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Dieser Beitrag ist Teil von Verteilungskonflikte: Wie wird der gesellschaftliche Zusammenhalt gesichert?

Die seit geraumer Zeit wachsende sozioökonomische Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die repräsentative Demokratie. Damit die gegenüber der sozioökonomischen Ungleichheit noch immer herrschende Gleichgültigkeit durchbrochen und mehr Gleichheit möglich wird, muss vielen Menschen bewusst werden, dass es bei einer künftigen Rückverteilung des Reichtums an jene Menschen, die ihn geschaffen haben, nicht bloß um die Verwirklichung von mehr sozialer Gerechtigkeit, sondern auch um die Bewahrung des sozialen Friedens, die Verhinderung zentrifugaler Tendenzen und die Schwächung antidemokratischer Kräfte geht.

Haupterscheinungsformen der Ungleichheit

Das bestehende Wirtschaftssystem basiert auf rechtlicher Gleichheit, aber materieller Ungleichheit, die es nicht bloß ständig reproduziert, sondern die sich unter dem Einfluss des Neoliberalismus, der sie im Rahmen seines Gerechtigkeitsverständnisses und des meritokratischen Mythos legitimiert, im Zeitverlauf geradezu potenziert. Einerseits besitzen hierzulande rund 40 % der Bevölkerung überhaupt kein (nennenswertes) Vermögen (Fratzscher, 2016, S. 43), wodurch sie spätestens in einer Krisensituation wie der COVID-19-Pandemie, der Energiepreisexplosion im Gefolge des Ukrainekrieges und der Inflation unter massiven finanziellen Druck geraten. Andererseits konzentriert sich das Privatvermögen so stark in wenigen Händen, dass die fünf reichsten deutschen Unternehmerfamilien (Albrecht/Heister, Boehringer/von Baumbach, Kühne, Quandt/Klatten und Schwarz) zusammen etwa 250 Mrd. Euro und damit mehr besitzen als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d. h. weit über 40 Mio. Menschen.1 Weil sich die materielle Ungleichheit nicht darauf beschränkt, dass die Gesellschafts­mitglieder unterschiedlich viel besitzen oder unterschiedlich hohe Einkommen haben, hinterlässt sie fast in sämtlichen Lebensbereichen deutliche Spuren. Das gilt etwa für die Bildung, die Gesundheit und das Wohnen – heute vielleicht die Soziale Frage in Deutschland schlechthin.

Wenn sich eine Gesellschaft in Arm und Reich spaltet, gehört ihr sozialräumlicher Zerfall zu den alarmierendsten Folgen, denn gravierende materielle Ungleichheit spiegelt sich auch in der Raum-, Stadt- und Regionalstruktur wider. Durch die Bundesrepublik verläuft ein Riss, der sie in wohlhabende und abgehängte Regionen, Kommunen und Stadtviertel teilt. Zu beobachten ist außerdem, was man eine sozioökonomische Sezessionsbewegung nennen kann: Die materiell Bessergestellten ziehen in luxuriöse und separierte Wohnviertel (Gated Communities), während die Einkommensschwachen, Geringverdiener:innen und Transferleistungs­bezieher:innen in die Hochhausviertel am Rand der Großstädte abgedrängt werden. Der gesellschaftliche Zusammenhalt schwindet, wenn Parallelgesellschaften entstehen, weil sich privilegierte Schichten in sogenannte Reichenghettos zurückziehen.

In einem sozioökonomisch polarisierten und sozialstrukturell fragmentierten Land wie der Bundesrepublik häufen sich die regionalen Disparitäten. Ost- und Westdeutschland, Süd- und Norddeutschland sowie Stadt und Land driften in einer für die Wohlstandsentwicklung, den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie gefährlichen Weise auseinander. Von der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“, die Art. 72 Abs. 2 Grundgesetz fordert, kann selbst dreieinhalb Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung keine Rede sein. Ein sozialräumlicher Ausgleich, wie ihn dieser „politische Leitbegriff“ vorsieht, der laut Kersten et al. (2019) ein „Verfassungsauftrag für öffentliches Handeln“ ist, hat bisher nicht stattgefunden: „Daseinsvorsorge und Infrastrukturen stehen nicht überall in angemessenem Umfang zur Verfügung, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Dies gilt nicht nur für den ländlichen Raum, sondern auch für viele großstädtische Quartiere, die unter Segregation leiden“ (Kersten et al., 2019, S. 4).

