Im November 2019 feierte Deutschland 30 Jahre Fall der Berliner Mauer. Die Stimmung ist düster. Heute betrachten sich zwei Drittel der Ostdeutschen als Bürger:innen zweiter Klasse wie aus einer Umfrage des Allensbach Institut für Demoskopie hervorgeht. Der Konvergenzprozess zwischen östlichem und westlichem Deutschland ist zum Stillstand gekommen und scheint sich umzukehren. Ostdeutsche wählen heute anders, denken anders und fühlen anders. Deutschland ist ein Land mit zwei Seelen.
Bei den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern Sachsen und Brandenburg am 1. September 2019 hat die Alternative für Deutschland (AfD) 27,5 % bzw. 23,5 % der Stimmen gewonnen. In Westdeutschland erhält die AfD nicht einmal die Hälfte dieser Stimmen. Es ist jetzt klar, dass der Osten nicht, wie erwartet, wie der Westen wurde. Stattdessen dominieren in Ostdeutschland Frustration und Enttäuschung.
Ostdeutschland gestern
Was ist schief gelaufen? Haben wirtschaftliche Faktoren zu dieser Entwicklung beigetragen? Ein Blick auf die Daten stützt diese Ansicht. Abbildung 1 zeigt die Angleichung zwischen ostdeutschem und westdeutschem Volkseinkommen. Das Pro-Kopf-Einkommen in Ostdeutschland wuchs zwischen 1991 und 1996 schneller als in Westdeutschland. Das ostdeutsche Pro-Kopf-BIP stieg von 42 % des westdeutschen BIP auf 67 %. In den folgenden 20 Jahren nach 1996 blieb das relative Pro-Kopf-BIP in Ostdeutschland jedoch nahezu unverändert und stieg bloß auf 73 % wie im Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018 zu lesen ist. So kam der Prozess der wirtschaftlichen Konvergenz zwischen Ost und West bereits vor rund 25 Jahren zum Erliegen. Die geringe Konvergenz seit 1996 von 67 % auf 73 % des westdeutschen Pro-Kopf-Einkommens erklärt sich aus Lohnzuwächsen im öffentlichen Sektor in Ostdeutschland sowie der Abwanderung von Arbeitskräften in das westliche Deutschland, die das ostdeutsche Pro-Kopf-Einkommen erhöht haben. Die Voraussage von Bundeskanzler Helmut Kohl über blühende Landschaften in Ostdeutschland ist bisher nicht eingetreten.
Abbildung 1
Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: Ostdeutschland in % des westdeutschen Vergleichswertes
Quelle: Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen.
Nach den Voraussagen der Wachstumstheorie wachsen ärmere Regionen rascher als reiche Regionen, wodurch es zur Konvergenz der Pro-Kopf-Einkommensniveaus kommt. Ein Vergleich Ostdeutschlands mit den anderen osteuropäischen Ländern zeigt deutlich das relativ schlechte Abschneiden Ostdeutschlands. Laut einer Studie der Europäischen Zentralbank haben im Jahr 2008 Slowenien, Slowakei und die Tschechische Republik bereits 80 % bis 90 % des EU28-Pro-Kopf-Einkommens (in Kaufkraftparitäten umgerechnet) erreicht. Die Städte Warschau, Prag und Bratislava haben bereits 2008 das Pro-Kopf-Einkommensniveau Wiens (das wiederum oberhalb des Pro-Kopf-Einkommens von Berlin liegt) überschritten. Ostdeutschland liegt 2018 bei etwas über 70 % des westdeutschen Pro-Kopf-Einkommensniveaus. Das ist wahrlich bescheiden angesichts der massiven Transferzahlungen aus Westdeutschland, welche die anderen osteuropäischen Länder nicht erhalten haben.
Welches Ereignis um das Jahr 1996 hat den Konvergenzprozess in Ostdeutschland zum Stillstand gebracht? Um zu verstehen, was passiert ist, müssen wir uns den nach dem Mauerfall eingeleiteten politischen Reformen zuwenden. Die Bundesregierung beschloss 1990, den Handel mit Ostdeutschland über Nacht zu liberalisieren und alle bestehenden Hemmnisse für Kapital- und Arbeitsströme zu beseitigen. Die Umtauschrate zwischen der DDR-Mark und der D-Mark wurde für kleinere Beträge auf 1:1 und für größere Summen auf 2:1 festgelegt. Durch diese Währungsreform stiegen die Löhne im Osten unmittelbar auf 55 % des westdeutschen Niveaus, obwohl die Produktivität im Osten nur 10 % des westlichen Produktivitätsniveaus betrug. Bereits 1994 hatten die Ostlöhne 70 % der Westlöhne erreicht. Das ostdeutsche Verarbeitende Gewerbe ging über Nacht Bankrott und Ostdeutschlands frühere erfolgreiche Exportmärkte in Osteuropa verschwanden.
