Nach dem Ende des Kalten Krieges war eine Zeit der militärischen und wirtschaftlichen Hegemonie der USA angebrochen. Der einstige große Gegenspieler, die UdSSR, befand sich in einem wirtschaftlich, militärisch und politisch desolaten Zustand. Sie wurde nicht mehr als Bedrohung gesehen. Andere Rivalen waren nicht in Sicht.
Diese Zeit ist zu Ende gegangen. Russland gehört zu den Ländern, die Ansprüche auf imperiale Macht erheben (Brzezinski, 1997, 2012). Die zweite wohl noch wichtigere Veränderung betrifft die Volksrepublik China. Die Wirtschaftsdynamik in China wird das Land mutmaßlich sehr bald zur größten Wirtschaftsnation der Welt machen. Auch China hegt imperiale Ansprüche und möchte sich einer hegemonialen Führung durch die USA nicht unterordnen (Layne, 2018). Die USA und China sind in eine Konfliktphase eingetreten, die durch einen Technologiewettlauf und durch handels- und industriepolitische Konkurrenz gekennzeichnet ist (Konrad, 2024a, 2024b). Chinas Militärausgaben machen das Land auch sicherheitspolitisch zu einem bedeutenden Spieler und zu einem möglichen militärischen Kontrahenten (Allison, 2017; Mearsheimer, 2014).
Dadurch verschiebt sich die Sicherheitslage für Deutschland. Die spätestens seit Barack Obamas Präsidentschaft erkennbare Neuausrichtung der USA weg von Europa und hin zu Asien/China verändert die Glaubwürdigkeit der Sicherheitsgarantien der Schutzmacht USA. Militärische Allianzen und Versprechen gegenseitiger Hilfe gründen entscheidend auf der gemeinsamen Interessenlage ihrer Mitglieder. Eine Allianz, in der die eine Seite von der anderen Unterstützung für Ziele einfordert, die für diese andere Seite sekundär geworden sind, wird auf Dauer nicht funktionieren.
Verlust von Interessenkohärenz ist eine große Herausforderung für das Fortbestehen jeder Allianz (Walt, 1997). Es spricht also vieles dafür, dass Europa deshalb selbst für seine Sicherheit sorgen muss (Polyakova & Haddad, 2019). Der Präsident Frankreichs hat diese Überlegungen auf die Ebene der politischen Sichtbarkeit gehoben, als er vom Gehirntod der NATO sprach und das Ziel militärischer und industriepolitischer Autonomie in Europa formulierte (Macron, 2021; Nardelli, 2021).
Dieser Beitrag setzt sich mit den Herausforderungen auseinander, die sich für Deutschland aus dieser neuen Sicherheitslage ergeben. Wir argumentieren, dass die häufig postulierten Automatismen „Mehr Geld = Mehr Sicherheit“ und „Mehr Soldaten = Mehr Sicherheit“ einer genaueren Betrachtung nicht standhalten. Vielmehr sollte Priorität sein, die vorhandenen Mittel effizient zu nutzen. Dazu gehört die Frage nach der effizienten Organisation der europäischen militärischen Kräfte.
Militärausgaben
Für das Jahr 2023 beliefen sich die Verteidigungsausgaben Deutschlands zwar nur auf ca. 1,5 % des Sozialprodukts. Aber mit 66,8 Mrd. US-$ liegt Deutschland auf Platz sieben aller Länder, was die absolute Höhe der Landesverteidigungsausgaben angeht, und zwar nach den USA, China, Russland, UK, Indien und Saudi-Arabien. Und im Jahr 2024 hat der Verteidigungsetat mit geplanten 11 % einen nicht unwesentlichen Anteil am Bundesetat (BMF, 2024).
