Das Erstarken (rechts-)populistischer Parteien wird häufig in den Kontext der aktuellen Verteilungssituation gestellt. Eine große oder wahlweise steigende Ungleichheit gepaart mit einem ausgeprägten Ungerechtigkeitsgefühl wird dabei regelmäßig als ursächlich für den Stimmenzuwachs an den politischen Rändern portraitiert. Zurückgewinnen könne man die rechtspopulistischen Wählerschaften folglich mit einer Ausweitung des sozialpolitischen Angebots.
Auf der einen Seite zeigt sich diese Argumentation in einer wiederkehrenden medialen Setzung. Zum Umfragehoch der AfD zum Jahresbeginn 2024 hieß es etwa: „Wer die AfD bekämpfen will, muss soziale Politik machen“ (Diez, 2024). Eine Kommentierung der starken Wahlergebnisse der AfD bei der vergangenen Europawahl schlägt in dieselbe Kerbe: „Der Erfolg der AfD zeigt: Die Demokratie ist in Gefahr. Die Politik muss sich wieder um soziale Gerechtigkeit bemühen“ (Müller, 2024). Auf höchster politischer Ebene hatte sich Bundeskanzler Olaf Scholz bereits auf dem SPD-Parteitag im Dezember 2023 ganz ähnlich eingelassen: Menschen entwickelten rechtsradikales Gedankengut aus einer ökonomischen Prekarität heraus und dem sei sozialpolitisch entgegenzuwirken, so insinuierte der SPD-Parteichef (SPD, 2023).
Tatsächlich geben in einer Befragung im Rahmen des ARD-DeutschlandTRENDs fast neun von zehn Personen in der AfD-Anhängerschaft an, den Wohlstand in Deutschland nicht für gerecht verteilt zu halten (infratest dimap, 2023). Nur innerhalb der Grünen-Anhängerschaft fällt in dieser Befragung das Ungerechtigkeitsempfinden noch stärker aus. Auch eine IW-Personenbefragung im Mai 2024 fördert zu Tage, dass die Zufriedenheit mit der Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit unter Anhängern der AfD vergleichsweise gering ausfällt.1 Mit einem Anteil von knapp 47 % machen sich zudem überdurchschnittlich viele AfD-Anhänger große Sorgen um die soziale Ungleichheit in Deutschland. Während dieser Anteil jedoch nur 6 Prozentpunkte höher liegt als in der Gesamtbevölkerung, fällt das rechtsaußen Lager in vielen anderen politischen Konfliktlinien deutlich weiter vom Durchschnitt ab. Der Anteil mit großen Sorgen um die Zuwanderung liegt unter den AfD-Anhängern beispielsweise um knapp 40 Prozentpunkte höher als in der Gesamtbevölkerung, bei den Bedenken um die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung liegt die Differenz immerhin bei 28 Prozentpunkten. Mit Ausnahme der Sorgen um die Folgen des Klimawandels ist die AfD-Anhängerschaft in allen größeren Politikfeldern besorgter als der Rest der Bevölkerung.
Vor dem Hintergrund dieses Stimmungsbilds erscheint die Vermutung diskutabel, die soziale Ungleichheit sei der treibende Faktor für die AfD-Wahlentscheide. Mittels einer Einordnung der Entwicklung und des Niveaus der Ungleichheit in Deutschland soll der Beitrag nachspüren, ob dieser Zusammenhang plausibel ist. Durch einen Blick auf die Umverteilungspräferenzen soll zudem der Frage nachgegangen werden, inwieweit etwa durch eine sozialpolitische Reduktion der Ungleichheit mit einer rückläufigen Zustimmung zur AfD zu rechnen ist.
