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Glaubt man seinen Urhebern, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, wird das „Hartz IV“ genannte und in Verruf geratene Grundsicherungssystem am 1. Januar 2023 durch die Einführung des „Bürgergelds“ überwunden. Zwar bestreitet niemand, dass es mancherlei Verbesserungen und Erleichterungen für Arbeitsuchende wie für die Mitarbeitenden der Jobcenter mit sich bringt. Zu bezweifeln ist jedoch, dass die beiden Parteien „Hartz IV hinter sich lassen“, wie Bundeskanzler Olaf Scholz und Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (beide SPD) nicht müde werden zu versichern.

Hartz-IV-Abhängige im Langzeit- oder Dauerbezug, denen es am schlechtesten geht, haben von der Bürgergeld-Reform am wenigsten. „Neukund:innen“ der Jobcenter werden hingegen durch einen leichteren Systemzugang bessergestellt: Während einer zweijährigen „Karenzzeit“ findet Vermögen bei der Bedürftigkeitsprüfung keine Berücksichtigung, sofern es 60.000 Euro und zusätzlich 30.000 Euro für jeden weiteren Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft nicht überschreitet. Anschließend beträgt das Schonvermögen noch 15.000 Euro pro Person. Unberücksichtigt bleibt selbstgenutztes Wohneigentum, sofern eine bestimmte Quadratmeterzahl nicht überschritten wird.

Für die „Laufkundschaft“ der Jobcenter, also Menschen, die aufgrund ihrer Qualifikation oder nach einer beruflichen Weiterbildung leicht vermittelbar sind, stellt das Bürgergeld gleichfalls so etwas wie Hartz IV light dar. Weil dem Arbeitsmarkt heute im Unterschied zur Jahrtausendwende, als die Hartz-Gesetze entstanden, Fachkräfte fehlen, eröffnet man Menschen im Grundsicherungsbezug die Möglichkeit, sich stärker auf ihre berufliche Qualifizierung und Weiterbildung zu konzentrieren. Abgeschafft wird daher der Vermittlungs-vorrang, welcher dafür sorgte, dass Schulbildung, Berufsausbildung und berufsabschlussbezogene Weiterbildung hinter einer Arbeitsaufnahme zurückstanden.

Um größere Anreize zum Abschluss einer Berufsausbildung für Geringqualifizierte zu schaffen, erhalten die an einer Weiterbildungsmaßnahme beteiligten Bürgergeldbeziehenden ein Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro monatlich. Zudem wird die zur Umschulung im Rahmen einer geförderten beruflichen Weiterbildung gewährte Zeit von zwei auf drei Jahre verlängert. Für die Teilnahme an einer Maßnahme zur nachhaltigen Integration (z. B. einem Sprachkurs) wird ein Bürgergeldbonus in Höhe von monatlich 75 Euro eingeführt.

Damit die Ausbildungsvergütung sowie ein Nebenjob von Schüler:innen, Studierenden und Auszubildenden nicht zur Leistungsminderung führt, wird der Freibetrag auf 520 Euro pro Monat erhöht. Auch die Zuverdienstmöglichkeiten für Erwachsene werden beim Bürgergeld leicht verbessert, was sich großzügig und für bisherige Hartz-IV-Beziehende günstig anhört. Wenn die Erwerbsaufstockenden mehr von ihrem Lohn behalten können, dürfte sich allerdings der Niedriglohnsektor verbreitern, denn es fiele Unternehmer:innen noch leichter als bei Hartz IV, Leistungsbeziehende im Rahmen eines Kombilohns für wenig Geld anzuheuern.

Für alleinstehende Leistungsbeziehende soll das Bürgergeld 502 statt 449 Euro im Monat betragen. Damit nimmt die Ampelkoalition eine zeitnahe Anpassung der Regelbedarfe an die Inflation vor, bleibt aber hinter anderen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zurück, das eine Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums sowie ein transparentes, sachgerechtes und schlüssiges Verfahren zur Ermittlung der Regelbedarfe gefordert hat.

Sanktionen werden – einem anderen Urteil dieses Gerichts folgend – bei Pflichtverletzungen auf den Abzug von 30 % des Regelbedarfs begrenzt. Trotzdem gibt es beim Bürgergeld wieder härtere Strafen, als sie das derzeitige Sanktionsmoratorium erlaubt. Dieses beschränkt sich nämlich auf einen 10 %-igen Abzug von der Regelleistung bei Meldeversäumnissen.

Man kann im Hinblick auf das Bürgergeld nicht von einem neuen oder gar neuartigen Leistungssystem sprechen, weil zwar mehr prozedurale Fairness praktiziert, allerdings keine Lohnersatzleistung nach Art der mit Hartz IV abgeschafften Arbeitslosenhilfe eingeführt wird. Trotz seines wohlklingenden Namens ist auch das Bürgergeld eine reine Fürsorge- oder Lohnergänzungsleistung.

Weder bei Hartz IV noch beim Bürgergeld gilt ein Berufs- und Qualifikationsschutz, den es bei der Arbeitslosenhilfe jahrzehntelang gab. Leistungsbeziehende dürfen kein Jobangebot ausschlagen, ganz egal, welche Ausbildung oder welches Studium sie abgeschlossen haben und welchen Beruf sie vielleicht jahrzehntelang ausgeübt haben. Die strengen Zumutbarkeitsregeln bleiben gleichfalls erhalten: Leistungsbeziehende müssen auch künftig Jobs annehmen, die weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt werden. Sozial ist freilich längst nicht alles, was Arbeit schafft. Sozial ist vielmehr nur, was Armut abschafft.

© Der/die Autor:in 2022

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

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DOI: 10.1007/s10273-022-3296-z