichnete) „Sozialhilfe de luxe“. Das andere aber impliziert eine Aufwertung des individuell erworbenen Versicherungsanspruchs, also eine tatsächliche rechtliche Besserstellung. Den Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung als „Verhandlungsmasse“ zu bewerten, wie das Ruland tut, ist daher eine Fehleinschätzung des Vorschlags. Der Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung ist vielmehr die eigentliche Essenz des Vorschlags. Denn genau darin unterscheidet er sich grundsätzlich von den genannten vorangegangenen Vorschlägen, die konzeptionell lediglich einen Sozialhilfe-Zuschlag für langjährig Versicherte beinhalteten, und sich in diesem Sinne eigentlich nicht als ernstzunehmende rentenpolitische Vorschläge qualifizieren konnten.

Eine Aufwertung geringer Entgeltpunkte ist dagegen bereits seit über 45 Jahren Bestandteil des Rentenrechts. Mit der Rentenreform 1972 wurde (übrigens mit Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion) die „Rente nach Mindesteinkommen“ eingeführt, die vorsah, dass für Versicherte, die mindestens 25 anrechnungsfähige Versicherungsjahre nachweisen können, die persönliche Bemessungsgrundlage für Zeiten bis 1972 auf 75 % des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten angehoben wurden.4 Das primäre Argument für diese Anhebung war die Doppelbelastung aus Kindererziehung und Erwerbstätigkeit, die (bis heute) überwiegend Frauen zu tragen haben. Außerdem diene – so das damalige Argument – diese Form des Nachteilsausgleichs einem stärkeren Anreiz für Frauen, ihre Erwerbstätigkeit zu steigern.5 Im Ergebnis führte die „Rente nach Mindesteinkommen“ zur Anhebung von mehr als 12 % aller Renten (davon ein Drittel Witwenrenten): „Die durchaus geschlechtsspezifische Wirkung der Norm als Ausgleich für Lohndiskriminierung langjährig erwerbstätiger Frauen bestätigte sich eindrucksvoll. In vier von fünf Fällen kam die Regelung Frauen zugute.“6

Mit dem Rentenreformgesetz von 1992 wurde die „Rente nach Mindesteinkommen“ im Kern für Zeiten bis 1992 verlängert. Der Grundgedanke blieb derselbe, nur der Name änderte sich. Von nun an hieß die Aufstockung geringer Einkommen bei der Rentenberechnung „Rente nach Mindestentgeltpunkten“. Sie sieht vor, dass Entgeltpunkte für Zeiten bis 1992 um 50 % (auf maximal 75 % des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten) angehoben werden.7 Ruland erwähnt in seinem Beitrag weder diese beiden Vorgänger-Regelungen, noch thematisiert er an irgendeiner Stelle das Problem der Lohndiskriminierung von Frauen. Beide Punkte sind aber für das Verständnis und die Einordnung des Grundrenten-Vorschlags von Heil unerlässlich.

Grundrente als Element des sozialen Ausgleichs im Rentenrecht

Ruland selbst beschreibt die „Rente nach Mindesteinkommen“ in einem älteren Beitrag folgendermaßen: Ziel dieser Regelung sei es, zu verhindern, dass sich die Lohndiskriminierung vor allem der Frauen voll in der Rente auswirkt. Diese „Korrektur der Fakten“ sei einer Versicherung zwar fremd. Sie sei „allerdings ein Beispiel für eine auf die Rentenversicherung begrenzte Umverteilung von oben nach unten (…) es geht darum, dass die Rentenversicherung zur Entlastung der staatlichen Fürsorge individuelle Versicherungsverläufe aufbessern muss, um ein angemessenes Sicherungsniveau zu gewährleisten.“8 Im Ergebnis charakterisiert Ruland die Aufstockung geringer Renten von langjährig Versicherten (in Form der „Rente nach Mindesteinkommen“) somit als ein „Element des sozialen Ausgleichs im Rentensystem zur Überbrückung der Kluft zwischen dem Versicherungsprinzip einerseits und dem angestrebten Sicherungsziel der Renten andererseits.“9 Warum kommt er nun im Hinblick auf den Vorschlag von Heil, obgleich er konzeptionell an die „Rente nach Mindesteinkommen“ anknüpft und sie de facto für aktuelle Beitragszeiten weiterführt, zu einem gänzlich anderen Urteil?

Rulands Aussage in dem Beitrag, dass die Grundrente „keine Versicherungsleistung“ sei, weil für sie „keine Beiträge geleistet“ würden, ist eine Verkürzung der Thematik, die dem Vorschlag von Heil nicht gerecht wird. Bedarfsgerechtigkeit im Rentensystem ist – genauso wie das Prinzip der Beitragsäquivalenz – ein konstituierendes Element des Rentensystems und resultiert aus sozialen Ausgleichsmechanismen im Zusammenhang mit der Absicherung von Lebensrisiken. Wenn infolge von Krankheit und Invalidität, Arbeitslosigkeit oder Pflegetätigkeiten Einkommensverluste drohen, kompensiert das Rentensystem zumindest teilweise den daraus drohenden Verlust an Rentenansprüchen. Die Anrechnung von Ausbildungszeiten oder die Berücksichtigung von Zurechnungszeiten sind Beispiele hierfür, wie Ruland selber überzeugend ausführt.10 Die Grundrente in der von Heil vorgeschlagenen Form würde jedenfalls keinen Systembruch darstellen, und es ist vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar, dass Ruland in diesem Zusammenhang nicht bereit ist, den wichtigen Aspekt der sozialen Ausgleichsfunktion des Rentensystems wenigstens mit zu diskutieren. Leider charakterisiert Ruland die Grundrente von Heil an mehreren Stellen als „ungerecht“, ohne klar zu sagen, welche Gerechtigkeitskonzeption er dabei vertritt. Vor allem hält er das Fehlen einer Bedürftigkeitsprüfung („Ausnahmebehandlung der Rentner … die das System der Sozialhilfe immer mehr abwerten“) für ungerecht und assoziiert hierbei offenbar das Konzept der Bedarfsgerechtigkeit. Dennoch wäre selbst in der Logik von Ruland die Grundrente keine „Verschleuderung öffentlicher Mittel“ (Ruland), wenn sie aufgrund ihrer sozialen Ausgleichsfunktion durch Beiträge finanziert würde.