Ungleichheitsentwicklung in Deutschland
Mit Blick auf die Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland lässt sich zunächst feststellen, dass die Verteilung der verfügbaren Einkommen – und die daraus berechneten Ungleichheitsmaße – für die Jahre seit der Coronapandemie kaum empirisch belastbar nachgezeichnet werden kann. Durch die Kontakt-Restriktionen rund um die Pandemie waren die gängigen persönlichen Befragungsinterviews zwischenzeitlich nicht möglich. Darüber hinaus wurde – unabhängig vom Pandemiegeschehen – die Erhebung des Mikrozensus zwischen den Jahren 2019 und 2020 neu aufgestellt. In der Folge werden die Zeitreihen des Mikrozensus vor bzw. ab 2020 gesondert ausgewiesen. Das Statistische Bundesamt empfiehlt zudem, die Erhebungsergebnisse des Jahres 2020 nicht für Zeitvergleiche mit nachfolgenden Jahren heranzuziehen. Im Zuge der Neukonzeption wurde auch der deutsche Teil der europaweiten Statistik über Einkommen und Lebensbedingungen (SILC) in den Mikrozensus integriert. Entsprechend kennzeichnet sich auch die Entwicklung der Ungleichheitskennziffern des EU-SILC durch einen Zeitreihenbruch.2 Schließlich war auch das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) von Stichprobenveränderungen betroffen, die eine Interpretation der Ungleichheitsentwicklung erschweren. Die Entwicklung der Einkommensungleichheit zwischen 2018 und 2019 wird durch die Ergänzung einer Hochvermögendenstichprobe beeinflusst (SVR, 2023, Ziffer 288); die Entwicklung zwischen 2019 und dem letzten aktuell verfügbaren Jahr 2020 durch coronabedingte Einschränkungen sowie durch den Wechsel des Befragungsinstituts und einem damit verbundenen starken Stichprobenrückgang.
Vor dem Hintergrund der zahlreichen Stichprobenveränderungen lässt sich nicht im Detail feststellen, wie sich die Einkommensungleichheit in Deutschland seit der Coronapandemie entwickelt hat. Die aktuellen Datenpunkte deuten jedoch daraufhin, dass sich das Gefüge der konventionell nominal gemessenen Einkommensverteilung nicht wesentlich verschoben hat: Im Mikrozensus liegt der gerundet ausgewiesene Gini-Koeffizient zwischen 2020 und 2023 in allen Jahren bei 0,30, auf Basis des EU-SILC liegt er im Einkommensjahr 2022 bei 0,294 und damit etwas niedriger als im Jahr 2019 (0,305). Für den Zeitraum zwischen 2005 und 2019 weisen sowohl der Mikrozensus als auch das SOEP einen Gini-Koeffizienten von rund 0,29 aus. Im Vergleich zu dem merklichen Ungleichheitsanstieg zwischen dem Ende der 1990er Jahre und dem Jahr 2005 (Anstieg des Gini-Koeffizienten von 0,25 auf 0,29) zeichnete sich der Folgezeitraum durch ein bemerkenswert stabiles Niveau der Einkommensungleichheit aus. Wird darüber hinaus die zeitliche Entwicklung der Ungleichheit der privaten Nettovermögen in den Blick genommen, zeigt sich auch bei den daraus berechneten Verteilungsmaßen seit 2007/2008 ein hohes Maß an Stabilität (Stockhausen & Niehues, 2019). Für den Zeitraum zwischen 2014 und 2021 deutet die Haushaltsbefragung der Deutschen Bundesbank (2023) auf einen leichten Rückgang der Vermögensungleichheit.
Vermögensungleichheit und rechtspopulistische Wahlerfolge in Europa
Die weitestgehend stabile Entwicklung der Ungleichheitskennziffern legt nahe, dass diese – zumindest so wie sie typischerweise gemessen werden – kaum einen wesentlichen Erklärungsfaktor für das Erstarken der AfD darstellen. Diese war 2013 gegründet worden und verzeichnete in den vergangenen zehn Jahren signifikante Unterschiede in ihren Zustimmungswerten und Wahlerfolgen – und dass trotz stabiler Ungleichheitskennziffern.