Abbildung 1 zeigt, dass das Ausgabenvolumen allein der drei militärisch wichtigsten europäischen Nationen (UK, DE, FR) in der NATO mit 203 Mrd. US-$ fast doppelt so hoch ist wie das Ausgabenvolumen des derzeit im Kriegszustand mit der Ukraine befindlichen Russland. Eine direkte Schlussfolgerung aus der Differenz dieser Ausgabenzahlen verschiedener Länder zu ziehen ist schwierig. Oft wird darauf verwiesen, dass beispielsweise Russland aus dem gleichen Geldbetrag mehr „Feuerkraft“ erzielt als Länder Westeuropas. Indes hängt dieser Sachverhalt auch davon ab, wie effizient die europäischen Länder ihr Militärbudget verwenden. An den fiskalischen Aufwendungen für das Militär in Deutschland (und Europa) lässt sich insofern noch kein Rückstand in militärischer Sicherheit festmachen.
Abbildung 1
Länder mit den höchsten Militärausgaben, 2023
Top 20 Länder weltweit; ¹ Die Angaben sind laut Quelle geschätzt; Werte der Ausgaben wurden in der Quelle nach den derzeitigen Preisen und Wechselkursen in US-Dollar umgerechnet.
Quelle: Statista (2024a) mit Stockholm International Peace Research Institute (2024) als Primärquellenangabe.
Was in der Politik diskutiert wird
Verbreitet wird eine erhebliche Ausweitung der Verteidigungsausgaben in Deutschland (und vielen anderen Staaten Europas) gefordert. Gleichzeitig erscheinen die Budgetspielräume in den Staatenhaushalten begrenzt. Das eröffnet die Frage, ob mehr Sicherheit in erster Linie durch militärische Ausgabensteigerungen zu erzielen ist oder ob es hierzu Alternativen gibt.
In der politischen Diskussion in Deutschland sind eine Stärkung der Bundeswehr durch Beschaffung von Ausrüstung und Waffen, eine Vergrößerung des „stehenden Heeres“ und der Aufbau von personellen Reservekapazitäten, unter anderem durch die Wiederbelebung der Wehrpflicht in der einen oder anderen Form. Ebenfalls in der Diskussion ist die Struktur der militärischen Ressourcen in Europa. Denkbar sind unter anderem die Schaffung einer europäischen Armee mit einer effizienten Befehlsstruktur oder industriepolitische Weichenstellungen zur Entwicklung von militärischen Hochtechnologien in Europa und zum Aufbau von Produktionskapazitäten für Rüstungsgüter.
Gemeinsam oder allein?
Angesichts der genannten Zahlen ist zu prüfen, ob in den europäischen NATO-Staaten die militärische Schlagkraft mit den bestehenden Mitteln deutlich gesteigert werden könnte. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei die militärische Organisation hin zu einer zentralistischen Struktur. Dem steht die oft konstatierte politische Zersplitterung und fehlende Interessenkohärenz innerhalb der EU scheinbar entgegen. Auch die uneinheitliche Rüstungsbeschaffung der Mitgliedsländer wird häufig beklagt. Jean-Claude Juncker (2017) sagte bei der Defence and Security Conference in Prag im Juni 2017: „There are 178 different weapon systems in the EU, compared to 30 in the US. We allow ourselves the luxury of having 17 different types of combat tanks, while the United States is able to manage perfectly well with just one model. Absurdly, there are more helicopter types then there are governments to buy them! We must do better.“
Die Bedrohung durch Russland kann zu einer engeren Kooperation in Europa führen. In einem legendären Experiment hatte das Forscherteam um Muzafer Sherif (1954) untersucht, unter welchen Bedingungen Konflikte zwischen Gruppen überwunden werden und Kooperation ensteht. Für die Überwindung von Trennungslinien zwischen Gruppen von Personen sind letztlich nur wenige Katalysatoren vorhanden. Ein Katalysator besteht darin, dass die zu bewältigende Aufgabe für die einzelnen Personen oder Teilgruppen zu groß ist. Ein zweiter Katalysator ist, dass eine Bedrohung der Allianzmitglieder durch eine außenstehende Macht besteht, die für alle Beteiligten sehr spürbar ist. Diese Erkenntnisse legen nahe, dass die Bedingungen für eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik bislang schlicht nicht erfüllt waren. Mit der Abwendung der USA von Europa und den imperialen Ansprüchen Russlands haben sich die Bedingungen jedoch fundamental verändert. Die objektiven Bedingungen für eine gemeinsame Verteidigungspolitik – aus größter Not heraus – wären demnach besser denn je.
