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„Die Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“ (Bertolt Brecht). Der Populismus ist auf dem Vormarsch, insbesondere in den Industrieländern. Aus deutscher und europäischer Perspektive interessieren und beunruhigen Frankreichs Wahlen hinsichtlich der offiziellen Haltung zur EU. Deutschland konstatiert erschreckt, dass die französischen Präsidentschaftswahlen 2022 EU-kritische Populist:innen deutlich gestärkt haben. Populistische Bewegungen erhalten die größte Unterstützung in wirtschaftlich rückständigen Regionen, die von schweren lokalen Schocks getroffen wurden (Rodríguez-Pose, 2020). So auch in Frankreich. Feindseligkeit gegenüber Europa ist am häufigsten in der Provinz zu finden – bei den Menschen, die abgehängt wurden. Das Brexit-Referendum war ein seltenes Beispiel für eine Abstimmung, bei der es ausschließlich um die Einstellung zur EU ging. Ähnliche Muster zeigen sich auch bei der Unterstützung für die AfD in Deutschland, die PiS-Partei in Polen, die Lega in Italien und Vox in Spanien. Die stärkste Unterstützung für die EU findet sich dagegen in Großstädten (Collier, 2020). Die Schweiz, Österreich und Skandinavien zeigen, dass der wirtschaftliche Erklärungsansatz für Rechtspopulismus nicht immer ausreicht.

Frankreich ist traditionell gespalten (La France Fracturée). Seit dem Ende der knapp 30 glorreichen Jahre von 1945 bis 1973, Les Trente Glorieuses (Fourastié, 1979), dem Pendant des deutschen Wirtschaftswunders, hat sich die Spaltung vertieft. Frankreich ist gespalten in Paris und die Provinz; in wohlhabende Großstädte und arme Kleinstädte; Stadt und Land; Junge und Alte; Eliteausbildung und dürftiges Ausbildungsniveau; reiche Bourgeoisie und Arme; EU-Befürwortende und EU-Gegner. Die Spaltung hat sich bei der Präsidentschaftswahl 2022 nicht nur bestätigt, sondern gegenüber 2017 weiter verstärkt (Wiegel, 2022).

Im ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen am 10. April scheiterten Republikaner und Sozialisten, die in der Fünften Republik seit 1958 die meisten Präsidenten gestellt haben, mit ihren Kandidatinnen Valérie Pécresse und Anne Hidalgo an der 5 %-Hürde. Traditioneller Mainstream der Mitte gehört nicht zu den großen drei Wahlsiegern, während die rechtsextreme Marine Le Pen (Rassemblement National) geschickt die Nöte der Abgehängten thematisierte. Die Präsidentschaftswahl 2022 sah eine Polarisierung durch eine starke Konzentration der Stimmen auf drei Kandidat:innen, die alle im Vergleich zu 2017 an Boden gewonnen haben. Präsident Macron, Le Pen und der linksradikale Mélenchon kamen auf fast 73 % der Stimmen.

Im Kontrast zum üblichen Links-Rechts-Schema unterscheiden Chopin und Faure (2021) Frankreichs politisches Spektrum in Befürwortende (Macron, Pécresse, Jadot, Hidalgo bei den Wahlen 2022) und Gegner:innen einer supra­nationalen EU-Gouvernanz. Dazwischen liegt die breite, einflussreiche Schicht sogenannter Souveränisten, die als Gegenmodell zu einem möglichen Staatenverbund der EU das auf Charles de Gaulle zurückgehende Schlagwort eines „Europa der Vaterländer“ propagieren. Auf dem linken Spektrum werden sie Chevènementisten genannt; prominentester Vertreter ist derzeit Mélenchon. Besonders beunruhigen aus EU-Perspektive die Neonationalisten (Le Pen, Zemmour, Dupont-Aignan) mit ihrer europafeindlichen, xenophoben, immigrationsfeindlichen und teils rassistischen Agenda. Diese Gruppe ist besonders Putin-affin. Die Befürwortenden einer stärker integrierten EU rutschten in Frankreich 2022 ab – in die Minderheit. Die Befürwortenden sammelten 2017 noch gut die Hälfte (50,4 %) der Stimmen (vgl. Tabelle 1). Bei der Wahl 2022 kamen sie ingesamt nur auf 41 %. 2017 erhielten rechte Neonationalisten 26 % der Stimmen, bei den Präsidentschaftswahlen 2022 stimmte ein Drittel für sie.