Grundrente würde das Rentensystem stärken und vom Sozialhilfesystem abgrenzen

Tatsächlich ist die Bezeichnung „Grundrente“ für den rentenpolitischen Vorschlag von Heil etwas irreführend. Mit einer Grundrente (Basic Pension) wird international überwiegend eine vorleistungsunabhängige und steuerfinanzierte Leistung verknüpft.11 Anders als das Grundrenten für gewöhnlich tun, verfolgt Heils Vorschlag nicht primär das Ziel der Armutsvermeidung. Vielmehr geht es hier im Kern um den Ausgleich von Lohndiskriminierung. Indem die langjährige Beitragszahlung im Niedriglohnsektor rentenrechtlich bessergestellt wird, erhält ein geringer Verdienst im Niedriglohnsektor rentenrechtlich Anerkennung als soziales Risiko. Es geht daher an der Sache vorbei, wenn Ruland dem Vorschlag vorwirft, dass nur 1 % der Versicherten mit 35 Versicherungsjahren Grundsicherungsleistungen bezögen und somit ein „groteskes Missverhältnis zwischen der Zahl der Bedarfsfälle und der Zahl der Anspruchsberechtigten“ einer Grundrente à la Heil vorläge. Dennoch stimmt es natürlich, dass das Problem der ansteigenden Altersarmut (unter anderem infolge des sinkenden Rentenniveaus und ansteigenden Invaliditäts- und Arbeitslosigkeitsrisikos bei den jüngeren Kohorten) durch die Grundrente nicht gelöst werden kann.

Allerdings sieht Ruland ohnehin das Problem der ansteigenden Altersarmut im Vergleich zu dem Problem der ansteigenden Kosten vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung als das weniger drängende an. Nach seiner Auffassung sprechen vor allem die künftig demografiebedingt steigenden Rentenausgaben gegen die Einführung der Grundrente. Dabei vergisst er allerdings zu erwähnen, dass der Rentenbeitrag heute mit 18,6 % viel niedriger liegt, als in der Vergangenheit prognostiziert, weil die wirtschaftliche Entwicklung und die Einnahmen der Rentenversicherung sich deutlich positiver als erwartet entwickelten. Und er vergisst auch zu erwähnen, dass sich trotz dieser guten Entwicklung das Verhältnis des Sozialhilfebedarfs zur Netto-Standardrente12 seit 2002 sukzessive verschlechtert hat. Die Folge: Wer 70 % des Durchschnittsverdienstes erzielt, benötigt heute rund 40 Jahre, um einen Rentenanspruch in Höhe der Sozialhilfe zu erlangen. Vor rund 15 Jahren waren es noch 32 Jahre.13

Ähnlich schlecht hat sich die Einkommensposition des Rentenzugangs gegenüber dem Rentenbestand entwickelt. Immer häufiger liegen heute die Zahlbeträge der Altersrenten kaum noch oberhalb der Grundsicherung. In Ostdeutschland liegen bereits über 50 %, in Westdeutschland über 40 % der neu zugehenden Altersrenten der Männer unter 1 000 Euro. Bei den Frauen liegen diese Prozentsätze noch viel höher.14 Diese hohen Anteile von Renten, deren Zahlbeträge kaum oberhalb der Sozialhilfe liegen, sind nicht nur ein Indiz für eine bestehende Unterfinanzierung des staatlichen Rentensystems, sondern sie gefährden die Akzeptanz und Legitimation des Pflichtversicherungssystems und stellen außerdem zugleich den Grundgedanken der Statussicherung infrage, weil sie die relative Entwertung der im Rentensystem erworbenen Leistungsansprüche widerspiegeln. Seit Anfang der 2000er Jahre bleiben die Renten hinter der allgemeinen Lohnentwicklung und der Entwicklung des Sozialhilfebedarfs zurück. Auf diese Weise konvergieren die Sozialversicherungsansprüche aus dem Rentensystem im Ergebnis sukzessive mit den Fürsorgeleistungen aus dem Steuer-Transfer-System. Indem Ruland dieses Grundproblem ausblendet, verweigert er dem Grundrenten-Vorschlag dessen Würdigung im sozial- und rentenpolitischen Problemkontext.

Grundrente als Gegenleistung für langjährige Beitragszahlungen

Einer (übrigens in den meisten OECD-Ländern übliche) Aufstockung geringer Arbeitsentgelte bei der Rentenberechnung liegt eine ganz andere Konzeption zugrunde als eine vorleistungsunabhängige Grundrente, die vor allem der Armutsvermeidung dient. Besser als der Begriff „Grundrente“ passt zu dem Vorschlag von Heil daher tatsächlich der umstrittene Begriff „Respektrente“, denn grundsätzlich kollidiert die Grundrente – anders als die Basic Pensions in den meisten der 18 OECD-Staaten, in denen eine solche existiert, – eben nicht mit dem Prinzip der Beitragsäquivalenz, weil sie an die individuelle Vorleistung in Form der erworbenen Entgeltpunkte anknüpft. Und darin unterscheidet sie sich auch deutlich von einer primär „bedarfsorientierten Mindestrente“ (Means-tested Minimum Pension), mit der in Deutschland tatsächlich „der Rahmen zulässigen sozialen Ausgleichs innerhalb der Versichertengemeinschaft verlassen und die Hinwendung zur Wahrnehmung einer Aufgabe öffentlicher Fürsorge … vollzogen würde“15, wie der Verfassungsrechtler Wallerath schlussfolgert.