Denkbar ist allerdings, dass weniger die Entwicklung, sondern vielmehr ein auffällig hohes Niveau der Ungleichheit in Deutschland dem Rechtspopulismus eine politische Opportunitätsstruktur bietet, das dieser für sich zu nutzen weiß. Das Niveau der Einkommensungleichheit fällt in Deutschland etwas niedriger aus als im Vergleich der EU- oder Industriestaaten und erweist sich somit als unauffällig. Ungleichheitskritiker verweisen demgegenüber häufig auf die im internationalen Vergleich ausgeprägten Unwuchten der hiesigen Vermögensverteilung und stellen diesen empirischen Befund in einen Zusammenhang mit dem Erstarken des Rechtspopulismus. Tatsächlich lag der Gini-Koeffizient der Nettovermögen in Deutschland im Jahr 2021 unter der betrachteten Auswahl an EU-Ländern am höchsten (EZB, 2023, S. 58).
Wenn sich allein aus der Beobachtung einer im internationalen Vergleich hohen (Vermögens-)Ungleichheit ein wesentlicher Erklärungsfaktor für (rechts-)populistisches Wahlverhalten ableiten ließe, würde man erwarten, dass Menschen in Ländern mit niedrigen Ungleichheitskennziffern seltener für solche Parteien stimmen. Umgekehrt führe die radikale Rechte dort ihre größten Erfolge ein, wo die Ungleichheit am höchsten ausfiele. Abbildung 1 illustriert den bivariaten Zusammenhang zwischen der Höhe der Vermögensungleichheit und dem Abschneiden radikal rechter Parteien bei der Europawahl 2024. Die Punktewolke illustriert eindrücklich den fehlenden Zusammenhang zwischen den beiden Größen. Der Korrelationskoeffizient liegt bei -0,18 und ist statistisch nicht signifikant.3
Abbildung 1
Vermögensungleichheit und rechtes Wahlverhalten im EU-Vergleich
Gini-Koeffizient der privaten Nettovermögen im Jahr 2022, Anteil radikal rechter Parteien bei der Europawahl 2024

Einordnung radikal rechter Parteien gemäß The PopuList (Version 3.0) sowie eigener Recherche (quantitativ bedeutende Ergänzungen sind die ultranationalistische Republika-Bewegung in der Slowakei, die Dänemarksdemokraten in Dänemark sowie „Die Party ist vorbei“ (SALF) in Spanien). Die horizontale und vertikale Linie stellen jeweils die ungewichteten Durchschnitte der Variablen dar.
Quelle: Credit Suisse Research Institute (2022), Europäisches Parlament, Rooduijn et al. (2023), eigene Darstellung.
Bei der vergangenen Europawahl haben in Frankreich anteilig deutlich mehr Menschen einer radikalen rechten Partei ihre Stimme gegeben, als dies in Deutschland der Fall war. Und dass, obwohl die Höhe der Einkommensungleichheit in Frankreich mit der in Deutschland vergleichbar, die Sozialleistungsquote höher und die Vermögensungleichheit deutlich geringer ausfällt. Ähnliches gilt für Belgien, das sich darüber hinaus durch eine merklich niedrigere Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient verfügbarer Einkommen in Höhe von 0,242) auszeichnet.4 Wichtig für das Verständnis der politischen Mobilisierung ist zudem, dass die wirtschaftspolitischen Angebote der europäischen Rechtspopulisten stark auseinanderfallen. Während sich der französische Rassemblement National und der belgische Vlaams Belang für mehr Umverteilung positionieren, spricht sich die spanische Vox, die italienische Lega sowie die AfD dezidiert dagegen aus (Jolly et al., 2022).