Da die Einkommens- und erst recht die Vermögensverteilung viel ungleicher ist als die Verteilung der Miethöhen, finden Personen, Familien und Haushalte mit geringem Einkommen oft keine für sie bezahlbaren Wohnungen, weder auf dem „freien Markt“ noch im Sozialwohnungssektor, wie der Berliner Gesellschaftswissenschaftler Peter Lohauß erklärt. „Deshalb verschärft der Wohnungsmarkt schon durch seine Preisstruktur die Einkommensungleichheit“ (Lohauß, 2019, S. 310). Über die Lage, Größe und Ausstattung der Wohnung bzw. des Eigenheims entscheidet die finanzielle Leistungsfähigkeit, was dazu führt, dass die Aufspaltung der urbanen Quartierswelt voranschreitet.

Schon länger wird die Arbeitskraft prekär Beschäftigter für die Unternehmer immer billiger, Grund und Boden, aber auch Wohnraum für die Normalverdiener:innen und Niedriglöhner:innen hingegen immer teurer. Während die Reallöhne lange stagnierten und zeitweilig ausgerechnet im unteren Bereich sogar sanken, stiegen Immobilienpreise und Mieten – jedenfalls in den Ballungsgebieten, bevorzugten Stadtlagen und Boomtowns der Bundesrepublik – stark an. Längst müssen manche Haushalte fast die Hälfte ihres Einkommens für Mietzahlungen aufwenden, was ihnen nur einen geringen Spielraum für Anschaffungen und andere notwendige Ausgaben lässt. Besserverdienende waren die Gewinner der geschilderten Entwicklung, wohingegen die steigenden Mieten insbesondere Geringverdiener:innen belasteten, die auch häufiger den Wohnort wechseln (müssen), weshalb sie Mietsteigerungen, die bei Neuvermietung am höchsten sind, besonders hart treffen (Lohauß, 2019, S. 311).

Aufgrund der Privatisierung und Finanzialisierung des Bodens wie der Immobilien hat die Belastung der meisten Haushalte durch die Wohnungsmiete seit der Jahrtausendwende erheblich zugenommen. Mieter:innen wurden gewissermaßen enteignet, weil sie in dieser Phase extrem niedriger Hypothekenzinsen keine adäquaten Einkommenszuwächse verzeichneten. „Wenn Miet- und Bodenpreise (trotz billigen Geldes) steigen, wird das Einkommen lohnabhängiger Mieterinnen und Mieter in Kapital- und Bodenvermögen transferiert. Das heißt, dass sich die Enteignung der Mieter insofern verschärft, als eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet“ (Hubeli, 2020, S. 100).

Bildungschancen sind in der Bundesrepublik ähnlich ungleich verteilt wie Einkommen, Vermögen und Wohneigentum. In einer Marktgesellschaft, wo das Geld so wichtig ist wie noch nie und so ungleich verteilt ist wie noch nie, entscheidet nicht zuletzt das Portemonnaie über die Bildungschancen der Menschen. Ob ein Kind nach dem Schulunterricht auf den Bolzplatz oder in die Ballettschule geht, hängt nicht bloß von seinem Geschlecht, sondern auch oder vielleicht sogar noch mehr vom Einkommen und vom sozialen Status seiner Eltern ab. Kinder reicher Eltern sind eindeutig im Vorteil, weshalb man in Abwandlung eines deutschen Sprichwortes sagen kann: Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg, sei es zum Abitur, zum Studium und/oder zur beruflichen Karriere (vgl. hierzu Butterwegge & Butterwegge, 2021, S. 105-126).