Quantität oder Qualität in der Sicherheitspolitik?
Eine andere wichtige Frage ist, wie sehr es eher auf die Menge oder die Qualität an militärischen „Kapitalgütern“ ankommt. In konventionellen militärischen Gefechten besteht eine enge Korrelation zwischen dem militärischen Stärkeverhältnis und der Wahrscheinlichkeit des Schlachterfolgs (vgl. hierzu beispielsweise die empirischen Befunde, die Lawrence (2017) zu den Panzerschlachten in Europa im 2. Weltkrieg beschreibt). Die numerische Überlegenheit hat im Laufe der Geschichte ihre entscheidende Rolle für die Leistungsfähigkeit auf dem Schlachtfeld behalten, wie Rotte und Schmidt (2003) anhand eines umfassenden Datensatzes mit Schlachten von 1600 bis 1973 zeigen. Allerdings lässt sich Quantität partiell durch technologische Überlegenheit ersetzen – zumindest so lange die quantitative Ungleichheit nicht zu groß ist. Im historischen Kontext hat dies Diamond (1997) am Beispiel der Eroberungsfeldzüge von Portugiesen und Spaniern in Südamerika dokumentiert.
Aus den unterschiedlichen Befunden kann man schließen, dass es insgesamt zwischen Quantität und Qualität eine Substitutionsbeziehung gibt. Eine hochtechnisierte Armee mag dabei den Vorteil haben, dass sie schonender mit den eigenen Menschenleben umgeht. Da die europäischen Staaten zusammen über mehr Soldaten verfügen als Russland, besteht zumindest hinsichtlich der Mannstärke wenig Grund zur Besorgnis und Europa könnte den Schwerpunkt der Entwicklung auf technologische (im Gegensatz zu quantitativer) Dominanz der Waffensysteme setzen.
Make or Buy?
Es stellt sich weiterhin die Frage nach der Beschaffung von Rüstungsgütern und damit auch nach industriellen Strukturen. Bei der Beschaffung militärischer Ausrüstung in Europa geht es weniger um den Trade-off zwischen privat versus öffentlich geleiteter Innovation. Hier kann man mit guten Gründen anzweifeln, dass eine staatliche Innovationspolitik wirtschaftlich oder volkswirtschaftlich besonders produktiv ist. Es geht eher um die Frage, ob die in diesem Bereich erforderliche Innovationsaktivität in Europa erfolgt und in Europa eine auf den Weltmärkten konkurrenzfähige Produktion von technologisch hochwertigen militärischen Produkten stattfindet. Was dafür spricht: die Kostendegression bei Produkten mit hohen Innovationsfixkosten.
Der Fall von Airbus und Boeing hat bei zivilen Flugzeugen gezeigt, wie Europa von der Konkurrenz profitieren konnte. Umfangreiche europäische Käufe von Rüstungsgütern in den USA verlagern die Wettbewerbsparameter zum Nachteil von Europa. Eine Entscheidung für „make“ hat weitreichende Implikationen für eine effiziente Organisation des Beschaffungswesens in Europa und muss im Zusammenhang mit dem Aufbau einer stärker zentralisierten europäischen Verteidigung gedacht werden.
Gross und Sampat (2023) betonen die möglichen Spillovers, die aus heimischer Rüstungsproduktion resultieren können. Anhand von Daten aus dem Zweiten Weltkrieg schließen sie, dass die Rüstungsaktivitäten in den USA das US-Innovationssystem auch im nicht-militärischen Bereich geprägt, Innovationscluster angestoßen haben und Folgen für das Unternehmertum im Bereich von Hochtechnologien hatten. Auch die Ergebnisse von Pallante et al. (2023) stützen die These, dass militärische Forschung eher zu einem Crowding-in ziviler Forschung führt. Callado Muñoz et al. (2023) reklamieren für die USA einen positiven kausalen Effekt von Rüstungsgüterproduktion auf Arbeitsproduktivität und BIP-Wachstum.