Tabelle 1
Präsidentschaftswahlen Frankreich April 2022
in %
1. Wahlgang 2. Wahlgang
  2022 2017   2022 2017
E. Macron 27,85 24,01 E. Macron 58,54 66,10
M. Le Pen 23,15 21,30 M. Le Pen 41,46 33,90
J-L. Mélenchon 21,95 19,58 - -  
Übrige 27,05 35,10 - -  
Pro EU-Integration 41,01 50,38      
Stimmenthaltung 26,31 22,23   28,01 25,44

Abbildung 1 zeigt die Kantone, in denen die drei 2022 kandidierenden Neonationalisten im ersten Wahlgang besonders starke Zustimmung fanden. Während West- und Südwestfrankreich (abgesehen von den Weinanbaugebieten entlang der Gironde) relativ wenig Stimmen der Neonazionalisten erhielten, wählten vor allem das deindustrialisierte Nordostfrankreich und das Mittelmeerbecken mit seinem hohen Anteil an Algerienfranzosen rechtsextrem. Besonders wo Kohle­minen und Stahlwerke stillgelegt wurden, also in den Regionen Hauts-de-France sowie Lothringen und Champagne-Ardenne, ist der hohe Stimmenanteil für Le Pen auffällig. Die Karte verweist auch auf ein Stadt-Land-Gefälle: Die hellen Flecken reflektieren die relativ geringen Stimmenanteile der rechten Neonationalisten in den großen Städten. Die großen Ballungsgebiete und der Westen versorgten Macron mit einem Großteil seiner Stimmen im ersten und zweiten Wahlgang. Mélenchons Frankreich bilden die linksorientierten Gemeinden in den städtischen Zentren, in Südfrankreich, im Osten von Paris und in der Bretagne. Diese haben wesentlich zum Sieg Macrons bei der Stichwahl am 24. April beigetragen (Hublet, 2022), sodass er einen Vorsprung von mehr als 20 Prozentpunkten vor Le Pen erzielen konnte.

Abbildung 1
Stimmanteile der rechten Neonationalisten
Stimmanteile der rechten Neonationalisten

Quelle: Le Monde, Le vote d’extrême droite en France en 2022, 14.4.2022

Der Vergleich zwischen Le Pen und Zemmour zeigt einen sozioökonomischen Gegensatz zwischen den Industriegebieten und in den Vorstädten, wo die Forderungen nach einem schützenderen Wohlfahrtsstaat zugunsten von Le Pen gewirkt haben, während Zemmour in den wohlhabenden Vierteln der Großstädte, in den touristischen Ballungsgebieten und in dem Teil der Mittelmeerküste, der von der Präsenz der Algerienfranzosen geprägt wurde, gute Ergebnisse erzielt. Die soziökonomischen Determinanten hoher Stimmenanteile für Le Pen lassen sich aufgrund der filigranen Darstellung der Wahlergebnisse recht genau bestimmen. An der Wahlurne war die Kaufkraft ein zentrales Wahlkampfthema, das von Le Pen mit Blick auf die steigenden Benzinpreise früher als von Macron aufgegriffen wurde. Die fünfjährige Amtszeit von Macron zeichnete sich zwar im Landesdurchschnitt durch positive Zuwächse aus (durchschnittlich +0,9 Prozentpunkte pro Jahr); ein Tempo, das trotz der coronabedingten Lockdowns seit Frühjahr 2020 mit dem der letzten 30 Jahre vergleichbar ist (Madec et al., 2022). Aber die rural-urbane Spaltung des Landes verdeckt erhebliche Differenzen der Wahlmotive; Paris ist ein statistischer Ausreißer – bei Stimmanteilen, Arbeitslosenquote, Bildungsniveau und Pkw-Abhängigkeit.