Mit Blick auf den Wahlerfolg radikaler rechter Parteien scheint auf den ersten Blick die Slowakei besser ins Bild zu passen. Mit einem Gini-Koeffizienten der Vermögensungleichheit in Höhe von 0,505 und einem Gini-Koeffizienten der verfügbaren Einkommen in Höhe von 0,216 zeichnet sich das Land durch die größte materielle Gleichverteilung unter allen EU-Mitgliedstaaten aus. Gleichzeitig schneidet das radikal rechte Lager in der Slowakei unterdurchschnittlich ab. Gefeit vor populistischem Wahlverhalten ist das Land dadurch hingegen keineswegs. Schließlich verbuchte die nationalistische und migrationskritische aber linkspopulistische Smer-Partei um den umstrittenen Ministerpräsidenten Robert Fico starke Erfolge. Die Partei positioniert sich wirtschaftspolitisch links, nutzt dabei aber eine stark wohlfahrtschauvinistisch eingefärbte Rhetorik, die insbesondere auf eine Abwertung der rumänischstämmigen Bevölkerung setzt. Zuletzt hatte die Partei außerdem federführend darauf hingewirkt, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einzuschränken sowie eine stärkere Kontrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen angestrengt.
Der fehlende bivariate Zusammenhang schließt keinesfalls aus, dass nicht (auch) Vermögens- oder Einkommensungleichheiten einen Einfluss auf das Wahlverhalten an den politischen Rändern haben. Zur Analyse der jeweiligen politischen Mobilisierungsstrategien müssen jedoch für jedes Land die vielfältigen länderspezifischen kulturellen, institutionellen und historischen Erklärungsfaktoren herangezogen werden. Entsprechend kann eine sozialpolitische Mobilisierung zum Abfedern der ökonomischen Ungleichheiten in einem Land die rechtspopulistische Partei Stimmen kosten. In einem anderen Land könnte eine solche Strategie hingegen ins Leere laufen. Auch bei der Einordnung der Höhe der Vermögensungleichheit in Deutschland gilt es, länderspezifische Faktoren zu beachten.
Zum einen verfügt Deutschland über eine im EU-Vergleich überdurchschnittlich stark ausgeprägte sozialstaatliche Absicherung. Beim Blick auf die gesetzliche Rentenversicherung und die Differenzierung zwischen Arbeitnehmern und Selbstständigen wird die Verbindung zwischen Sozialstaat und Vermögensverteilung besonders deutlich. Bei Selbstständigen erhöht die private Alterssicherung das private Nettovermögen, die gesetzlichen Rentenansprüche der Arbeitnehmer werden bei der Ungleichheit der Vermögensverteilung typischerweise nicht berücksichtigt. Werden Barwerte der Rentenansprüche einberechnet, reduziert sich die Ungleichverteilung der privaten Vermögen in Deutschland um rund 22 % (Stockhausen et al., 2021). Die Höhe der Vermögensverteilung ist aber auch vor dem Hintergrund weiterer Aspekte der sozialstaatlichen Absicherung einzuordnen. Werden Risiken wie ein Arbeitsplatzverlust, Krankheit oder krisenbedingte Einkommensschwankungen stark durch sozialstaatliche Absicherung abgefedert, fällt die Notwendigkeit privater Rücklagen geringer aus als in Staaten ohne ein vergleichbares Sicherungsnetz. Gleichzeitig geht die umfassende sozialstaatliche Absicherung in Deutschland mit einer vergleichsweise hohen Abgaben- und Steuerlast einher, was wiederum die finanziellen Spielräume für privaten Vermögensaufbau in der Mitte der Bevölkerung beschränkt. In dieses Muster passt auch die vergleichsweise hohe Vermögenskonzentration, geringe Einkommensungleichheit und umfassende sozialstaatliche Absicherung der skandinavischen Staaten.
Statusängste und hohe Verunsicherung am rechten Rand
Wenngleich die Beobachtung eines unveränderten bis leicht rückläufigen Niveaus der Vermögensungleichheit darauf hindeutet, dass deren aggregierte Entwicklung nicht den Haupttreiber für das Erstarken der AfD darstellt, lassen sich auf der Mikroebene spezifische sozioökonomische Charakteristika und Sorgen der AfD-Anhängerschaft beobachten. Zum einen verfügen Menschen mit AfD-Wahlpräferenzen seltener über finanzielle Rücklagen.5 Diese können wirtschaftliche Verunsicherung und Ängste vor einem Statusverlust reduzieren. Des Weiteren empfindet die AfD-Anhängerschaft – wie bereits zitiert – den Wohlstand in Deutschland als äußerst ungerecht verteilt und sorgt sich um die soziale Ungleichheit.