Wehrpflicht oder Berufsarmee?
Im Zuge des NATO-Beitritts der Bundesrepublik Deutschland wurde die Wehrpflicht 1956 eingeführt. Das Ziel war der Aufbau einer Armee mit einer Größe von 500.000 Soldaten. Die Wehrpflicht besteht formal bis heute, wurde aber im Jahr 2011 aus verschiedenen Gründen ausgesetzt. Bauer et al. (2012) geben einen kurzen Abriss über die Geschichte der Wehrpflicht in Deutschland.
Derzeit wird darüber diskutiert, ob die Wehrpflicht wieder eingesetzt werden sollte. Die Parteien sind uneins, und auch innerhalb der Parteien gibt es unterschiedliche Fronten. Unter der Bevölkerung gibt es mehrheitlich Unterstützung, deren Ausmaß sich über das Parteienspektrum hinweg ebenfalls unterscheidet (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2
Sollte die Wehrpflicht wieder eingeführt werden? (nach Parteipräferenz)
1.004 Befragte; Erhebungszeitraum: 07.03.2024 bis 08.03.2024; Region: Deutschland.
Quelle: Statista (2024b) mit Forsa-Erhebung für den Stern und RTL erhoben als Primärquelle (Wolf-Doettinchem, 2024).
Kernargument zur Wiederbelebung der Wehrpflicht ist, dass eine Berufsarmee im Kriegsfall für eine Landesverteidigung nicht hinreichend viele Soldaten zur Verfügung hat. Der Vergleich der Truppenstärken der größten Armeen der Welt zeigt, dass die USA eine Truppenstärke von nur ca. zwei Dritteln derer von China hat (vgl. Abbildung 3). Dennoch wird die US Armee gemeinhin als die schlagkräftigste Armee der Welt betrachtet. So führen 2024 die USA beispielsweise das Global Firepower Ranking an, vor Russland und China auf den Plätzen 2 und 3 (Global Firepower, 2024).
Abbildung 3
Staaten mit den größten Streitkräften nach Truppenstärke, 2024
Details: Verfügbares aktives militärisches Personal; Daten beziehen sich auf das Jahr 2024. Wenn keine offiziellen Daten verfügbar waren, wurden Schätzungen vorgenommen; Region: weltweit.
Quelle: Statista (2024c) mit Verweis auf Global Firepower (2024).
Die bloße Truppenstärke allein mag also wenig über die Verteidigungsfähigkeit aussagen. Wie bereits oben dargelegt ist die Waffentechnologie neben rein quantitativen Betrachtungen von entscheidender Bedeutung. Ferner illustrieren die USA mit einer reinen Berufsarmee, dass eine Wehrpflicht für das Land anscheinend als nicht erforderlich betrachtet wird. Diese Einsichten relativieren die Überlegungen zur sicherheitspolitischen Notwendigkeit einer Wehrpflicht. Der Verzicht auf Wehrpflicht ist international betrachtet im Übrigen kein ungewöhnlicher Sonderweg. Das zeigt ein vergleichender Blick darauf, welche Länder eine Wehrpflicht haben. Unter 171 betrachteten Ländern steht eine Mehrheit von 85 Ländern ohne Wehrpflicht einer Minderheit von 67 Ländern mit Wehrpflicht gegenüber (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4
Staaten mit Wehrplicht, 2023
Details: Basis: 171 Länder; Erhebungszeitraum: 2023; Region: weltweit.
Quelle: Statista (2024d) mit Verweis auf CIA, Pew Research Center and World Population Review (2023) als Primärquellen.