Strukturelle Arbeitslosigkeit und Le Pens Wahlerfolge: Die meisten ihrer Hochburgen hatten 2021 auch eine überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, während Macrons Kernwählerschaft typischerweise in Gebieten mit durchschnittlicher oder niedriger Arbeitslosigkeit lebt. Tabelle 2 weist die Arbeitslosenquoten für die 23 Départements (ohne Überseegebiete, wo Le Pen vorne lag; dort ist die Arbeitslosenquote besonders hoch) aus, in denen Le Pen die Stichwahl gewann, sowie den Mittelwert der 66 Départements, die Macron für sich gewinnen konnte. Wo Le Pen gewinnen konnte, lag die Arbeitslosenquote bei fast 9 %. Macron konnte in 66 Départements siegen; dort lag der (ungewichtete) Mittelwert der Arbeitslosenquoten bei gut 7 %.

Tabelle 2
Wahlsieg Le Pen, Arbeitslosenquote und Arbeiteranteil
in %
Département Stimm­anteil Stichwahl Arbeits­losenquote, 3/2021 Arbeiteranteil, 2018, Erwerbs-
bevölkerung
Aisne 59,9 11,4 30,7
Alpes-de-Haute-Provence 51,5 9,1 20,6
Ardennes 56,7 9,8 30,0
Aube 51,7 10,2 29,8
Aude 54,9 10,7 32,2
Corse-du-Sud 58,3 6,6 19,3
Eure 51,4 8,1 28,3
Gard 52,2 10,9 20,3
Haute-Corse 57,9 7,5 19,9
Haute-Marne 56,0 6,9 31,0
Haute-Saône 56,9 7,0 30,3
Lot-et-Garonne 50,5 8,0 26,7
Meuse 55,6 7,8 29,5
Nièvre 50,1 6,7 26,2
Oise 52,7 8,1 24,6
Pas-de-Calais 57,5 9,4 28,8
Pyrénées-Orientales 56,3 12,5 20,9
Somme 51,0 9,5 27,9
Tarn-et-Garonne 52,0 9,2 24,2
Var 55,1 8,4 18,0
Vaucluse 52,0 10,3 23,4
Vosges 57,0 8,4 29,2
Yonne 51,6 7,3 28,5
       
Mittelwert Le Pen 52,2 8,9 26,1
Mittelwert Macron - 7,3 17,9
Frankreich, ohne Dom Tom 41,5 8,0 21,3
Memo: Paris 14,9 6,0 6,5

Quellen: https://www.vie-publique.fr/carte/284918-carte-resultats-du-second-tour-de-lelection-presidentielle-2022; https://www.insee.fr/fr/statistiques/
2012804#graphique-TCRD_025_tab1_departements; https://www.insee.fr/fr/statistiques/2012721#tableau-TCRD_014_tab1_departements.

Tabelle 2 und Abbildung 2 weisen auf die Verkehrung traditioneller Parteiaffinitäten: Die am rechten Rand verortete Le Pen findet ihre Wählerschaft bei den Arbeiter:innen; in Paris (wo die Arbeiter:innen auch durch hohe Immobilienpreise verdrängt wurden) tut sie sich schwer. Der Anteil ungelernter Arbeit an der Erwerbsbevölkerung steht hier auch für das unterschiedliche Ausbildungsniveau je nach Département. Wo das Bildungsniveau schwach ist, findet Le Pen besonders ihre Wählerstimmen. Die höher qualifizierten sozialen Gruppen sprachen sich bei der Wahl 2022 für den amtierenden Präsidenten aus: 74 % der Wähler:innen mit mehr als drei Jahren Studium gaben Macron den Vorzug vor Le Pen.

Abbildung 2
Anteil der Stimmen für Le Pen und Arbeiteranteil
Anteil der Stimmen für Le Pen und Arbeiteranteil

Quelle: eigene Berechnungen.

Die Gelbwestenbewegung hat die Bedeutung der Treibstoffkosten in der bevölkerungsarmen, großflächigen Provinz, wo für einen Arbeitsplatz mangels ÖPNV oft lange Pkw-Fahrten in Kauf genommen werden müssen, vor Augen geführt (Algan et al., 2019). Eine neue Studie des INSÉE (Frankreichs Statistisches Amt) konstatierte, dass immer noch 74 % der Erwerbsbevölkerung mit einem Pkw zur Arbeit fahren. In Paris sind es nur 11,5 % (Brutel und Pages, 2021). Die Financial Times zeigte im Querschnitt der Gemeinden den bevölkerungsgewichteten Zusammenhang zwischen Stimmenanteilen für Le Pen und den Dezilen des Anteils der Personen, die mit dem Auto zur Arbeit fahren (Nolsoe et al., 2022). Im ersten Dezil ist der Anteil für Le Pen unter 10 %; bei den oberen Dezilen der Gemeinden steigt der Stimmenanteil für Le Pen auf nahezu 30 %.