Dennoch ist die Frage von Ruland berechtigt: Warum soll das Subsidiaritätsprinzip für langjährig Versicherte aufgeweicht werden? „Respekt“ – so Ruland – „sei allen geschuldet“. Warum soll er bei einer Teilgruppe (nämlich den langjährig Versicherten) „ohne Vorleistung und ohne Not zu finanziellen Berechtigungen führen“16? Die Antwort lautet: Nicht der Respekt im Sinne der menschlichen Würde begründet hier einen Anspruch, sondern die konkrete langjährige Beitragsleistung in dem Rentensystem, das für sehr viele Menschen das einzige Sicherungssystem zur Vermeidung von Altersarmut darstellt. Die Voraussetzung einer 35-jährigen Versicherungszeit ist nicht willkürlich: Das Rentenrecht kennt an vielen Stellen eine bestimmte Zahl von Versicherungsjahren als Voraussetzung für eine Rentenanwartschaft, die zu Auszahlungen führt. Selbst für den Bezug einer Erwerbsminderungsrente ist in der Regel eine fünfjährige Versicherungszeit notwendig. Und die Honorierung langjähriger Beitragszahlungen ist in jedem Versicherungssystem ein ubiquitäres Phänomen. Begründen lässt sie sich damit, dass langjährig versicherte Personen mit ihren Beiträgen in besonderem Maße für die Stabilität des Systems gesorgt haben. Deshalb ist die Grundrente in der Konzeption von Hubertus Heil eben doch – anders als Ruland das sieht – eine Gegenleistung für eine Vorleistung.

Bedürftigkeitsprüfung würde das Renten- und Sozialhilfesystem vermischen

Die eigentliche Alternative zu einer Aufwertung von Entgeltpunkten langjährig Versicherter mit geringem Verdienst ist eine bedürftigkeitsgeprüfte steuerfinanzierte Aufstockung niedriger Renten. Im Rahmen einer solchen „bedarfsorientierten Mindestsicherung“ werden niedrige Renten – falls kein anderes Einkommen zur Verfügung steht – auf ein bestimmtes Niveau aufgestockt und der Aufstockungsbetrag der Rentenversicherung aus Steuermitteln erstattet. Bereits Mitte der 1980er Jahre hatte der Berliner Sozialsenator Ulf Fink (CDU) eine solche Aufstockung der Renten – genannt „Ausgleichszulage“ – vorgeschlagen. Der damalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm lehnte diesen Vorschlag ab, weil er Sozialhilfe und Rentenversicherung zu einem „Mischsystem“ mache.17 Zudem gab es Bedenken, dass eine „bedarfsorientierte Mindestsicherung“ dem Versicherungsgedanken entgegenstehe und die Gefahr bestehe, dass der Bund seinen Finanzierungsverpflichtungen nicht nachkomme, sodass diese bedürftigkeitsgeprüfte Leistung schließlich doch aus Beiträgen zu finanzieren wäre.18 Gegen eine solche „bedarfsorientierte Mindestsicherung“ mit Bedürftigkeitsprüfung spricht nicht zuletzt – wie Bernd von Maydell ausführt – aus verfassungsrechtlicher Sicht der „sozialstaatliche Handlungsauftrag“, demgemäß das staatliche Rentensystem für den Großteil der Versicherten „den Lebensbedarf sichernde Leistungen“ gewährleisten muss. Die Sozialhilfe sollte nur „im Einzelfall eintreten, sie hat jedoch nicht die Funktion, die Regelsicherung für ganze Personengruppen zu gewährleisten.“19 Leider lässt Ruland bei seiner Kritik an dem Grundrenten-Vorschlag auch diesen Aspekt unbeachtet.

Die rentenpolitische Grundfrage heute lautet (wieder einmal): Soll die gesetzliche Rentenversicherung Mindestsicherungselemente stärken, oder soll eine bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherung innerhalb des Rentensystems eingeführt werden? Letzteres, wie auch die von Ruland favorisierte alleinige Ausweitung der Freibeträge im Falle des Grundsicherungsbezugs auf Renteneinkommen, würde das staatliche Rentensystem im Ergebnis nicht stärken, sondern weiter schwächen, weil der Prozess der „systemischen Verschmelzung“ dadurch nicht aufgehalten würde. Sozialstaatliche Vorsorge sollte ermöglichen, die Bürger in ein möglichst hohes gesetzliches Sicherungsniveau einzubinden, um ihnen auch im Alter einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Hierzu sind neben einer Aufstockung niedriger Einkommen bei der Rentenberechnung vor allem ein ausreichend hohes Rentenniveau und eine allgemeine Versicherungspflicht in der zweiten oder dritten Säule notwendige Voraussetzungen.