Wenngleich das Ungerechtigkeitsempfinden der AfD-Anhänger teilweise heraussticht, empfinden in Umfragen regelmäßig auch drei von vier oder mehr Bundesbürger insgesamt die sozialen Unterschiede in Deutschland als ungerecht und sehen mehrheitlich den Staat in der Verantwortung, die Einkommensunterschiede zu verringern (Niehues, 2024).6 Auch in der IW-Personenbefragung im Mai 2024 drückt die Mehrheit der Befragten eine Präferenz dafür aus, der Staat solle seine Umverteilungspolitik ausweiten (vgl. Abbildung 2). Nicht jedoch unter den AfD-Anhängern: Während die Anhängerschaft des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) sich überdurchschnittlich häufig für eine Ausweitung der Umverteilungspolitik ausspricht, wünscht sich eine Mehrheit der AfD-Anhängerschaft, der Staat solle seine Umverteilungspolitik eher verringern. Tatsächlich sehen die rechtspopulistischen Sympathisanten die Umverteilungspolitik sogar kritischer als die FDP-Anhängerschaft.
Abbildung 2
Umverteilungspräferenzen nach Sonntagsfrage
Sollte der Staat seine Umverteilungspolitik verringern (0), beibehalten (50) oder ausweiten (100), Quartile der Eingabe gemäß Schieberegler, 2024

Einschätzungen zu der Frage „Hinsichtlich der sozialen Ungleichheit gibt es unterschiedliche Einschätzungen, wie viel der deutsche Staat tun sollte. Wie würden Sie Ihre Position einordnen? Das Box-Plot zeigt den Median, das untere und das obere Quartil (25 %- und 75 %-Quantil) sowie den unteren und oberen „Whisker”, die hier durch -/+1,5*Interquartilsabstand abgebildet werden, Parteipräferenz nach Sonntagsfrage.
Quelle: IW-Personenbefragung Frühjahr 2024 im Online-Access Panel von Bilendi & respondi (N = 5.350).
Da sich die AfD-Befürworter aber beispielsweise in der Energiepreiskrise für höhere Transferforderungen aussprechen (Bergmann et al., 2023), bildet die Präferenzordnung in der Gesamtschau keine ganzheitliche Ablehnung von Sozialpolitik. Vielmehr spiegelt sich darin ein selektives Verständnis des Wohlfahrtsstaats, bei dem insbesondere Menschen aus prekären sozialen Schichten und Migranten als nicht legitime Empfänger staatlicher Leistungen markiert bleiben. Die sich daraus ergebende kritische Haltung zu vielen staatlichen Umverteilungspolitiken fügt sich in die Befunde ein, dass die AfD-Sympathisanten besonders häufig mit ihren Präferenzen denen der wirtschaftsliberalen FDP-Anhängerschaft ähneln (Bergmann & Diermeier, 2024).
Pessimismus entgegenwirken
Die Ablehnung vieler umverteilender Sozialpolitiken, wie etwa dem Bürgergeld oder der Kindergrundsicherung, durch die rechtspopulistische Partei wird vielfach als „AfD-Populismus“ abgetan. Gemäß dieser Argumentation verkennt die AfD-Anhängerschaft die Wirkungen der wirtschaftspolitischen Programmatik der AfD, die ihr nur bedingt zugutekommt und der zugerechnet wird, die Ungleichheit in Deutschland zu erhöhen. Dabei wird ignoriert, dass der Blick der AfD-Wählerschaft auf den Sozialstaat fundamental durch Wohlfahrtschauvinismus, Statusorientierung sowie einer selektiv ausgerichteten Präferenz für Leistungsgerechtigkeit geprägt ist. Tatsächlich bedient die Programmatik der Partei die Präferenzen ihrer Sympathisanten auch sozialpolitisch treffsicher (Diermeier, 2020). Dem Reflex etablierter Parteien, AfD-Anhänger mit pauschalen Umverteilungsangeboten an soziodemografisch prekäre Bevölkerungsschichten zurückgewinnen zu wollen, kann demnach keine guten Erfolgsaussichten bescheinigt werden.