Interessant ist ein genauerer Blick darauf, welche Länder eine Wehrpflicht haben und warum. Asal et al. (2017) betrachten mögliche Faktoren in einer Studie für den Zeitraum von 1816 bis 2000. In einer multivariaten Analyse ergibt sich ein hochsignifikanter negativer Zusammenhang zwischen Demokratie und Wehrpflicht: je demokratischer, umso wahrscheinlicher, dass das Land keine Wehrpflicht hat. Ähnliches gilt auch für die Länge der Wehrpflicht. Eine Wehrpflichtigenarmee mag die öffentliche Unterstützung für die Armee stärken (Choulis et al., 2021), zugleich aber das Vertrauen in den Staat verringern. Eine Analyse für 15 europäische Länder jedenfalls zeigt, dass die Abschaffung der Wehrpflicht eher das Vertrauen in öffentliche Institutionen gestärkt hat (Bove et al., 2024). Die These, dass die Wehrpflicht besonders zu demokratisch verfassten Gemeinwesen passt und bürgerliche Tugenden fördert, ist also ein Vorurteil, das empirisch betrachtet eher keinen Bestand hat.
Gelegentlich ist auch die These zu hören, dass der Militärdienst zur Bildung von Humankapital beiträgt, mit dem Hinweis auf ein mit geleistetem Militärdienst positiv korreliertes Erwerbsprofil. Diese These entkräften Bauer et al. (2012) mit einer empirischen Studie, die den durchaus vorhandenen positiven Einkommenseffekt von ehemaligen Wehrdienstleistenden auf einen einfachen Selektionseffekt zurückführen kann. Die erfolgreiche Musterung der Rekruten stellt eine positive Selektion dar. Entgegen dem populären Narrativ des Militärs als guter Schule fürs Leben lassen sich sogar schädliche Effekt empirisch nachweisen. Der Militärdienst hat in den 1990er Jahren ursächlich zu mehr Kriminalität in Schweden geführt (Hjalmarsson & Lindquist, 2019). Die kriminalitätsfördernde Wirkung lässt sich im Wesentlichen auf negative Effekte durch Kameraden während des Dienstes zurückführen.
Im Übrigen: Schon Adam Smith hat auf die ökonomischen Kosten eines Wehrdienstes verwiesen (Poutvaara & Wagener, 2007). Denn ein militärischer Zwangsdienst aller Bürger vernachlässigt das Prinzip des komparativen Vorteils. Es macht wenig Sinn, einen hochproduktiven und teuer ausgebildeten Mediziner jahrelang zum Dienst in einem Wachbatallion einzuteilen. Poutvaara & Wagener (2007) entkräften auch das Argument, wonach Wehrdienstleistende auf Grund ihrer eher symbolischen Entlohnung für die Armee billige Arbeitskräfte sind. Volkswirtschaftlich stellt nicht der gesetzlich erzwungene Niedriglohn die Arbeitskosten dar. Die wahren volkswirtschaftlichen Kosten im Sinne von Opportunitätskosten – also der entgangene Lohn des Mediziners – sind die relevanten Vergleichsgrößen. Wie eine kürzlich erschienene Studie des ifo Instituts zeigt, könnte die Wiedereinführung der Wehrpflicht die deutsche Volkswirtschaft bis zu 70 Mrd. Euro kosten (Adema et al., 2024).
Zudem: Wehrdienstleistende sind in ihrer militärischen Leistungsfähigkeit kaum vergleichbar mit gut ausgebildeten Berufssoldaten. Der Wehrdienst wirkt unter finanzwissenschaftlicher Perspektive wie eine spezifische, auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe fallende Steuer. Dabei entstehen – über die Steuer hinaus – erhebliche Zusatzkosten durch individuelle Versuche, dem Wehrdienst zu entgehen, bis hin zu illegalen Aktivitäten, etwa Bestechungen etc., die beispielsweise in Russland dazu führten, dass in der Vergangenheit zeitweise mehr als 90 % der wehrfähigen jungen Russen dem Wehrdienst entkamen (Poutvaara & Wagener, 2007). Man denke auch an Wehrdienstflucht- und Migrationsbewegungen, wie sie in den USA im Vietnamkrieg zu beobachten waren und in den Medien aktuell auch für junge Ukrainer thematisiert werden.