  • 1 F. Ruland: Vorschlag zur Grundrente: ungerecht, ineffizient und teuer, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 3, S. 189-195, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/3/vorschlag-zur-grundrente-ungerecht-ineffizient-und-teuer/ (20.5.2019).
  • 2 Die OECD weist seit vielen Jahren regelmäßig in ihren Statistiken darauf hin, dass in Deutschland die Ersatzraten für Geringverdiener weit unterhalb des OECD-Durchschnitts liegen, vgl. OECD: Pensions at a Glance, Paris 2017, S. 103, 107.
  • 3 Die Grundrente laut Eckpunktepapier vom Februar 2019 des Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) sieht vor, dass die Zahl der durchschnittlichen Entgeltpunkte bis zu einer bestimmten Grenze (0,8) angehoben werden, wenn wenigstens 0,2 Entgeltpunkte erworben wurden. Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse können keine Grundrente begründen. Voraussetzung für den Bezug der Grund- bzw. „Respektrente“ ist, dass die Versicherten mindestens 35 Jahre Pflichtbeitragszeiten aufweisen. Von der Grundrente würden nach Angaben des BMAS 3 Mio. bis 4 Mio. Menschen profitieren. Darunter befinden sich viele Frauen, weil sie sehr häufig Teilzeit arbeiten und deshalb im Alter oft nur eine Rente unterhalb des Existenzminimums erhalten. Ergänzt werden soll die Grundrente durch Verbesserungen beim Wohngeld (Einführung eines Freibetrags in Höhe von 125 Euro und regelmäßige Anpassungen der Wohngeldhöhe an steigende Mieten) und einen Freibetrag bei der Grundsicherung (25 % der individuellen Rente, aktuell maximal 106 Euro), vgl. BMAS: Eckpunkte zur Grundrente, http://www.portal-sozialpolitik.de/uploads/sopo/pdf/2019/2019-02-01_BMAS_Eckpunkte_Grundrente.pdf (11.4.2019).
  • 4 Vgl. C. Hermann: Entwicklungslinien der 100jährigen Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung: Die Zeit von 1957-1991, in: F. Ruland/VDR (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 1990, S. 120.
  • 5 Vgl. W. Schmähl: Alterssicherungspolitik in Deutschland, Tübingen 2018, S. 507 ff.
  • 6 C. Hermann, a. a. O., S. 121.
  • 7 Vgl. § 262 Abs. 1 SGB VI. Zum historischen Kontext, vgl. W. Schmähl, a. a. O., S. 801 ff.
  • 8 F. Ruland: Grundprinzipien des Rentenversicherungsrechts, in: F. Ruland/VDR (Hrsg.), a. a. O., S. 499 f.
  • 9 Ebenda, S. 516.
  • 10 Vgl. F. Ruland: Grundprinzipien des Rentenversicherungsrechts, a. a. O., S. 516. Vgl. dazu auch T. Köhler-Rama: Das schwierige Verhältnis von Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung, in: Die Sozialgerichtsbarkeit, Nr. 2/2019, S. 80 ff.
  • 11 Vgl. OECD, a. a. O., S. 86.
  • 12 Eine Netto-Standardrente resultiert aus 45 Jahren Durchschnittsverdienst.
  • 13 Johannes Steffen spricht in diesem Zusammenhang von einem „Prozess systemischer Verschmelzung“ der Renten- und Grundsicherungssysteme, vgl. Portal Sozialpolitik: Rente und Grundsicherung, http://www.portal-sozialpolitik.de/info-grafiken/grundsicherung-und-rente-seit-2002 (11.4.2019).
  • 14 Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Alterssicherungsbericht 2016, Tabelle B IV.1.3.
  • 15 M. Wallerath: Rentenversicherung und Verfassungsrecht, in: F. Ruland/VDR (Hrsg.), a. a. O., S. 288. Wallerath kommt in seiner Analyse daher zu dem Ergebnis, dass die „Rente nach Mindesteinkommen“ keine versicherungsfremde Leistung im Rentensystem darstellt.
  • 16 F. Ruland: Vorschlag zur Grundrente, a.a.O., S. 194.
  • 17 Vgl. W. Schmähl, a. a. O., S. 801.
  • 18 In diesem Sinne formuliert Kolb: „Wie rasch ließe sich argumentieren, das Rentenniveau sei reduzierbar, weil kleinere Renten, die davon am stärksten betroffen wären, durch die Mindestsicherung aufgefangen würden. Ferner könnte die Gefahr bestehen, dass der Gesetzgeber bei knappen Haushaltsmitteln die Kosten für eine solche Mindestsicherung auf die Rentenversicherung überwälzt. Als das geeignetere Instrument erscheint deshalb die – auch für Zeiten über 1991 hinaus verlängerte – Rente nach Mindesteinkommen. Sie sichert die der Rentenversicherung mindestens 35 Jahr lang angehörenden Person deutlich über dem durchschnittlichen Sozialhilfeniveau.“ R. Kolb: Zukunftsperspektiven der Rentenversicherung, in: F. Ruland/VDR (Hrsg.), a. a. O., S. 210 f.
  • 19 Vgl. B. von Maydell: Die Rentenversicherung als Teil der öffentlichen Alterssicherung, in: F. Ruland/VDR (Hrsg.), a. a. O., S. 416.

Es bleibt dabei: Die Grundrente taugt nichts – eine Erwiderung

Von Franz Ruland

Tim Köhler-Rama bin ich für seine Replik dankbar. Sie gibt die Möglichkeit, die gravierenden Schwächen des Vorschlags von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil nochmals aufzuzeigen: Er taugt nichts. Köhler-Ramas Rettungsversuch überzeugt nicht. Er begrenzt sich darauf, allerdings ohne Erfolg, die grundsätzliche Konzeption dieses Vorschlags zu verteidigen. Köhler-Rama setzt sich dabei aber nicht mit den Folgen des Vorschlags auseinander, die vor allem Gegenstand meiner Kritik waren. Doch allein an seinen Folgen entscheidet sich die Sinnhaftigkeit eines Vorschlags. Daran wird Heils Plan scheitern.

Rentensystem: Systembruch bleibt Systembruch

Die geplante Grundrente sei, so Köhler-Rama, kein Systembruch. Es habe ja früher bereits die „Rente nach Mindesteinkommen“ gegeben. Letzteres ist zwar richtig, bringt aber für den Vorschlag der Grundrente nichts. Mit der 1972 eingeführten Rente nach Mindesteinkommen wurden bei Versicherten, die 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten zurückgelegt und in ihnen nur einen Durchschnittswert von 0,75 erreicht hatten, Anrechte aus den Jahren vor 1973 mit niedrigerem Verdienst um das Anderthalbfache, maximal auf 75 % des Durchschnittsverdienstes angehoben.1 Profitieren sollten von dieser Regelung vor allem Frauen, weil es damals weder Kindererziehungs- noch Kinderberücksichtigungszeiten gab.2 Diese ausschließlich „rückwärtsgewandte“3, als Korrektur für die Vergangenheit eingeführte Bewertungsvorschrift war schon bei ihrer Einführung ein Bruch mit dem Versicherungsprinzip, und ist auch als solcher empfunden worden.4 Obwohl die Rentenreform 1992 eine Stärkung des Versicherungsprinzips anstrebte, ist die damit nicht vereinbare Höherbewertung von Zeiten zwar für Versicherungszeiten bis 1992 verlängert worden, blieb aber ein Auslaufmodell.5 Dieser schon damals als „ungerecht“ empfundene Systembruch6 ist hingenommen worden, um für die Rentenreform die Zustimmung der SPD zu gewinnen. Ein Systembruch bleibt, auch wenn er jetzt wiederholt würde, ein Systembruch. Jeder Systembruch führt zu kaum lösbaren Problemen der Gleichbehandlung – der Vorschlag von Bundesminister Heil mit seinen vielen Ungerechtigkeiten7 ist ein guter Beleg hierfür.