Im März 1990 schuf die ostdeutsche Regierung eine neue Superbehörde – die Treuhandanstalt –, um die ostdeutsche Produktion zu privatisieren und dem ostdeutschen Verarbeitenden Gewerbe zu helfen, trotz hoher Löhne zu überleben. Die Treuhandanstalt hat die ostdeutschen Firmen und Vermögenswerte privatisiert und an westliche Firmen verkauft, oft zu einem symbolischen Preis von 1 DM im Austausch für Arbeitsplatzgarantien. Diese massive Subvention schuf einen Anreiz für westdeutsche Firmen, nach Osten zu ziehen, obwohl das östliche Land seinen komparativen Vorteil niedriger Löhne durch die Währungsreform eingebüßt hatte.
Das Programm funktionierte und 1994 hatte die Treuhand alle ostdeutschen Firmen an westliche Firmen verkauft. Zunächst wuchs die ostdeutsche Wirtschaft rasant und holte die westdeutsche Wirtschaft ein. Nach getaner Arbeit wurde die Treuhandanstalt 1994 abgewickelt und in die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben überführt. Ohne den Zuschuss der Treuhand fanden westliche Firmen jedoch in Ostdeutschland keinen attraktiven Investitionsstandort. Mit dem Austrocknen der Investitionen aus Westdeutschland und jener aus dem Ausland kam dann auch der Konvergenzprozess zum Stillstand.
Die Ostdeutschen stehen der Treuhandanstalt kritisch gegenüber. Ihr erster Präsident, Detlev Rohwedder, wurde im Jahr 1991 ermordet. Ostdeutschland sah in der Treuhand die Institution, die alle wertvollen Vermögenswerte Ostdeutschlands an westliche Firmen verschenkte. Noch heute machen die Linke und die AfD die Treuhand für die Probleme der ostdeutschen Wirtschaft verantwortlich (Keil und Kellerhoff, 2019). Damals in den 1990er Jahren wurden die Gründung der Treuhand und die von ihr eingeleiteten Maßnahmen vor den Ostdeutschen damit gerechtfertigt, dass Ostdeutschland „nichts zu verkaufen“ habe und wegen der geringen Qualität seiner Produkte keine Alternative zu Privatisierung und Verkauf bestehe.
Dieses Narrativ verstößt jedoch gegen das ökonomische Gesetz des komparativen Vorteils. Ein Land hat immer etwas zu verkaufen, wenn Löhne und Preise niedrig genug sind. Die durch die Währungsreform eingeführten hohen Löhne und Preise verhinderten jedoch genau das Gedeihen der ostdeutschen Wirtschaft wie in anderen osteuropäischen Ländern nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Das Narrativ, dass Ostdeutschland „nichts zu verkaufen“ habe und ein „Verarbeitendes Gewerbe mit geringem Wert“ besitze, wirkte sich verheerend auf die ostdeutsche Befindlichkeit aus. Die Ostdeutschen fühlten sich „wertlos“ in einer Marktwirtschaft. Sie haben ihre Würde verloren. In den 1990er Jahren habe ich an der Humboldt-Universität zu Berlin im Osten der Stadt gearbeitet und dieses Gefühl der Wertlosigkeit bei den Ostdeutschen hautnah erlebt.
Der Hauptfehler bestand jedoch darin, dass die Regierung die Treuhandanstalt auflöste, nachdem alle Vermögenswerte des Ostens verkauft worden waren. Dies brachte den ökonomischen Konvergenzprozess ins Stocken. Ohne Subventionen war der ostdeutsche Standort nicht mehr attraktiv für westdeutsche und ausländische Firmen. Das erklärt, warum sich bis heute keine Großunternehmen in Ostdeutschland angesiedelt haben. Die Treuhand hätte ihre Arbeit fortsetzen und sich zu einer Institution entwickeln sollen, die westdeutsches und ausländisches Kapital anzieht, indem sie Subventionen und Steueranreize an westliche Unternehmen verteilt, die bereit sind, trotz hoher Löhne zu investieren.
Ostdeutschland heute
Seit 2019 zeichnen sich neue Entwicklungen für Ostdeutschland ab. Nach Jahren der Frustration und Düsternis verspürt der schwer geprüfte Osten endlich neue Hoffnung. Dies liegt an großen neuen Investitionen in die Fertigung von Elektrofahrzeugen. Ostdeutschland entwickelt sich rasch zum europäischen Zentrum künftiger Elektromobilität. VW produziert seinen ID.3 in Zwickau und Dresden. BMW fertigt seinen i3 in Leipzig, während das chinesische Unternehmen CATL angekündigt hat, ein Werk für Fahrzeugbatterien in der Nähe von Erfurt zu erstellen. Ein weiteres chinesisches Unternehmen, Farasis Energy, wird in Sachsen-Anhalt Fahrzeugbatterien herstellen. Und darüber hinaus hat Tesla im vergangenen Jahr Pläne zur Herstellung von Elektroautos und Akkus in einer neuen „Gigafabrik“ in Brandenburg angekündigt.
