Betrachtet man die großen europäischen Volkswirtschaften vor dem Ersten Weltkrieg in vergleichender Perspektive, so fällt die besondere Dynamik der deutschen Wirtschaft unmittelbar ins Auge (Pfister et al., 2021; Burhop, 2011). Nicht nur lagen die jährlichen Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) deutlich über dem europäischen Durchschnitt; auch der wirtschaftliche Strukturwandel fiel in dem bei seiner Gründung noch vorwiegend agrarisch geprägten Deutschland drastischer aus als anderswo. Bei Kriegsausbruch 1914 trug die Landwirtschaft deutlich weniger als ein Fünftel zum BIP bei, während es in den 1860er Jahren noch fast ein Drittel gewesen war. Niedrigere Werte hatten zu dieser Zeit nur Großbritannien und die Niederlande; Frankreich, Italien, Russland oder Österreich-Ungarn hingegen schwankten vor dem Krieg durchweg noch bei BIP-Anteilen der Landwirtschaft zwischen 35 % und 60 % (Mitchell, 1976, 625 ff.). Hinter diesem radikalen Strukturwandel stand eine gewaltige Kraftanstrengung, die sich in den Zahlen der Bruttovermögensbildung (Summe von Bruttoinvestitionen und Saldo von Kapitalimport/-export) vielleicht am treffendsten fassen lässt. Die Bruttovermögensbildung erreichte in Deutschland zwischen 1891 und 1913 durchschnittlich fast ein Viertel des Inlandsprodukts, ein im europäischen Rahmen herausragender Wert, der Parallelen nur in den USA hatte. Die Masse der Investitionen floss in die Entwicklung der eigenen Volkswirtschaft; der Anteil des Kapitalexports war deutlich geringer als in Großbritannien und Frankreich. Grund waren die attraktiven Investitionsmöglichkeiten, wobei lange der Ausbau der Infrastruktur im Zentrum stand (Eisenbahn und damit zusammenhängend der schwerindustrielle Komplex); später traten die Bauwirtschaft und dann nach und nach die verarbeitende Industrie in den Vordergrund. Besonders ausgeprägt war der Ausbau der sogenannten neuen Industrien, namentlich der Elektroindustrie, des Maschinenbaus, der feinmechanischen und optischen Industrie sowie schließlich der chemischen Industrie. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Im Bereich der Farbstoffe behaupteten die großen deutschen Unternehmen 1914 faktisch eine Art Weltmonopol; auch die pharmazeutische Industrie dominierte die Weltmärkte mit einem Anteil von etwa 50 % am Exportvolumen (Wehler, 1995, 610 ff.).
Herausragendes Produktivitätswachstum
Die hohen Investitionsquoten korrespondierten folgerichtig mit einer deutlichen Steigerung der Produktivitätsziffern, wodurch nicht nur der Weltmarkterfolg vieler deutscher Produkte gut zu erklären ist; die Weltmarktkonkurrenz war dabei selbst eine Art Treibmittel der Produktivitätsentwicklung, da die großen deutschen Unternehmen wussten, dass ihre Exporterfolge von der Güte und dem Preis ihrer Produkte entscheidend abhingen. Da der deutsche Markt allein, das zeigten die schwierigen Jahre nach dem Gründerkrach von 1873, nicht ausgereicht hätte, um die rasche Expansion der neuen Industriezweige aufzunehmen, kam dieser frühen Weltmarktorientierung entscheidende Bedeutung zu. Dadurch entstand eine sich selbst verstärkende Spirale von technischem Fortschritt und Markterfolg, der von der Mehrzahl der großen Unternehmen frühzeitig erkannt wurde.