Da der Gesetzgeber sich seinerzeit für diesen Systembruch entschieden hatte, war die „Rente nach Mindesteinkommen“ Teil des von der Rentenversicherung zu finanzierenden sozialen Ausgleichs, beitragsfinanziert war diese Höherbewertung der Ansprüche ja nicht. Der „soziale Ausgleich“ ist ein Charakteristikum der Sozialversicherung und damit auch der Rentenversicherung. Er zeigt sich in ihr vor allem in der Wegtypisierung des individuellen Risikos.8 Auch wenn der „soziale Ausgleich“ das die Rentenversicherung prägende Äquivalenzprinzip einschränkt, ist der Gesetzgeber in den vom Grundgesetz (GG) insbesondere durch den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) gezogenen Grenzen in der Lage, der Solidargemeinschaft Lasten des sozialen Ausgleichs aufzubürden. Aber gerade dessen Elemente müssen, wenn sie schon nicht beitragsfinanziert sind, zumindest sinnvoll sein, was an seinen Folgen zu messen ist. Auf die verfassungsrechtlichen Bedenken, die der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier jüngst vorgetragen hat,9 sei verwiesen. Die Grundrente wäre, daran ändert die Replik von Köhler-Rama nichts, ein Modell ohne Sinn und System.10

Grundrente zur Armutsbekämpfung ungeeignet

Mit der Grundrente soll Armut verhindert werden. Selbst Köhler-Rama räumt ein, dass dieses Ziel verfehlt würde. Die Grundrente würde nur ausnahmsweise Armut im Alter verhindern. Von ihr sollen 3 Mio. bis 3,5 Mio. Personen profitieren. 2017 haben im Vergleich dazu „nur“ etwas mehr als 421 000 Altersrentner ergänzend Grundsicherung bezogen.11 Doch hätten die meisten von ihnen keinen Anspruch auf die Grundrente, weil sie die geforderten 35 Versicherungsjahre nicht erfüllen. Alleinstehende mit einer Rente zwischen 500 Euro und 750 Euro hatten im Durchschnitt ein Haushaltseinkommen von knapp 1400 Euro. Das Gesamteinkommen alleinstehender Frauen mit einer Rente zwischen 500 Euro und 750 Euro lag bei rund 1280 Euro.12 Altersarmut gibt es bei dem begünstigten Personenkreis fast nicht. Diejenigen, die die von der Bedürftigkeit unabhängige Grundrente bekämen, brauchten sie nicht. Aber die, die sie brauchten, bekämen sie nicht. Ausgeschlossen wären insbesondere Langzeitarbeitslose, Personen, die zeitweise abhängig beschäftigt, zeitweise selbständig oder die früh erwerbsgemindert waren, und trotz der Anrechnung der Kindererziehungszeit Mütter mit mehreren Kindern. Mit der Armutsbekämpfung lässt sich der Vorschlag also nicht rechtfertigen.

Deshalb geht auch der Einwand von Köhler-Rama ins Leere, ich hätte den Vorschlag der Grundrente nicht in dem Problemkontext der Armutsbekämpfung gewürdigt. Dies erübrigt sich bei einem Vorschlag, der zur Armutsbekämpfung nicht taugt. Und es erledigt sich auch der Hinweis, dass Personen, die nur 70 % des Durchschnittsverdienstes erzielen, immer mehr Versicherungsjahre brauchen, um eine Rente in Höhe in der Sozialhilfe zu erlangen. Altersarmut ist fast ausschließlich bei Personen anzutreffen, die nicht 35 Versicherungsjahre erfüllen – aber sie bekämen keine Grundrente. Wer nur 70 % des Durchschnitts verdient, liegt bereits im Erwerbsleben dicht an der Grenze der Armutsgefährdung.13 Die Rente spiegelt insoweit nur die Situation im Erwerbsleben wider; sie soll mit der Grundrente wieder einmal mehr Defizite bei der Einkommensverteilung korrigieren.

Keine Anerkennung der „Lebensleistung“

Die Grundrente sei, so auch Köhler-Rama, die Gegenleistung für langjährige Beitragszahlung, sie sei eine Anerkennung des „Respekts“ vor der Lebensleistung. Mit diesem „Respekt“ sei eine von der Bedürftigkeit abhängige Leistung unvereinbar. Auch das stimmt nicht. Verdient die Mutter, die wegen der Erziehung von mehreren Kindern nicht erwerbstätig sein kann und deshalb auf Sozialhilfe angewiesen ist, nicht auch „Respekt“? Ihr aber soll der Gang zum Sozialamt zumutbar bleiben. Soweit potenzielle Grundrentner ergänzend Wohngeld oder – etwa in besonderen Lebenslagen – Sozialhilfe benötigen, müssen auch sie ihre Bedürftigkeit offenbaren. Das mindert ihren Respekt nicht. Diese Begründung der Grundrente ist zudem ärgerlich, weil mit der These, der Gang zum Sozialamt sei unzumutbar, das ganze System der Sozialhilfe/Grundsicherung abgewertet wird und mit ihr all diejenigen, die auf ihre Leistungen angewiesen sind.14