Warum zieht es all diese Unternehmen nach Ostdeutschland – und warum gerade jetzt? Die hohen Löhne in der Region, insbesondere im Vergleich zu denen in Osteuropa, hatten Ostdeutschland lange zu einem unattraktiven Investitionsstandort gemacht. Doch zwei politische Ankündigungen der jüngsten Zeit haben diese Dynamik verändert:
- Wirtschaftsminister Peter Altmaier enthüllte im Februar 2019 seine „nationale Industriestrategie 2030“, die unter anderem die Ansiedlung eines Batteriezellensektors in Deutschland und andernorts in Europa ankündigte. Seine Ankündigung folgte auf den Start der „European Battery Alliance“ durch die Europäische Kommission 2017. Dieses Programm zielt auf die Schaffung eines wettbewerbsfähigen europäischen Batteriesektors ab. Im weiteren Jahresverlauf 2019 stellte die Kommission dann „Battery 2030+“ vor, eine langfristige Initiative, die Forschungseinrichtungen, die Industrie und öffentliche Finanzierungseinrichtungen zusammenführt. Dieses Engagement der Europäischen Union und der Bundesregierung löste einen staatlich angestoßenen Prozess der Agglomeration aus. Die Hersteller von Elektrofahrzeugen haben jetzt einen Anreiz, sich in Deutschland und anderen europäischen Länder anzusiedeln, um näher an anderen Akkuherstellern und an Produktionsstandorten für wichtige Vorleistungsgüter für die Batterieproduktion zu sein.
- Der von EU-Präsidentin Ursula von der Leyen eingeleitete europäische Green Deal zielt darauf ab, Regionen beim Kohleausstieg zu unterstützen, und zwar auch durch Bereitstellung von Subventionen zur Abfederung der wirtschaftlichen Auswirkungen. Deutschland weist einige der weltgrößten Kohlevorkommen auf und zwei Drittel davon liegen in Sachsen und Brandenburg. Die EU-Finanzierung im Rahmen des Green Deal versetzt die ostdeutschen Länder in die Lage, hohe Subventionen anzubieten, um die Akkuhersteller in die Region zu locken. Im Verbund mit den Finanztransfers aus der EU hat das Bekenntnis der Bundesregierung zu Elektroautos Ostdeutschland eine neue Chance zur Reindustrialisierung eröffnet und damit zur Schaffung von Wohlstand und Stolz. Und wenn die Automobilunternehmen ihre Lieferketten in ihrer Nähe ansiedeln, wird das weitere Firmen nach Ostdeutschland holen. Die im Inland produzierten Elektrofahrzeuge werden günstiger, wenn die Konkurrenz zwischen den Herstellern zunimmt und Akkus nicht mehr aus Asien importiert werden müssen. Und schließlich wird eine erhöhte lokale Nachfrage nach Arbeitskräften die Einkommen in die Höhe treiben.
Dies ist eine wichtige Entwicklung. Ostdeutschland hat seit dem Zusammenbruch des Kommunismus drei Jahrzehnte lang unter Deindustrialisierung gelitten, was überwiegend auf falsche politische Entscheidungen zurückzuführen war. Die Bundesregierung machte den Fehler, die Treuhand aufzulösen, nachdem diese fast alle ostdeutschen Firmen an westliche Investierende verkauft hatte. Ohne die Subventionen der Behörde versiegten die Investitionen in Ostdeutschland, und die Konvergenz der Region in Richtung des westdeutschen Pro-Kopf-Einkommensniveaus stockte.
Bundeskanzler Helmut Kohl versprach dem Osten 1990 „blühende Landschaften“. Viele haben diese Vision lange als zu optimistisch betrachtet, und noch hat sie sich nicht eingestellt. Doch wenn er sich zu einem Kraftzentrum im Bereich der Elektromobilität entwickelt, kann der Osten zum ökologischen Wandel beitragen und beweisen, dass Kohl Recht hatte.
Die Schaffung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ in Ostdeutschland wird darüber hinaus nicht nur materielle Vorteile bringen. Sie könnte auch dazu beitragen, die psychologische Spaltung Deutschlands zu heilen – und damit die Tendenz der Ostdeutschen, extremistische Parteien zu wählen, die von ihren Ängsten leben.
Literatur
Keil, L.-B. und S. F. Kellerhoff (2019), Die wahre Geschichte der viel gescholtenen Treuhandanstalt, Die Welt, 7. Mai.