Die Reihe der Faktoren, die in diesem Rahmen die starke Investitionstätigkeit und das wachsende Produktivitätsniveau begünstigten, ist lang und kann in einem kurzen Essay nicht erschöpfend behandelt werden. Von zentraler Bedeutung war zweifellos, dass der Staat direkt und indirekt die Zunahme der Investitionen begünstigte und einen positiven Einfluss auf das Innovationsklima hatte. Zunächst, das gilt freilich für alle großen europäischen Volkswirtschaften, waren die Staaten vor 1914 „günstig“. Ihr Anteil am BIP schwankte zwischen Sätzen von 14 % bis zu 18 %; entsprechend niedrig waren die Steuersätze, die im deutschen Fall kumuliert vielleicht eine jährliche Belastung von Einkommen und Gewinnen in Höhe von etwa 20 % durch direkte Steuern erreichten (Ullmann, 2005, 80-88). Die Spielräume für Investitionen, finanziert über einbehaltene Gewinne, zunehmend aber auch über den Kapitalmarkt, waren mithin sehr groß und wurden in einem sich aufhellenden konjunkturellen Umfeld auch entsprechend genutzt. Die industriellen Gewinnmargen jedenfalls waren in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bei allen Schwankungen sehr hoch; die großen Unternehmen der chemischen Industrie etwa zahlten in manchen Jahren Dividenden in Höhe von 50 % auf das eingezahlte Nominalkapital; die Ausschüttungssummen lagen selten darunter (Plumpe, 1990, 40-53). Die Profitabilität von Investitionen in avancierte Technologien, neben der Chemie galt das auch für die Elektrotechnik, die Feinmechanik und Optik oder den Maschinenbau, war insofern zweifellos auch ein wesentlicher Anreiz, wobei den Unternehmen aber durchweg klar war, dass diese Profitabilität nicht automatisch eintrat, sondern gerade von der Fähigkeit zur Weiterentwicklung der Produkte und Produktionsmethoden abhing. Die Verfügbarkeit von technischen Neuerungen und eines entsprechend hohen, qualifizierten Arbeitskräftepotenzials war insofern von ausschlaggebender Bedeutung.
Und gerade in diesem Bereich profitierte die industrielle Entwicklung erheblich vom Ausbau der wissenschaftlichen Infrastruktur und der Etablierung eines alles in allem leistungsfähigen Bildungssystems. Während bezüglich des Staatsanteils am BIP alle großen europäischen Staaten vergleichsweise preiswert waren und insofern über niedrige Steuerlasten klare Investitionsanreize setzten, unterschieden sich die wissenschaftliche Infrastruktur und die Bildungseinrichtungen zum Teil deutlich voneinander. Aus einer Fülle von Gründen, die hier nicht erläutert werden können, hatte der Übergang zur modernen Forschungsuniversität an verschiedenen deutschen Hochschulen bereits in den 1840er Jahren begonnen, um sich im Kaiserreich dann immer schneller durchzusetzen. Die deutschen Universitäten wurden nach und nach, gerade weil sie den Weg zu modernen Forschungsuniversitäten frühzeitig und dann relativ konsequent beschritten, zu weltweit bewunderten Vorbildern. Namentlich Studenten und Professoren aus den USA und Japan strömten in großer Zahl nach Berlin, Göttingen oder München (Grimmer-Solem, 2019, 29-37). Mehr noch: Nicht zuletzt die Förderung der Technik und Naturwissenschaften war ein öffentlich stark gestütztes Anliegen, die Aufwertung der technischen Hochschulen entsprach ebenso dem Geist der Zeit wie die Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (der heutigen Max-Planck-Gesellschaft), in der sich Staat und Wirtschaft zur Förderung der Spitzenforschung verbanden. In der Zeit der starken Expansion der neuen Industrien standen den Unternehmen in Deutschland daher qualifizierte Arbeitskräfte in relativ großem Umfang zur Verfügung; allein Bayer beschäftigte in den Jahren vor Kriegsausbruch mehr akademisch gebildete Chemiker als die gesamte Branche in England; gleichzeitig etablierte sich ein dichtes Beziehungsnetzwerk von Unternehmen, unternehmenseigenen Forschungseinrichtungen und Universitätsinstituten, die zum gegenseitigen Nutzen etwa im Bereich der Pharmaforschung und der Medikamentenentwicklung eng miteinander kooperierten (Murmann, 2003). Das konnte bis zu einer persönlichen Symbiose reichen, wie sie bei Ernst Abbe vorlag, der nicht nur der Inhaber von Carl Zeiss Jena war, sondern an der dortigen Universität zugleich als Professor für Physik tätig war und aus den Erträgen seines Unternehmens den Umbau der Jenaer Universität zur Forschungsuniversität maßgeblich finanzierte (Demel, 2014).
