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Die DB AG hat angekündigt, in den kommenden Jahren 20 Bahnstrecken reaktiveren zu wollen. Diese Ankündigung wurde in den Medien als „Trendwende“ bezeichnet. Bei nüchterner Betrachtung der Fakten ist der Begriff der „Trendwende“ irreführend. Bereits seit 20 Jahren werden in Deutschland Strecken reaktiviert, in den letzten zehn Jahren wurden 55 km Strecke stillgelegt und 524 km reaktiviert. Reaktivierungen wurden ursprünglich von lokalen Initiativen getrieben, inzwischen haben einige Bundesländer Programme aufgelegt, um die Potenziale stillliegender Strecken zu prüfen, sie stellen auch Mittel für Baumaßnahmen bereit. Die Verbände „Allianz pro Schiene“ und der „Verband Deutscher Verkehrsunternehmen“ unterstützen Reaktivierungen, jüngst haben sie eine Liste mit 4.000 km Strecke vorgelegt, deren Reaktivierung geprüft werden sollte. Die jetzt von der DB AG vorgelegte Liste umfasst 20 Strecken mit 245 km Länge. Dabei sind die Projekte überwiegend nicht neu, sondern seit Jahren bekannt. Bei einigen Strecken ist die Reaktivierung bereits beschlossen und finanziert (z. B. Siemensbahn). Bei anderen Strecken ist die Reaktivierung seit Jahren beschlossen und finanziert, aber die Anwohner blockieren mit Unterstützung der Landespolitik die Reaktivierung (z. B. Dresdner Bahn in Berlin). Darüber hinaus bildet die aktuelle Liste nur einen kleinen Ausschnitt der laufenden Reaktivierungsaktivitäten ab. Der große Pressetermin mit zwei Ministern zur Verkündigung der Liste ist also eher als Wahlkampfgetöse einzuordnen. Neu ist allerdings, dass sich die DB AG grundsätzlich zu Reaktivierungen bekennt. Bislang hatte der Konzern eher lustlos mitgewirkt, wenn Länder gedrängt und eine vollständige Finanzierung bereitgestellt haben. Insofern ist das Bekenntnis der DB AG wohl auch eine Verbeugung in Richtung möglicher neuer politischer Mehrheiten nach der Bundestagswahl.

Das Thema Streckenreaktivierungen verdient aber in jedem Fall eine vertiefte Betrachtung: Das deutsche Bahnnetz ist seit 1950 mit dem Aufstieg der Straße um etwa 30 % oder 15.000 km geschrumpft. Ein kleinen Teil der stillgelegten Strecken blieb erhalten, einige Strecken wurden noch im Güterverkehr bedient. Seit einigen Jahren treiben lokale Initiativen vor dem Hintergrund geänderter Siedlungsstrukturen oder geändertem Mobilitätsverhaltens Reaktivierungsideen voran. Inzwischen haben etliche Bundesländer Potenzialuntersuchungen durchgeführt und finanzieren bei positiver Einschätzung die Reaktivierung. Auf den meisten der reaktivierten Strecken wurden die Fahrgastprognosen, teilweise deutlich, übertroffen.

Grundsätzlich sind Streckenreaktivierungen sinnvoll, wenn damit in erheblichem Umfang Verkehr verlagert werden kann. Allerdings ist aktuell auf mehrere schwere Ressourcenkonflikte zu verweisen, die sich abzeichnen: Zuerst einmal gibt es bei den Anwohnern zunehmenden Widerstand gegen Lärmquellen und damit gegen die Eisenbahn. Einige der Projekte auf der DB-Liste sind nicht zuletzt wegen Anwohnerprotesten verzögert, zunehmend werden für Reaktivierungen oder Neubaustrecken Tunnelstrecken gefordert. Dies ist weder wirtschaftlich darstellbar noch ökologisch sinnvoll. Zum zweiten gibt es einen Ressourcenkonflikt zwischen Personen- und Güterverkehr. Zwei der Strecken auf der Liste der DB AG werden heute intensiv im Güterverkehr genutzt. Dort soll zusätzlich Personenverkehr aufgenommen werden. Es besteht die Gefahr, dass der Güterverkehr knappe Trassen verliert. Dieser Trend zur Verdrängung des Güterverkehrs ist auch im bestehenden Netz zu beobachten.

Schließlich stellt sich grundsätzlich die Frage nach der Priorisierung von Projekten für den Schienenverkehr. Die meisten Parteien wollen in den kommenden Jahren deutlich mehr Geld in den Ausbau der Schiene stecken. Es besteht jedoch eine lange Liste überfälliger oder dringlicher Projekte, deren Realisierung auch bei deutlicher Ausweitung der Haushaltsmittel Jahrzehnte dauern wird. Dabei zeigen sich zwei Problemkreise: Zum einen besteht heute ein ernster Personalmangel bei Ingenieuren, von denen zudem die Hälfte bis 2030 altersbedingt ausscheiden wird. In den kommenden Jahren werden deshalb nicht das Geld, sondern zunehmend auch die faktischen Ressourcen den Engpass darstellen. Zum anderen fehlt in Deutschland ein rationales System zur Priorisierung anstehender Verkehrsprojekte. Heute entscheiden Verkehrsministerium und DB AG in einem intransparenten Verfahren, getrieben von kurzfristigem politischen Kalkül. Deshalb werden die zentralen Projekte des Netzausbaus seit Jahrzehnten nicht umgesetzt. Um die Kapazität des Netzes schnell zu steigern, muss eine klare Priorisierung der Projekte nach verkehrlicher Bedeutung erfolgen und diese auch in der Umsetzung durchgehalten werden. Die Reaktivierungsprojekte sollten in diese Priorisierung einbezogen werden. Allerdings würde die Priorisierung auch dazu führen, dass bestimmte Projekte über einen längeren Zeitraum zurückgestellt werden müssen. Solche Entscheidungen zu treffen, zu kommunizieren und gegen politische Widerstände durchzuhalten, wird die wenig erfreuliche Herausforderung der Verkehrspolitik. Sie ist aber unabdingbar, um die Leistungsfähigkeit der Eisenbahn zu steigern.

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© Der/die Autor:in(nen) 2021

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DOI: 10.1007/s10273-021-2949-7