Die deutsche Politik muss sich fragen, ob und wie sie dazu beitragen kann, den EU-freundlichen Parteien Frankreichs dauerhaft zu helfen. Die Ökonom:innen des OFCE orteten im strukturellen deutschen Handelsüberschuss ein klares Ungleichgewicht, auf das die neue Ampelkoalition durch die Anhebung des Mindestlohns und die Ankurbelung der öffentlichen Investitionen bereits reagiert hat (Creel et al., 2022). Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit, das Gerhard Schröder 1998 ins Leben gerufen hatte, und die Schuldenbremse hatten hohe deutsche Überschüsse verursacht und die Deindustrialisierung Frankreichs beschleunigt.

Die französische Provinz hat sich durch die Wahl von Populisten gegen Vernachlässigung gewehrt. Macron hat verstanden, dass Frankreich nun eine ortsbezogene Regionalpolitik mit Vorrang in Angriff zu nehmen hat (Südekum, 2021). Das Spektrum reicht von direkten Subventionen an Firmen über Infrastrukturausbau, Bildungssubventionen, die Förderung industrieller Cluster, die gezielte Ansiedlung von Behörden oder (Fach-)Hochschulen, die Verschönerung von Wohnquartieren, die Schaffung von Freizeitangeboten, kurz: die Verbesserung weicher Standortfaktoren. Ob die Zeit dafür bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 2027 ausreicht?

Literatur

Algan, Y., E. Beasley, D. Cohen, M. Foucault und M. Péron (2019), Qui sont les Gilets jaunes et leurs soutiens?, Observatoire du Bien-être du CEPREMAP et CEVIPOF, 2019-03.

Brutel, C. und J. Pages (2021), La voiture reste majoritaire pour les déplacements domicile-travail, même pour de courtes distances, Insée Première, 835, 19. Januar.

Collier, P. (2020), Achieving Socio-Economic Convergence in Europe, Intereconomics, 55(1), 5-12.

Chopin, T. und S. B. H. Faure (2021), Presidential Election 2022: A Euroclash Between a “Liberal” and a “Neo-Nationalist” France Is Coming, Intereconomics, 56(2), 75-81.

Creel, J., F. Geerolf, S. Levasseur, X. Ragot und F. Saraceno (2022), L’Europe, de réelles avancées mais des choix à assumer, OFCE Policy brief, 101, 24. Februar.

Fourastié, J. (1979), Les Trente Glorieuses ou la révolution invisible.

Hublet, F. (2022), Comment Macron a-t-il gagné? Cartographier l’élection présidentielle à l’échelle communale, Le Grand Continent, 26. April.

Madec, P., M. Plane und R. Sampognaro (2022), Une analyse macro et microéconomique du pouvoir d’achat des ménages en France: Bilan du quinquennat mis en perspective, OFCE Policy Brief, 104, 17. März.

Nolsoe, E., E. Hollowood und O. Elliot (2022), First round of 2022 French election in charts, Financial Times, 11. April.

Rodríguez-Pose, A. (2020), The Rise of Populism and the Revenge of the Places That Don’t Matter, LSE Public Policy Review, 1(1), 1-9.

Südekum, J. (2021), Productivity policy for places, OECD.

Wiegel, M. (2022), Karl Marx lesen, um Frankreich zu verstehen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. April.

Title:Presidential Election Confirms France’s Divide

Abstract:French presidential elections 2022 have significantly strengthened anti-EU populists. Traditional mainstream centrists are not among the big three election winners, while far-right Marine Le Pen deftly addressed the plight of the disengaged. The country’s rural-urban divide masks significant differences in voting motives; Paris is a stark outlier. Unemployment rates, low skills, and car dependency fuel Le Pen´s support, as well as xenophobia. The province has fought back against neglect by electing populists. It is doubtful whether place-based policies will solve the structural cause of the populist tendency by the next presidential election in five years.

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© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3197-1