Der Erfolg der Naturwissenschaften mit ihren zahlreichen Nobelpreisträgern sollte aber nicht die eigentliche Leistung des kaiserzeitlichen Bildungssystems überdecken, denn die bestand eben nicht allein in der Förderung der Spitzenforschung, sondern vor allem im gewaltigen Ausbau der grundständigen und weiterführenden Schulen, mit denen es gelang, laufend größer werdende Jahrgänge von Schülern ein der industriellen Entwicklung angemessenes Ausbildungsniveau zu verschaffen. Das demografische Problem des Kaiserreiches bestand ja in der Jugendlichkeit der Gesellschaft und den gewaltigen Kosten, die die Ausbildung einer laufend wachsenden jungen Generation verschlang. Nimmt man allein die Zahl der neugebauten Schulen, der neu eingestellten Lehrer und schließlich das erreichte Durchschnittsniveau der Schulabgänger, so wird, folgt man modernen bildungsökonomischen Einsichten, der große wirtschaftliche Erfolg der Zeit sehr viel nachvollziehbarer, auch und gerade im Vergleich zu anderen modernen Industriestaaten, die diese Bildungsleistung zumindest in der Fläche so nicht vollbrachten. Gab es 1864 knapp 3 Mio. „Volksschüler“ in Preußen, so waren es 1911 gut 6,5 Mio. Die Zahl der Volksschulen hatte sich im gleichen Zeitraum von 25.000 auf 37.000 erhöht, wobei gleichzeitig die Klassenstärken moderat von etwas unter 70 auf gut 50 Schüler zurückgegangen waren. Noch eindrücklicher war der Ausbau des gymnasialen Bereichs; hier stiegen in Preußen die Zahl der Schulen von 264 (1864) auf 881 (1913), die Zahl der Schüler von 78.000 auf gut 275.000 an. Die Studentenzahl in Deutschland schließlich stieg von knapp 18.000 (1869) auf fast 72.000 (1912); kamen 1869 auf 10.000 männliche Einwohner knapp 9 Studenten, so waren es 1912 bereits fast 22 (Hohorst et al., 1978, 157-165). Wenn es überhaupt einzelne Faktoren gibt, die als ursächlich für das hohe Produktivitätswachstum und die entsprechend starke Konkurrenzfähigkeit benannt werden können, dann war das neben dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, der hier nur angedeutet werden kann, das Bildungssystem im weiteren Sinne.
Weltwirtschaftliche Integration
Dabei war die Wirtschaft des Kaiserreichs von Anfang an integraler Bestandteil der europäischen, ja der globalen Arbeitsteilung, von der das Land ebenso profitierte wie es sie gezielt vorantrieb (Tilly, 1990, 104-130; Fischer, 1979, 11 ff.). Deutschland war zur Bewältigung seiner raschen industriellen Expansion auf zunehmend größere Rohstoff- und Nahrungsmitteleinfuhren angewiesen. In den 1850er und 1860er Jahren wuchs der Außenhandel sogar rascher als das BIP; dass im Gründerboom große Banken, wie 1870 etwa die Deutsche Bank, vornehmlich zur Außenhandelsfinanzierung gegründet wurden, verwundert nicht. Nach dem Gründerkrach 1873 und der Eintrübung der Konjunktur in den folgenden Jahren bekam der Export ein laufend größeres Gewicht. Die deutschen Unternehmen, wollten sie hier erfolgreich sein, mussten sich auf harten internationalen Wettbewerb einstellen, und sie taten das auch deshalb mit großem Erfolg, weil es ihnen gelang, laufend attraktive neue Produkte zu relativ günstigen Preisen anbieten zu können. Das bis heute typische Muster, dass die deutsche Industrie Qualitätsprodukte zu relativ niedrigen Preisen anbietet und sich dadurch starke Marktpositionen erobert, bildete sich seit den 1880er Jahren heraus. Im Gegensatz zur britischen Wirtschaft, die noch zur Jahrhundertmitte die Weltwirtschaft nach Belieben beherrscht hatte, litt sie auch nicht unter „Altlasten“, also lange erfolgreichen Industriezweigen wie der Textilindustrie, die im letzten Jahrhundertdrittel deutlich an Dynamik verloren. Die Lieferanten und Kunden der deutschen Wirtschaft waren dabei zunächst naheliegenderweise im europäischen Ausland zu finden; jedoch konnten sich deutsche Kaufleute und Unternehmen auch relativ frühzeitig in Amerika, Asien und Afrika etablieren. Während von den deutschen Exporten in den Jahrzehnten vor 1914 durchweg etwa 75 % den Weg in die europäischen Nachbarstaaten fanden, sank deren Anteil bei den Importen allerdings kontinuierlich von 73 % in den 1880er Jahren auf unter 60 % bei Kriegsausbruch 1914, während die Bedeutung vor allem Amerikas als Rohstoff- und Nahrungsmittellieferant deutlich zunahm.
