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Ein Kommentar, der eher ein Erklärstück war – zur Funktion des Ausgleichs- oder Nachholfaktors in der Rentenanpassungsformel, der laut Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung wieder eingesetzt werden soll (Werding, 2022) – hat den für Rentenpolitik zuständigen Referatsleiter beim DGB-Bundesvorstand zu einer Replik herausgefordert (Schäfer, 2022). Wird dieser Schritt umgesetzt, verringert sich die im Juli 2022 fällige Rentenerhöhung in Westdeutschland von 5,2 % auf 4,4 %, wie Bundesarbeitsminister Heil im Januar verlauten ließ. Für Ostdeutschland ergeben sich jeweils um 0,7 Prozentpunkte höhere Werte. Muss man über diese Korrektur wirklich streiten? Ingo Schäfer geht es um Grundsätzlicheres. Er unterstellt, dass die von mir als „kleine, im Rahmen des geltenden Rechts bestens vertretbare Korrektur“ eingestufte Änderung eigentlich darauf zielt, die bis 2025 gültige Haltelinie für das Sicherungsniveau der Renten bei 48 % zu unterlaufen. Er weist auf Feinheiten der Berechnungen zu den Rentenanpassungen hin und kommt am Ende zu dem Schluss, dass die geltenden Rentenanpassungsregeln überdacht werden sollten. In diesem letzten Punkt stimme ich ihm zu, auch und gerade weil diese Diskussion schwierig wird. Aber der Reihe nach: In meinem Kommentar habe ich ausgeführt, dass eine Anwendung des Nachholfaktors die Haltelinie voraussichtlich nicht verletzt. Falls es damit doch eng wird, hätte letztere nach geltendem Recht Vorfahrt. Komplikationen bei den Rentenpassungen habe ich in der Tat lediglich mit dem Stichwort „statistische Korrekturen“ angesprochen. Damit mein Text lesbar auf eine Seite passt, hatte ich daraus in letzter Minute den Hinweis gestrichen, dass sich bei der Bestimmung einzelner, in der Anpassungsformel enthaltener Größen „Abgründe auftun können“, weil sich einige Entwicklungen dort zeitnah nur auf Basis von Ersatzgrößen und vorläufigen Werten für das Vorjahr und das Vorvorjahr berücksichtigen lassen. Das ist nicht völlig vermeidbar.

Seltsam wird es aber, wenn solche vorläufigen Berechnungen dauerhaft als Kennziffern für die Entwicklung der Renten stehen bleiben, weil fällige Korrekturen nur für die Folgejahre vorgenommen werden. Dies ist etwa seit 2018 beim durchschnittlichen Nettoentgelt der aktiv Versicherten und den darauf basierenden Angaben zum Sicherungsniveau der Fall. Für 2020 wird dieses mit 48,2 % ausgewiesen, wie im April 2020 auf Basis unterstellter Lohnsteigerungen um 3,3 % qua Rechtsverordnung festgelegt. Tatsächlich sind 2020 die Renten um 3,3 % gestiegen, die Löhne jedoch – je nach Datenbasis – um 0,3 % gesunken oder um 1,7 % gestiegen. Zeitreihen für das Sicherungsniveau geraten so in eine Parallelwelt, in der sich Entwicklungen, die Grundlage rentenpolitischer Entscheidungen sein sollten, nicht mehr zutreffend nachvollziehen lassen. Debatten über die Rente werden auch erschwert, wenn alle Teilnehmer:innen in ihren eigenen Welten leben. Ich habe zwar eine Vorstellung, was Schäfer meint, wenn er sich gegen ein „Beitragssatzdogma“ oder einen „quasi überhistorischen, kybernetischen Anpassungsmechanis-mus“ wendet, verstehe seine Motive aber höchstens halb. Sind steigende Beitragssätze für jüngere Versicherte und mögliche Rückwirkungen auf deren Beschäftigungschancen aus Sicht der Gewerkschaften gar kein Thema? Sorgen Rentenanpassungen auf Basis längerfristig gültiger Regeln, die in Deutschland eine lange Tradition haben, nicht auch für Schutz? Abgewichen wurde von solchen Formeln in der Vergangenheit jedenfalls auch oft zum Nachteil der Rentner:innen. In der geltenden Anpassungsformel gehören für Ingo Schäfer speziell der Lohn- und der Nachhaltigkeitsfaktor auf den Prüfstand. Plädiert er wirklich für eine endgültige Abkehr von der 1957 geschaffenen „dynamischen Rente“? Oder stören ihn am Lohnfaktor nur die praktischen Probleme bei seiner zeitnahen Bestimmung?

Vermisst habe ich in Schäfers Beitrag das Stichwort „Demografie“. Zwischen 2000 und 2035 verdoppelt sich in Deutschland der Altenquotient, mit sehr geringer Unsicherheit über das volle Ausmaß dieser Entwicklung (Statistisches Bundesamt 2019). Anschließend bleibt er günstigstenfalls konstant hoch. Ein Drittel des Anstiegs ist bis 2020 bereits geschehen, zwei Drittel stehen noch aus. Von 2005 bis 2019 wurde dies durch eine unerwartet lange, günstige Entwicklung am Arbeitsmarkt aufgefangen, mit einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 11,7 % auf 5 %, der sich so nicht fortsetzen kann. Wir stehen vor der Frage, wie die gesetzliche Rente und das gesamte System der Altersvorsorge auf den bevorstehenden Alterungsschub eingestellt werden können. Diese Frage ist dringlich und wichtiger als gewisse Schwankungen bei den nächsten Rentenanpassungen.

Literatur

Schäfer, I. (2022), Nachholfaktor: Irrungen und Verwirrungen, Wirtschaftsdienst, 102(2), 72.

Statistisches Bundesamt (2019), Bevölkerung im Wandel: Annahmen und Ergebnisse der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung.

Werding, M. (2022), Rente: Nachholfaktor ist zurück – gut so?, Wirtschaftsdienst, 102(1), 5, https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2022/heft/1/beitrag/rente-nachholfaktor-ist-zurueck-gut-so.html (7. Februar 2022)

© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3100-0