Soldatensparender technischer Fortschritt?
Es lohnt sich auch, über Zukunftsperspektiven zu reflektieren, die Soldaten überflüssig machen oder zumindest das menschliche Leid durch Gefallene und Verwundete in konventionellen Kriegen verringern könnten, wenn sich keine Menschen mehr in Gefahr bringen müssen, um das gegnerische Kriegsgerät zu stoppen oder zu zerstören. Nach der Einschätzung von Militärexperten steht die Technologie am Rande einer militärischen Revolution, die entlang verschiedener Dimensionen breit diskutiert wird (z. B. Altmann & Sauer, 2017). Manches mag gegenwärtig noch nach Science-Fiction klingen, aber unbemannte Drohnen sind bereits Realität, die Entwicklungen in der Robotik sind stürmisch, genauso wie die Entwicklungen im Bereich autonomer Fortbewegung von Fahrzeugen. Es erscheint angesichts dieser Entwicklung als ein Anachronismus, eine Wehrpflicht wiederzubeleben, nur um genügend Soldaten in der Reserve zu haben, falls das bestehende Heer in den ersten Angriffswellen aufgerieben bzw. getötet würde.
Fazit
In der aktuellen sicherheitspolitischen Diskussion bleibt weitgehend die Ansicht unwidersprochen, dass die sicherheitspolitischen Erfordernisse eine Aufstockung der Verteidigungsetats der einzelnen NATO-Mitglieder und die Wiedereinführung der Wehrpflicht in Deutschland erfordern würden. Die Zusammenhänge „Mehr Geld = Mehr Sicherheit“ und „Mehr Soldaten = Mehr Sicherheit“ sind bei genauerer Betrachtung nicht so eindeutig. Vor massiven Budgeterhöhungen sollte deshalb die Frage stehen, ob man das vorhandene Budget nicht zunächst effektiver nutzen sollte, ehe – auf der Basis eines sorgfältig ausgearbeiteten und europäisch abgesprochenen Planes – die Ausgaben gesteigert werden. Durch eine stringentere Struktur der europäischen Verteidigung dürfte man dem Ziel von mehr Sicherheit schneller und preiswerter näherkommen.
Dem scheint die politische Zersplitterung Europas entgegenzustehen. Allerdings sind aktuell Katalysatoren am Werk, die eine erfolgreiche Überwindung der Zersplitterung ermöglichen können. Die Voraussetzungen für eine strukturelle Reform der europäischen Verteidigungskräfte sind daher nicht schlecht.
Bei der Frage „make or buy“ rücken wir wünschenswerte industriepolitische und makroökonomische Auswirkungen der „make“-Strategie in den Fokus. Sie kann direkte Spillovers in den nicht-militärischen Bereich haben, sie kann dort Forschung und Entwicklung induzieren, sie kann sich produktivitätserhöhend und wachstumsfördernd auswirken. Und durch den Aufbau einer exportorientierten Rüstungsindustrie kann sie Kapazitäten aufbauen und vorhalten, wie sie im Verteidigungsfall erforderlich sind und industriepolitisch vorteilhafte Zweitrundeneffekte auslösen. Die Abwägung zwischen „make“ und „buy“ sollte auch in Hinblick auf die Notwendigkeit strategischer Unabhängigkeit gesehen werden, die angesichts der Abschwächung der Glaubwürdigkeit des US-amerikanischen Verteidigungsschutzschirms dringlicher wird.
Zuletzt: Die Notwendigkeit eines Reserveheers von Soldaten ist im internationalen Vergleich fragwürdig. Der so oft behauptete positive Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und der Verankerung demokratischer Werte hält empirischen Analysen nicht stand. Und die Wehrpflicht hat zudem sehr erhebliche Opportunitätskosten.
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