Die Grundrente wäre auch keine Anerkennung der „Lebensleistung“. Auf sie käme es überhaupt nicht an, es zählte nur die Dauer der Versicherungspflicht. Da nicht zwischen Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigung differenziert wird, bekäme derjenige, der in den 35 Jahren nur etwas mehr als geringfügig beschäftigt war, die höchste Grundrente von 670 Euro. Sie verringerte sich bei dem, der die Hälfte des Durchschnittseinkommens (2019: 20 000 Euro) verdient hat, auf rund 340 Euro. Lag der Durchschnitt der 35 Jahre bei 80 % (2019: 31 000 Euro) oder mehr, gäbe es keine Grundrente mehr. Je niedriger also die Lebensleistung, desto höher die Grundrente, je höher die Lebensleistung, desto niedriger die Grundrente. Das ist genau das Gegenteil einer Anerkennung der Lebensleistung.15 Deshalb ist auch die Aussage, die Grundrente sei eine „Gegenleistung für eine Vorleistung“, falsch. Selbst die Politik glaubt das nicht, denn sonst würde sie nicht die Grundrente durch Steuern finanzieren wollen. Auch die „Lebensleistung“ kann die Grundrente also nicht rechtfertigen.

Verfassungswidriges und benachteiligendes Modell

Aber wäre sie nicht wenigstens die Gegenleistung für eine lange Versicherungsdauer – 35 Jahre? Doch auch die Länge der Versicherungsdauer taugt als Argument nicht. Der Vorschlag hat sich an das Auslaufmodell der „Rente nach Mindesteinkommen“ gehalten. Die gescheiterten Vorgängermodelle setzten 45 bzw. 40 Jahre voraus. Für die Rente nach Mindesteinkommen genügten zunächst 25 Jahre,16 danach wurden 35 Jahre gefordert. Über die Festlegung auf 35 Jahre wird noch nachgedacht, um „den Übergang fließender zu gestalten“. Da 35 Jahre keine volle Erwerbsbiografie abdecken, wären sie eine sachlich nicht begründbare politische Festlegung. Aber das Abstellen allein auf die Versicherungsdauer führt – das ist wichtiger – zu massiv ungerechten Ergebnissen. Derjenige, der in 30 oder 34 Jahren Vollzeitbeschäftigung eine Rente von 600 Euro erworben hat, bekäme keine Grundrente. Derjenige, dessen Rente nach 35 Jahren in Teilzeit nur 300 Euro beträgt, erhielte zusammen mit der Grundrente 900 Euro. Solche Ergebnisse sind unbillig, zudem gleichheitswidrig. Wird Einkommen in der Sozialhilfe angerechnet, erhalten Personen mit einer betrieblichen oder privaten Rente – aber nur sie! – ohne zeitliche Voraussetzung einen „Freibetrag für Altersvorsorge“ von bis zu 212 Euro/Monat.17 Gesetzlich Pflichtversicherte, die 35 Jahre Versicherungszeit nicht erfüllen, bekämen weder den Freibetrag noch die Grundrente, sie gingen leer aus. Ihre Schlechterstellung wäre grundgesetzwidrig. Köhler-Rama scheint dies nicht zu stören.

Hinzu kommt, dass die Grundrente entgegen anders lautenden Beteuerungen Frauen benachteiligen würde. Im Rentenbestand 2017 haben nur knapp 40 % der Frauen, die eine Altersrente bezogen, 35 und mehr Beitragsjahre zurückgelegt, bei den Männern waren es knapp 80 %. Die vorausgesetzten 35 Jahre wirken sich also deutlich stärker zulasten der Frauen aus.18 Dies würde allerdings nur zum Teil dadurch kompensiert, dass von den Frauen, die 35 und mehr Beitragsjahre zurückgelegt haben, der Anteil, der Anspruch auf die Grundrente hätte, höher sein würde als bei den Männern, da im Vergleich zu ihnen die Entgeltpunkte pro Jahr bei Frauen niedriger sind.19

Verzicht auf Bedürftigkeitsprüfung – unsinnige Geldverschwendung aus parteitaktischen Gründen

Die Grundrente soll ohne Bedürftigkeitsprüfung gezahlt werden. Eigenes Erwerbseinkommen, eine Witwen-/Witwerrente, betriebliche oder private Renten, Einkünfte aus Vermögen oder Vermietung oder Einkommen des Ehegatten würden nicht angerechnet. Das ist nicht nur im Fall der viel zitierten „Zahnarztgattin“ ungerecht, die halbtags in der Praxis mitgearbeitet hat. Es ist – um es zu wiederholen – ein Massenproblem. Nur 48 % der Rentner waren 2016 allein auf die Rente angewiesen, Rentnerinnen zu 69 %. Selbst 44 % der Versicherten ohne beruflichen Ausbildungsabschluss hatten eine zusätzliche Altersversorgung. Bei Personen mit Einkommen bis 1500 Euro waren es mehr als 53 %. Über 20 % der Frauen bezogen neben einer eigenen Rente eine Witwenrente. In den meisten Fällen ergänzen niedrigere Renten teilzeitbeschäftigter Frauen das Haushaltseinkommen. All das soll keine Rolle spielen.

Köhler-Rama versucht dies damit zu rechtfertigen, dass eine Bedürftigkeitsprüfung das „Renten- und Sozialhilfesystem vermischen“ würde. Das Gegenteil ist richtig. Die Rentenversicherung ist durch das synallagmatische Prinzip von Vorleistung durch die Beiträge und Gegenleistung durch die Rente geprägt. Die Sozialhilfe ist durch das fürsorgerische Prinzip der Bedarfsdeckung gekennzeichnet. Da die Grundrente weder beitragsgedeckt wäre, noch mit einer anderen Vorleistung gerechtfertigt werden kann, wäre sie eindeutig dem Prinzip der Sozialhilfe zuzuordnen.20 Um dies nicht offenzulegen, soll sie – ein „Etikettenschwindel“ – als eine von der Bedürftigkeit unabhängige Rentenleistung fingiert werden. Dies bewirkt die Vermischung der Systeme. Eine Bedürftigkeitsprüfung würde hingegen deutlich machen, dass es sich der Sache nach um eine Leistung der Sozialhilfe handelt, die aus politischen Gründen von der Rentenversicherung ausgezahlt werden soll. Abgesehen von der Zuständigkeit blieben die Systemunterschiede gewahrt.

