Die europäischen Volkswirtschaften leiden unter gewaltigen Angebotsschocks. Gedrosselte Energieimporte, Engpässe bei der Lieferung von Rohstoffen und Vorprodukten sowie ein ausgeprägter Arbeitskräftemangel belasten die Aktivität in nahezu allen Wirtschaftsbereichen. Dadurch werden nicht nur die Produktionsmöglichkeiten eingeschränkt, sondern auch die Produktionskosten als Folge der angebotsseitigen Knappheiten in die Höhe getrieben.
Gleichzeitig ist die Nachfrage nach Waren und Dienstleitungen kräftig. Zwar gehen die Auftragseingänge im Produzierenden Gewerbe allmählich zurück, wohl auch als Folge der Preisanstiege. Allerdings sind die Auftragsbücher der Unternehmen immer noch so gut gefüllt, dass die Produktion bis zuletzt leicht gestiegen ist. Auch der private Konsum wurde bis in den Spätsommer 2022 hinein ausgeweitet. Zum einen konnten die konsumnahen Dienstleistungsbereiche vom Abflauen der Coronapandemie und der damit einhergehenden Normalisierung des Ausgabeverhaltens der privaten Haushalte profitieren. Zum anderen haben der Abbau der Corona-Überschussersparnisse sowie breit angelegte fiskalische Entlastungspakete dem inflationsbedingten Kaufkraftverlust entgegengewirkt. Unternehmensbefragungen zufolge sind somit die gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten, die durch die Angebotsschocks reduziert wurden, spürbar überausgelastet.
Damit steigen die Preise im Euroraum nicht nur, weil sich Energie, Rohstoffe und Vorprodukte verteuerten und Unternehmen die höheren Kosten an die Kunden weitergeben. Sie steigen auch, weil eine hohe Nachfrage darüberhinausgehende Preisanhebungen ermöglichte. Dies zeigen die Deflatoren der heimischen Wertschöpfung, die die Preisentwicklung der inländischen Produktion nach Abzug der Vorleistungen messen. Sie legten bis zuletzt kräftig zu, was vor allem auf die Ausweitung der Bruttobetriebsüberschüsse der Unternehmen (unter Berücksichtigung von empfangenen Subventionen und geleisteten Produktionsabgaben) zurückzuführen war. Besonders kräftig stiegen die Deflatoren dabei in den konsumnahen Wirtschaftsbereichen (Handel, Verkehr und Gastgewerbe). Auf der Verbraucherebene ist die Inflation damit mittlerweile in der Breite des gesamten Warenkorbes angekommen. Ohne Berücksichtigung des direkten Beitrags der Energiepreise nahm die Teuerung von Waren und Dienstleitungen kontinuierlich von 2,5 % im Januar 2022 auf bis zuletzt über 7 % zu.
Für die Europäische Zentralbank (EZB) erhöht sich durch die Verschiebung der inflationären Triebkräfte der Druck, einen zunehmend restriktiveren Kurs einzuschlagen. Bei adversen (preiserhöhenden und produktionsbehindernden) Angebotsschocks sollten Notenbanken auf einen Anstieg der Realzinsen hinwirken, sodass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auf das Niveau der eingeschränkten Produktionsmöglichkeiten gedrosselt wird. Vielleicht haben viele Ökonomen zu lange geglaubt, dass die Angebotsschocks nur kurzlebig seien. Daher hatte auch die anfangs zögerliche Politik der EZB des Hindurchsehens durch die Schocks eine gewisse Rechtfertigung, da auf diese Weise eine allzu erratische Zinspolitik vermieden werden sollte. Mittlerweile allerdings dürfte die Vielzahl adverser Angebotsschocks die Produktionskapazitäten nicht mehr nur temporär, sondern längerfristig gesenkt haben. Deshalb nahm die Überauslastung der noch vorhandenen Produktionskapazitäten bis zuletzt kaum ab, obwohl die gesamtwirtschaftliche Produktion in der zweiten Jahreshälfte 2022 nur wenig stieg. Dies ebnete den Weg für eine Ausbreitung der Inflation, die es nun wirtschaftspolitisch einzufangen gilt.
Die EZB sollte dazu in den kommenden Monaten mit weiteren Zinsschritten beitragen. In der aktuellen ifo-Konjunkturprognose gehen wir davon aus, dass sowohl der Hauptrefinanzierungssatz als auch die durchschnittlichen Kapitalmarktzinsen im Euroraum bis zum Sommer 2023 auf 4 % steigen werden. Damit dürften die langfristigen Realzinsen positiv werden und über den neutralen Realzins steigen. Die europäische Finanzpolitik sollte den restriktiven Kurs der Geldpolitik nicht weiter konterkarieren und keine zusätzlichen Impulse setzen, die die gesamtwirtschaftlichen Einkommen auf breiter Front stärken. Nach Schätzungen der EZB waren im vergangenen Jahr gut 90 % der im Zusammenhang mit der Energiekrise stehenden fiskalischen Maßnahmen im Euroraum nicht zielgerichtet und kamen allen Haushalten und Unternehmen zugute. Zusammen mit den Corona-Überschussersparnissen, die auch ihrerseits das Ergebnis einer breit angelegten fiskalischen Stabilisierungspolitik während der Coronakrise waren, dürfte die Finanzpolitik maßgeblich zur Überauslastung beigetragen und damit den Preisanstieg befördert haben. Solange die angebotsseitigen Knappheiten bestehen bleiben, sollten Geld- und Finanzpolitik daher an einem Strang ziehen. Nur so kann es gelingen, die Inflation wieder zügig in Richtung des 2%-Ziels zu senken.