Anders als gegenwärtig hatte Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg aufgrund der hohen Binnendynamik durchweg ein Handelsbilanzdefizit, das sich aus der starken Rohstoff- und Nahrungsmittelnachfrage gut erklären lässt, die allein durch den wachsenden Güterexport nicht finanziert werden konnte. Für den Leistungsbilanzausgleich, im Rahmen des Goldstandards eine wesentliche Bedingung zur Stabilisierung der eigenen Währung, waren daher Erträge aus Auslandsinvestitionen von großer Bedeutung, die sich daher auch gegen die Kritik etwa von Agrarinteressenten, die billige Kredite für sich verlangten, rechtfertigen ließen. Insbesondere bei ausländischen Direktinvestitionen hatte Deutschland schließlich den zweiten Platz hinter Großbritannien erreicht, doch blieb die Kapitalausfuhr verglichen mit anderen Staaten überschaubar.
Dabei war es zweifellos hilfreich, dass sich das Kaiserreich in den 1870er Jahren dem Goldstandard anschloss; Währungsturbulenzen spielten bis zum Ersten Weltkrieg keine Rolle, und auch die seit den späten 1870er Jahren betriebene Schutzzollpolitik, die in der Literatur viel gescholten wurde, sollte man nicht überbewerten. Ein wirkliches Hochschutzzoll-Land waren die USA; die deutschen Sätze waren selbst im europäischen Vergleich, wo nur die Niederlande und Großbritannien am Freihandel festhielten, moderat. Alles andere wäre in einer Welt drohender Retorsionsmaßnahmen auch gar nicht möglich gewesen. Die Daten sind jedenfalls eindrucksvoll: Anstatt 9,5 % Anteil am Weltexport 1872 konnte die deutsche Wirtschaft 1913 einen Anteil von mehr als 13 % vorweisen und hatte damit fast das britische Niveau erreicht, das im gleichen Zeitraum deutlich zurückgegangen war. Gerade in den seinerzeit technologisch führenden Branchen war der deutsche Export fast unschlagbar hoch, der wiederum die Bedingung dafür war, dass sich das Land seine rasche Binnenentwicklung mit der hohen Nachfrage nach Rohstoffen und Nahrungsmitteln überhaupt leisten konnte.
Die deutsche Wirtschaft war also bereits vor 1914 von ihren internationalen Verbindungen existenziell abhängig. Allein der Exportanteil am BIP lag bei Kriegsausbruch bei mehr als 12 %; die führenden Exportbranchen wiesen dabei deutlich höhere Exportziffern auf. In gewisser Weise waren sie längst integrale Teile des Weltmarktes geworden (Torp, 2005).
Soziale Integration
Die großen Exporterfolge der deutschen Industrie vor 1914 waren auch ein Ergebnis der günstigen Preis-Leistungs-Konstellation deutscher Produkte, die wiederum mit den im internationalen Vergleich nicht führenden deutschen Lohnkosten in enger Verbindung standen. Die starken Produktivitätssteigerungen ließen in dieser Zeit Reallohnsteigerungen zu, die offensichtlich nicht die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie belasteten und in dem mit dem Goldstandard verbundenen System fester Wechselkurse auch voll ausgespielt werden konnten. Dadurch öffnete sich im Inland freilich die soziale Schere; eine Bruttovermögensbildungsquote allein von einem Viertel des BIP führt unter privatkapitalistischen Bedingungen geradezu zwangsläufig zu einer Spreizung der Vermögensdaten, und bei einer Reallohnentwicklung, die den Produktivitätsspielraum nicht voll ausschöpft, verschlechtert sich auch die Lohnquote. Die Einkommensdaten jedenfalls zeigen, dass gegen Ende des Wilhelminismus der Abstand zwischen den Spitzeneinkommen und den durchschnittlichen Lohn- und Gehaltseinkommen deutlich zugenommen hatte. Doch war das Kaiserreich in dieser Zeit gerade nicht von einer Zunahme der Klassenspannungen geprägt; von einer vorrevolutionären Stimmung konnte zum Ärger des linken Flügels in der SPD immer weniger die Rede sein. Die SPD und die freien Gewerkschaften erlebten zwar seit den 1880er Jahren einen fulminanten Aufstieg; ihre Wählerstimmen und Mitgliederzahlen zeigten übereinstimmend, dass die Arbeiterbewegung zur bedeutendsten sozialen Kraft des Kaiserreichs geworden war. Gerade diese Erfolge aber sprachen gegen einen revolutionären Umsturz und begünstigten die Erwartung politischer Reformen, die mehr und mehr an die Stelle der alten Revolutionshoffnung trat. An Stelle der Erwartung des „großen Kladderadatsch“ etablierte sich ein durchaus konfliktkonstituierter, gleichwohl aber normaler Alltag industrieller Beziehungen, in dem kollektive Verhandlungen von Arbeitgebern und Gewerkschaften über Löhne und Arbeitsbedingungen an Bedeutung gewannen. Streiks und Aussperrungen erreichten – konjunkturabhängig – ein bemerkenswertes Ausmaß; aber das war gerade das Zeichen sich etablierender Konfliktformen. Zwar wehrten sich wichtige Industriezweige noch gegen die Akzeptanz von Gewerkschaften, aber die Tendenz war eindeutig. Vor allem die großen Gewerkschaften verloren das Interesse an revolutionärer Folklore; bei faktischer Vollbeschäftigung, langsam steigenden Löhnen und sich insgesamt bessernden Lebensbedingungen war auch in der Arbeiterschaft von revolutionärer Stimmung wenig zu spüren.