Der Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung führte zu einer irrsinnigen Verschleuderung öffentlicher Mittel, gerechnet wird mit mehr als 5 Mrd. Euro im Jahr, bei denen es aber nicht bleiben wird. Eine Grundrente von 600 Euro hat einen Beitragswert von über 135 000 Euro! Die, die sie bezahlen müssen, werden sich fragen, warum sie so dumm waren, Beiträge für ihre Rente zu zahlen, wenn sie sie zum großen Teil hätten umsonst bekommen können. Die Grundrente untergräbt also auch die Bereitschaft, vorzusorgen. Sie ist ein Anreiz, nur das Minimum an Arbeit legal zu erbringen und den Rest schwarz – jeder Euro Verdienst mehr mindert die Grundrente.21 Köhler-Rama hat Unrecht, wenn er meint, dass die Grundrente das Rentensystem stärken würde. Das Gegenteil ist richtig. Nur wenn auf die im Koalitionsvertrag ausdrücklich vereinbarte Bedürftigkeitsprüfung verzichtet wird, kommen als Empfänger der Grundrente die anvisierten 3 Mio. bis 3,5 Mio. Personen in Betracht. Würde die Bedürftigkeit geprüft, wären es rund 90 % weniger. Ein paar hunderttausend Empfänger wären aber zu wenig, um Wähler zu gewinnen. Es geht also bei der Grundrente letztlich nicht um Rentenpolitik, sondern wieder einmal um Parteipolitik – das ist das Ärgerliche an diesem Vorschlag.

Die Grundrente – ein teurer Export

Zu den vielen Folgen der Grundrente, auf die Köhler-Rama trotz meiner Hinweise nicht eingeht, gehört auch, dass sie aufgrund des europäischen Rechts unabhängig von der Staatsangehörigkeit bei Versicherungszeiten im Inland in das EU-Ausland exportiert werden muss,22 und dass Versicherungsjahre, die im EU-Ausland zurückgelegt wurden, auf die vorausgesetzten 35 Versicherungsjahre angerechnet werden müssen.23 Die Ausnahmeregelung für „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“24 greift schon deshalb nicht, da die Grundrente wegen der vorausgesetzten 35 Versicherungsjahre nur beitragsabhängig gewährt würde. Das bedeutet, dass EU-Ausländern, die eine Zeit lang in Deutschland versicherungspflichtig waren, die anteilig berechnete Grundrente auch in ihr Heimatland gezahlt werden müsste, wenn sie innerhalb der EU die restlichen Versicherungsjahre zurückgelegt haben. Da dies entsprechende Anreizwirkungen entfaltet, würden die Kosten der Grundrente deutlich höher liegen, als von dem Ministerium veranschlagt. Den Hinweis hierauf zu wiederholen ist wichtig, weil, als Ende der 1980er Jahre auf dieses erhebliche Ausgabenrisiko hingewiesen wurde,25 die damalige Diskussion über eine Fortführung der „Rente nach Mindesteinkommen“ beendet war.26

Statt Grundrente – Freibetrag in der Grundsicherung

Das Gerede von „Respekt“ und „Lebensleistung“ verdeckt das eigentliche Problem. Es ist – auch Köhler-Rama will es nicht sehen – ein Problem der Grundsicherung und kann deshalb sinnvollerweise auch nur dort gelöst werden.27 Weil die Grundsicherung Einkommen und Vermögen anrechnet, bekommt von ihr, wer – wenn auch unzureichend – vorgesorgt hat, nicht mehr als derjenige, der jede Vorsorge unterlassen hat. Das wird zunehmend als ungerecht empfunden. Lösungsansatz sind die Regeln zur Bestimmung des auf die Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. auf die Grundsicherung anzurechnenden Einkommens.28 Dabei Freibeträge einzuführen, ist ein systemkonformer Ansatz, der in das Gesamtkonzept der Regelungen für die Sozialhilfe bzw. Grundsicherung hineinpasst. Es gibt sie bei der Berücksichtigung des Vermögens, des Erwerbseinkommens und inzwischen auch bei Anrechnung von Leistungen der betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Es besteht kein Grund, von diesem Prinzip der Freibeträge abzuweichen, zumal dies umso weniger einsichtig wäre, weil es sehr viele gesetzliche Rentner auch noch erheblich benachteiligen würde. Würde der Freibetragsansatz auch für gesetzliche Renten gelten, etwa als ein bestimmter Prozentsatz ihrer Höhe, würde er allen Rentnern helfen und nicht, wie bei der Grundrente vorgesehen, nur den langjährig Versicherten. Daher käme der hier vorgeschlagene Freibetrag wesentlich mehr Versicherten und vor allem auch Frauen zugute.

