Die Wirklichkeit der Deutschen Bahn (DB) unterscheidet sich beträchtlich von den Erwartungen, mit denen sie 1994 gestartet ist, von dem, was sich heute im Rahmen der Verkehrswende abzeichnet: zunehmende Unpünktlichkeit und Zugausfälle, veraltete Schieneninfrastruktur, defizitäres und vernachlässigtes Kerngeschäft. Kay Scheller, Präsident des Bundesrechnungshofes, hat im September 2023 festgestellt: „Alleineigentümer Bund ist zu passiv und vernachlässigt das Gemeinwohl“. Wie kann es sein, dass ein öffentliches Unternehmen so unzureichende Leistungen erbringt? Ein Blick auf das Governance-Modell der DB kann zum Verständnis beitragen: Wer bestimmt die Unternehmenspolitik der Deutschen Bahn, wer definiert ihre strategischen Ziele?
Die DB AG ist seit 1994 eine privatrechtlich organisierte Eisenbahngesellschaft des Bundes. Sie startete entschuldet als staatliches Unternehmen in der Rechtsform einer Aktiengesellschaft. Daher hat sie als Organe einen geschäftsführenden Vorstand und einen Aufsichtsrat. Letzterer setzt sich aus 20 Personen zusammen, je zehn des Anteilseigners (des Bundes) und der Arbeitnehmervertreter. Konventionell gesehen ergeben die Regelungen der Bahnreform folgende Verantwortungsbereiche: Die Politik bestimmt die strategischen Ziele, das Management setzt diese Ziele unter Nutzung bester Alternativen um. Der Aufsichtsrat überwacht die Umsetzung der Ziele anhand wichtiger Leistungskennzahlen und das Bahn-Management wird im Falle der Zielerreichung mit Boni entlohnt. Ökonomisch folgt aus dieser Sicht, dass die Manager das „Kontrollrecht am Residuum“ (Milgrom und Roberts) haben und mithin bei der Zielerreichung kostenminimierend vorgehen. Dafür erhalten sie hohe Bonuszahlungen. Darüber hinaus wäre die Regulierung für die Garantie von Wettbewerb und Diskriminierungsfreiheit zuständig.
Was aber geschieht, wenn sich Politiker (von den zehn Vertretern des Anteilseigners sind momentan sieben Personen der Politik bzw. Ministerien zuzuordnen, drei Personen sind externe Berater) und Arbeitnehmervertreter (die zehn Vertreter der Arbeitnehmer sind Betriebsräte und Gewerkschaftsvertreter) die Kontrollrechte über das Residuum aneignen? Angenommen, es gäbe im Aufsichtsrat eine Koalition von Politik und Gewerkschaft, die keine „originären“ strategischen Ziele hinsichtlich der quantitativen und qualitativen Erbringung der Kernleistungen der Bahn (Schienennah-, Schienenfern- und Schienengüterverkehr) formuliert. Stattdessen wäre diese Koalition hauptsächlich an der Höhe der (Über-)Beschäftigung und der Entlohnung der Beschäftigten interessiert. Regelmäßige Streiks als Folge gescheiterter Tarifverhandlungen zeigen, wie stark die Position der Gewerkschaften gegenüber dem Anteilseigner Bund tatsächlich ist.
Als öffentliches Unternehmen hat die Bahn nur eine weiche Budgetbeschränkung. Daher werden die erforderlichen finanziellen Mittel in Form von Subventionen bereitgestellt. Bei einer solchen Koalition muss das Management die Beschäftigungsziele umsetzen und den Bahnbetrieb operativ sichern. Die Entlohnung des Managements basiert dann in erster Linie an Erfolgszielen, die sich nicht (oder nur sekundär) an den Kernleistungen der Bahn orientieren. Diese neue Perspektive auf das Unternehmen Deutsche Bahn AG und ihre reale Unternehmensführung unterscheidet sich deutlich von der beabsichtigten. Aktuell bleibt dem Management die Aufgabe, die unproduktive (Über-)Beschäftigung umzusetzen; dafür erhält es trotz schlechter Betriebsergebnisse auch noch hohe Bonuszahlungen. Die Kritik am Management der Bahn sowie den Bonuszahlungen trifft aus dieser Sicht die Falschen und geht ins Leere – schließlich hat der Aufsichtsrat den Bonuszahlungen zugestimmt. Zudem lenkt diese Kritik den Blick von denjenigen ab, welche die Kontrollrechte über das Residuum innehaben. Hohe Beschäftigung einerseits, schlechte Leistungen im Kernbereich und Reformstau andererseits passen in dieses Bild. Verkehrsminister und Management sind in dieser Perspektive machtlos.
Ist diese Sichtweise korrekt, dann liegt bezüglich der Bahn-Governance Politikversagen vor. Die Interessen der Bahnkunden und der Bundesbürger (das Gemeinwohl) bleiben dabei auf der Strecke. Um das Politikversagen zu korrigieren, müsste daher die Zusammensetzung des Aufsichtsrats geändert werden. Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, zusätzlich zu den beiden Aufsichtsratsparteien eine dritte einzuführen, z. B. Vertreter der Wettbewerber. Dabei wären dann den Gruppen jeweils ein Drittel der Aufsichtsratsposten zuzuordnen. Gleichzeitig könnte der Aufsichtsrat von 20 auf 18 Mitglieder verkleinert werden. Darüber hinaus müsste die satzungsgemäße Zielsetzung der Bahn stärker beschränkt und konkretisiert werden, und zwar ausschließlich auf den Kernleistungsbereich der Bahn. Subventionen wären nur noch für Neuinvestitionen in die Schienen-, Technik- und Bahnhofsinfrastruktur zu gewähren, während die Ersatzinvestitionen mit bahneigenen Mitteln finanziert werden müssten. Zudem wäre es hilfreich, der Bahn auch Insolvenz zu ermöglichen, um die Budgetbeschränkung zu härten.