Dazu trug die Tatsache bei, dass das Kaiserreich in der staatlichen Sozialpolitik, vor allem bei der Risikovorsorge in Fällen von Krankheit, Unfall und Erwerbsunfähigkeit eine weltweit ziemlich einmalige Pionierrolle übernommen hatte. Seit den 1880er Jahren gab es umfassende Kranken-, Unfall- und Alterssicherungsregeln, deren Leistungen vor allem im Falle des Alters noch überschaubar waren, die aber in Fällen von Krankheit und Erwerbsunfähigkeit wirksame Hilfe boten (Hentschel, 1983, 11-55). Die sozialen Probleme in den schnell wachsenden Industriegroßstädten sollen nicht beschönigt werden; doch wurden auch der Wohnungsbau sowie der Ausbau der kommunalen Daseinsvorsorge im Kaiserreich keineswegs vernachlässigt. Internationale Vergleiche zeigen die deutschen Städte vor 1914 alles in allem in einem nicht zu schlechten Lichte, gemessen zumindest an zeitgenössischen Maßstäben (Gräser, 2008). Noch heute künden die Altbauviertel der großen Städte mit ihren „Gründerzeithäusern“ von dieser Zeit, in der das alte Deutschland endgültig der industriellen Moderne gewichen war (Führer, 2016).
Literatur
Burhop, C. (2011), Wirtschaftsgeschichte des Kaiserreichs 1871-1918, Vandenhoeck & Ruprecht.
Demel, S. (2014), Auf dem Weg zur Verantwortungsgesellschaft. Ernst Abbe und die Carl Zeiss-Stiftung im deutschen Kaiserreich, Wallstein Verlag.
Fischer, W. (1979), Die Weltwirtschaft im 20. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht.
Führer, K. C. (2016), Die Stadt, das Geld und der Markt. Immobilienspekulation in der Bundesrepublik Deutschland 1960-1985, De Gruyter Oldenbourg.
Gräser, M. (2008), Wohlfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat: Bürgerliche Sozialreform und welfare state building in den USA und Deutschland 1880-1940, Vandenhoeck & Ruprecht.
Grimmer-Solem, E. (2019) Learning Empire. Globalization and the German Quest for World Status, 1875-1919, Cambridge University Press.
Hentschel, V. (1983), Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880 -1980. Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Suhrkamp.
Hohorst, G., J. Kocka und G. Ritter (1978), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch, Bd. 2: Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870-1914, Beck.
Mayer, T. (Hrsg.) (2021), 150 Jahre Nationalstaatlichkeit in Deutschland. Essays, Reflexionen, Kontroversen, Nomos.
Mitchell, B. R. (1976), Statistical Appendix, in: Carlo M. Cipolla (Hg.), The Fontana Economic History of Europe, Bd. 6/2: Contemporary Economies, Fischer.
Murmann, J. P. (2003) Knowledge and Competitive Advantage. The Coevolution of Firms, Technology, and National Institutions, Cambridge University Press.
Pfister, U., J.-O. Hesse, M. Spoerer und N. Wolf (Hrsg.) (2021), Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft, Mohr Siebeck.
Plumpe, G. (1990), Die I.G. Farbenindustrie AG. Wirtschaft, Technik und Politik 1904-1945, Duncker & Humblot.
Tilly, R. H. (1990), Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834 bis 1914, Deutscher Taschenbuch Verlag.
Torp, C. (2005) Die Herausforderung der Globalisierung. Wirtschaft und Politik in Deutschland 1860-1914, Vandenhoeck & Ruprecht.
Ullmann, H.-P. (2005), Der deutsche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen, Beck.
Wehler, H.-U. (1995), Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849-1914, Beck.