Darüber hinaus bleibt bei der These, die bestehende Ungleichheit habe einen Einfluss auf die gesellschaftspolitische Polarisierung in Deutschland und das Auseinanderdriften des Parteiensystems, ganz grundsätzlich offen, inwieweit hierfür die tatsächliche Entwicklung der Einkommens- oder Vermögenssituation überhaupt eine Rolle spielt. In einer Erhebung im Auftrag des SPIEGEL (Diekmann, 2020) im Frühjahr 2020 haben fast drei von vier Befragten angegeben, die Ungleichheit der Einkommen in Deutschland habe in den letzten fünf Jahren „eindeutig“ oder „eher“ zugenommen, wenngleich sich die statistischen Kennziffern der Einkommens- und Vermögensungleichheit während dieses Zeitraums als bemerkenswert stabil erwiesen haben. Es liegt nahe, dass – wenn überhaupt – weniger die tatsächliche Ungleichheit und verteilungspolitische Wirkung umgesetzter sozialpolitischer Reformen auf die gesellschaftliche Polarisierung wirken, als vielmehr wie diese in der Bevölkerung wahrgenommen werden.
Ganz besonders dürfte dies für die AfD-Anhängerschaft gelten, die für pessimistische Einschätzungen besonders empfänglich erscheint, und in der viele sozioökonomische Kennziffern, wie beispielsweise die Armutssituation von Rentnern oder die Arbeitsmarktpartizipation von Menschen mit ausländischer Staatsangehörigkeit, deutlich zu negativ eingeschätzt werden (Niehues et al., 2021). Nur wenn positive Befunde wie eine bemerkenswert stabile Ungleichheit – bei gleichzeitig gestiegener Zuwanderung, Erfolge auf dem Arbeitsmarkt sowie bei der Arbeitsmarktpartizipation von Migranten medial und politisch rezipiert werden, können sie überhaupt erst ihre potenziell gesellschaftspolitisch stabilisierende Wirkung entfalten.
- 1 Für eine ausführliche Beschreibung und Einordnung der Methodik der IW-Personenbefragung unter 5.350 Befragten im Online-Access Panel von Bilendi & respondi siehe Diermeier et al. (2024).
- 2 Da sich die Einkommen im EU-SILC auf das Vorjahr der Erhebung beziehen, fällt der Zeitreihenbruch hier zwischen die Einkommen der Jahre 2018 und 2019, was in Eurostat den Erhebungsjahren 2019 und 2020 zugeordnet wird.
- 3 Ein fehlender Zusammenhang mit der Höhe der Vermögensungleichheit zeigt sich ebenfalls, wenn links- und rechtspopulistische Wahlerfolge bei der Europawahl 2024 berücksichtigt werden.
- 4 Die zitierten Gini-Koeffizienten der Einkommensungleichheit gehen jeweils auf Eurostat zurück (auf Basis des EU-SILC) und beziehen sich auf das Einkommensjahr 2022.
- 5 In der IW-Personenbefragung 2024 geben 33 % der AfD-Anhängerschaft an, über keine finanziellen Rücklagen zu verfügen, um unerwartete Ausgaben zu bestreiten – gegenüber 23 % in der Gesamtbevölkerung. Ihr Eigentumsanteil liegt hingegen auf ähnlichem Niveau wie in der Gesamtbevölkerung.
- 6 Beim Blick auf konkrete präferierte Politiken zeigt sich wiederum, dass weniger zielgerichtete Programme an Bedürftige bevorzugt werden, sondern vor allem Maßnahmen, von denen insbesondere auch die (obere) Mitte der Gesellschaft profitiert (Niehues, 2024).
Literatur
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