Der Einbruch der Wirtschaft infolge der Corona-Krise hinterlässt seine Spuren auf dem Arbeitsmarkt und somit mittelbar in der gesetzlichen Rentenversicherung. Ein Rentenzahlbetrag wird ermittelt, indem die gesammelten Entgeltpunkte eines Versicherten über den aktuellen Rentenwert in einen Euro-Betrag umgewandelt werden. Dieser entwickelt sich gemäß § 68 Sozialgesetzbuch (SGB) VI durch drei Faktoren fort, die stark an den Arbeitsmarkt gekoppelt sind. Für den Zeitraum 2021/2022 werden die Faktoren wegen der Corona-Krise wohl eine Senkung anzeigen. Tritt die wünschenswerte V-förmige Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie Bundeswirtschaftsminister Altmaier prognostiziert, tatsächlich ein, dürften jedoch schon im darauffolgenden Jahreszeitraum die Faktoren wieder eine Erhöhung der Renten veranlassen. Weil aufgrund des regulatorischen Dickichts Rentner momentan gerade nicht von solch negativen Entwicklungen berührt werden, wohingegen sie von positiven in voller Höhe profitieren, verteilt sich die ökonomische Last der Corona-bedingten Wirtschaftskrise unangemessen ungleichmäßig auf Erwerbstätige und Rentner.
Zeigt § 68 SGB VI eine nominale Senkung des aktuellen Rentenwertes an, so wird dies durch die Schutzklausel des § 68a SGB VI verhindert. In diesem Fall behält der aktuelle Rentenwert den Wert des Vorjahreszeitraums bei, während die rechnerisch ermittelte Senkung normalerweise in einem Nachholfaktor kumuliert wird. Jener dient dazu, unterlassene Rentenkürzungen mit künftigen Steigerungen zu verrechnen, sodass Rentner nicht bloß an den wirtschaftlich positiven Entwicklungen partizipieren, sondern gleichzeitig von den negativen verschont bleiben. Seit dem RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz vom 28.11.2018 wird die Schutzklausel (temporär, Stand jetzt bis 2025) von der sogenannten Niveauschutzklausel des § 255e SGB VI flankiert. Diese sieht vor, dass in den Fällen, in denen es einem neu berechneten aktuellen Rentenwert – unabhängig davon, wie dieser durch § 68 und § 68a SGB VI verändert wurde – nicht gelingt, ein Sicherungsniveau der Rentner in Höhe von 48 % zu erfüllen, der aktuelle Rentenwert (wohl diskretionär) so anzuheben ist, dass zumindest dieses den Bürgern versprochene Sicherungsniveau von mindestens 48 % gewahrt bleibt. Zusammenfassend ist der aktuelle Rentenwert also durch zwei Schutzklauseln nach unten gedeckelt: zunächst einmal die eigentliche, die vor (absoluten) Rentenkürzungen schützt, und dann noch die Niveauschutzklausel, die das (relative) Sicherungsniveau von 48 % absichert. Um zu verhindern, dass der Nachholfaktor der Schutzklausel auf unbeabsichtigte Weise in den Sicherungsmechanismus der Niveauschutzklausel interveniert, wurde mit Einführung der Niveauschutzklausel für denselben Geltungszeitraum der Nachholfaktor per § 255g SGB VI außer Kraft gesetzt. Eine solche Interaktion der Schutzklauseln ist jedoch gar nicht absehbar, weil ihre Anwendung in zwei aufeinanderfolgenden, getrennten Schritten unabhängig voneinander geprüft wird.
Problematisch ist, dass diese Außerkraftsetzung zu weit geht und ökonomisch unangemessen ist. Heikel dabei ist, dass dieses Szenario durch die Corona-Krise vermutlich tatsächlich eintreten wird. Man gehe um der Prägnanz der Argumentation willen davon aus, dass die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise rasch überwunden werden. Annahmegemäß stellen sich 2021 wieder ähnliche wirtschaftliche Verhältnisse ein, wie sie 2019 herrschten. Im Jahr 2021 lege § 68 SGB VI eine Veränderung des aktuellen Rentenwertes um den Faktor 0,95 nahe. Dies würde durch die Schutzklausel verhindert werden. Es sei nun die Anpassung des aktuellen Rentenwertes im Jahr 2022 betrachtet: Bei Rückkehr der wirtschaftlichen Verhältnisse des Jahres 2019 im Jahre 2021 würde folglich § 68 SGB VI eine Veränderung des aktuellen Rentenwertes um 1,0526 anzeigen, und damit aufgrund des Basiseffekts sogar geringfügig mehr als um 5 %. Bei ausgeschaltetem Nachholfaktor kommt diese Steigerung in voller Höhe den Rentnern zugute. Während dieses Szenario für Erwerbstätige lediglich eine Rückkehr zu den (nominellen) Verhältnissen von 2019 bedeutet, profitieren Rentner: Im Zeitraum 2020/2021 beträgt der aktuelle Rentenwert 34,19 Euro je Entgeltpunkt, im Folgezeitraum würde er aufgrund der Schutzklausel weiterhin 34,19 Euro betragen, dagegen würde er 2022/2023 auf 34,19 Euro × 1,0526 = 35,99 Euro je Entgeltpunkt steigen.
Die Bundestagsfraktion der FDP scheint das Problem identifiziert zu haben und hat eine Debatte im Bundestag initiiert. Ergebnis: Der Vorschlag der FDP, den Nachholfaktor wiedereinzuführen, ist an den Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen worden. Aus ökonomischer Sicht ist dem Vorschlag eindeutig zuzustimmen. Dieses Ungleichgewicht zwischen Erwerbstätigen und Rentnern ist entweder zu beseitigen oder ausführlich mit einer gesetzgeberischen Intention zu rechtfertigen.