  • 1 § 262 SGB VI; dazu U. Pott, in: F. Ruland, S. Dünn (Hrsg.): Gemeinschaftskommentar zum SGB VI, Köln, Stand 2012, § 262 Rz. 1 ff.
  • 2 C. Herrmann: Entwicklungslinien der 100jährigen Geschichte der gesetzlichen Rentenversicherung: Die Zeit von 1957-1991, in: Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR)/F. Ruland (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, Neuwied 1990, S. 121; F. Ruland: Grundprinzipien des Rentenversicherungsrechts, ebenda, S. 499 f.
  • 3 C. Herrmann: Die Rentenreform 1972 – Bilanz und Perspektive nach 15 Jahren, in: Deutsche Rentenversicherung, 43. Jg. (1988), H. 1-2, S. 5.
  • 4 Vgl. D. Schewe: Entstehung und Leitlinien des Rentenreformgesetzes, in: Deutsche Rentenversicherung, 27. Jg. (1972), H. 5, S. 287 f.; W. Schmähl: Alterssicherungspolitik in Deutschland, Tübingen 2018, S. 347.
  • 5 Dazu F. Ruland: Das Rentenrecht – Neuregelungen durch das Rentenreformgesetz 1992, in: Deutsche Rentenversicherung, 44. Jg. (1989), H. 12, S. 768 ff.
  • 6 Vgl. R. Kolb: Rentenreformgesetz 1992: Konzeptionen und Probleme, in: Deutsche Rentenversicherung, 44. Jg. (1989), H. 12, S. 733; zu den problematischen Folgen einer „Rente nach Mindesteinkommen“: A. Gunkel: Sozial- und wirtschaftspolitische Bedeutung der gesetzlichen Rentenversicherung sowie Perspektiven für die Zukunft, in: E. Eichenhofer, H. Rische, W. Schmähl (Hrsg.): Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, 2. Aufl., Köln 2012, S. 834; F. Ruland: Sozial- und rechtspolitische Bedenken gegen eine Grundrente, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 20. Jg. (1987), H. 10, S. 359.
  • 7 Köhler-Rama fragt nach dem Begriff der Gerechtigkeit, von dem ich ausgehe, dazu F. Ruland: Gerechtigkeit in der Rentenversicherung, in: U. Haerendel (Hrsg.): Gerechtigkeit im Sozialstaat, Analysen und Vorschläge, Baden-Baden 2012, S. 107 ff.
  • 8 Dazu F. Ruland: Beitragsfreie Zeiten und Mindestsicherung – Elemente des sozialen Ausgleichs in der Rentenversicherung, in: Das Sozialrecht für ein längeres Leben, Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes (SDSRV), Bd. 63 (2013), S. 93 ff.
  • 9 H.-J. Papier: Mindestsicherungselemente im System der Alterssicherung – Spielräume und Grenzen aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Deutsche Rentenversicherung, 74. Jg. (2019), H. 1, S. 6 f. Früher bereits: M. Wallerath, in: VDR/F. Ruland (Hrsg.), a. a. O., S. 288.
  • 10 Vgl. F. Ruland: Grundrente ohne Sinn und System, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.4.2019, S. 20.
  • 11 Vgl. Deutsche Rentenversicherung: Rentenversicherung in Zahlen 2018, S. 74.
  • 12 Vgl. F. Ruland: Vorschlag zur Grundrente: ungerecht, ineffizient und teuer, in: Wirtschaftsdienst, 99. Jg. (2019), H. 3, S. 191, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2019/3/vorschlag-zur-grundrente-ungerecht-ineffizient-und-teuer/ (21.5.2019); siehe auch G. Cremer: Deutschland ist gerechter, als wir meinen, München 2018, S. 228.
  • 13 Lösungsansatz: M. Blömer, C. Fuest, A. Peichl: Raus aus der Niedrig­einkommensfalle(!) – Der ifo-Vorschlag zur Reform des Grundsich–erungssystems, in: ifo-Schnelldienst, 72. Jg. (2019), H. 2, S. 34 ff.
  • 14 Ähnlich kritisch G. Cremer, a. a. O., S. 229.
  • 15 Ebenda.
  • 16 Vgl. Art. 2 § 55a Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz i.d.F. des Rentenreformgesetz 1972 v. 16.10.1972 (BGBl. I, S. 1965).
  • 17 Vgl. § 82 Abs. 4 SGB XII.
  • 18 Vgl. Statistik der Deutschen Rentenversicherung: Rente 2017, Bd. 212, 2018, S. 139.
  • 19 Vgl. Deutsche Rentenversicherung Bund: Rentenversicherung in Zeitreihen, Oktober 2018, S. 135 f.
  • 20 Ebenso z. B. H.-J. Papier, a. a. O.
  • 21 Dazu: A. Fanghänel, J. Ragnitz, M. Thum: Grundrentenpläne sind leistungsfeindlich, ifo-Dresden berichtet, 2/19, S. 17 ff.
  • 22 Vgl. Art. 7 VO (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit v. 29.4.2004 (ABl. EU Nr. L 166/1 v. 30.4.2004); zu dem Exportgebot: A. Otting: EU-Koordinierungsrecht, in: F. Ruland, U. Becker, P. Axer (Hrsg.): Sozialrechtshandbuch (SRH), 6. Aufl., Baden-Baden 2018, S. 1610.
  • 23 Vgl. Art. 6 VO (EG) Nr. 883/2004; dazu A. Otting, a. a. O., S. 1609.
  • 24 Art. 70 VO (EG) Nr. 883/2004; dazu E. Eichenhofer: Sozialrecht der Europäischen Union, 4. Aufl., Berlin 2010, S. 106; A. Otting, a. a. O., S. 1627.
  • 25 Vgl. M. Zuleeg: Die Zahlung von Ausgleichszulagen über die Binnengrenzen der Europäischen Gemeinschaft, in: Deutsche Rentenversicherung, 43. Jg. (1988), H. 10, S. 621 ff. mit weiteren Nachweisen.
  • 26 Vgl. W. Schmähl, a. a. O., S. 802.
  • 27 Ebenso G. Cremer, a. a. O., S. 229.
  • 28 § 82 SGB XII.

Title:Proposal on Basic Pension: Unfair, Inefficient and Expensive – Reply and Response

Abstract:

In the March 2019 issue, Wirtschaftsdienst published an essay entitled “Proposal on the Basic Pension: Unfair, Inefficient and Expensive” by Franz Ruland. Tim Köhler-Rama takes a different view, arguing for a basic pension as an element of social balance in pension law. Ruland then explains his position in a reply.


DOI: 10.1007/s10273-019-2470-4

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