Wie stark die Wohnsituation den Bildungshorizont prägt, konnte man besonders gut während der COVID-19-Pandemie sehen: Lebte die Familie mit einem WLAN-Anschluss und digitalen Endgeräten für ihre jüngsten Mitglieder im Eigenheim, kamen die Lehrer:innen gewissermaßen ins heimische Kinderzimmer, wenn auch nur digital im Rahmen von regelmäßigen Videokonferenzen; lebte die Familie – nicht etwa der tollen Aussicht wegen – in der Zweizimmerwohnung eines Hochhauses am Stadtrand, kamen die Lehrer:innen teilweise gar nicht mehr zu den Kindern, weil diese aus Gründen der materiellen Unterprivilegierung, des Fehlens eines häuslichen Internetzugangs oder der technischen Inkompetenz ihrer Eltern außerstande waren, sich einzuschalten (vgl. ausführlicher Butterwegge, 2024a, S. 93-111).

Die ungleiche Verteilung der Güter, Einkommen und Vermögen bedingt unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten im Hinblick auf Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen, erst recht dann, wenn diese im Rahmen einer neoliberalen Privatisierungsoffensive von der Markt- bzw. Kaufkraft ihrer „Kunden“ abhängig gemacht werden. Hieraus resultiert eine strukturelle Bildungsbenachteiligung der Armen, die an den weiterführenden Schulen und an den Universitäten immer noch deutlich unterrepräsentiert sind. Der Dortmunder Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani spricht sogar von einer doppelten Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft: „Kinder aus unteren Schichten haben wesentlich geringere Bildungschancen. Gleichzeitig sind sie im Durchschnitt weniger kompetent in den für Schule wichtigen Bereichen. Sind sie aber genauso kompetent wie Kinder aus privilegierten Familien, haben sie dennoch schlechtere Chancen“ (El-Mafaalani, 2020, S. 76).

Ebenfalls sichtbar gemacht und verstärkt hat der pandemische Ausnahmezustand die gesundheitliche Ungleichheit zwischen wohlhabenden und armen Personengruppen. Dafür war allerdings nicht SARS-CoV-2 verantwortlich, sind vor dem neuartigen Coronavirus, was seine Infektiosität betrifft, doch alle Menschen gleich. Nur weil sich deren Gesundheitszustand, Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Einkommens-, Vermögens- und Wohnverhältnisse zum Teil erheblich voneinander unterscheiden, waren auch die Infektionsrisiken sehr ungleich auf die einzelnen Berufsgruppen, Klassen und Schichten der Bevölkerung verteilt.

Ungerecht ist also gar nicht das Virus, sondern die Klassengesellschaft, auf deren Mitglieder es trifft (Butterwegge, 2021). Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, Eigentumsstrukturen und Verteilungs­mechanismen bewirken, dass SARS-CoV-2 und COVID-19 den ohnehin bestehenden Trend zur sozioökonomischen Polarisierung unterstützen. Die schwere wirtschaftliche Verwerfungen erzeugende Pandemie ließ das Kardinalproblem der Bundesrepublik, die wachsende Ungleichheit, nicht bloß klarer ins öffentliche Bewusstsein treten, sondern wirkte auch als Katalysator des Polarisierungsprozesses, der dazu beitrug, sie weiter zu verschärfen. Wenn man so will, glich die Coronakrise einem Paternoster, der materiell Privilegierte nach oben und Unterprivilegierte zur selben Zeit nach unten beförderte. In entgegengesetzte Richtungen bewegten sich auch die Klassen und Schichten, was dem gesellschaftlichen Zusammenhalt schadete und eine Gefahr für die Demokratie darstellte.

Was gegen die wachsende Ungleichheit und für mehr soziale Gerechtigkeit spricht

Mehr sozioökonomische Gleichheit böte den Vorteil, das Leben der Menschen ohne hohes Einkommen bezahlbar zu machen. Christian Neuhäuser rechnet vor, dass viele Preise, etwa für Mietwohnungen, Kleidung und Nahrungsmittel, sinken würden, wenn die Einkommens­spreizung geringer ausfiele, weil der Aufschlag für den mit diesen Waren verbundenen Statuskonsum entfallen würde: „Alle Menschen könnten gut wohnen, sich gut kleiden und gut essen, wenn das Geld nur anders verteilt wäre“ (Neuhäuser, 2018, S. 24). Da die Fähigkeit, finanzielle Ressourcen nicht für die private Lebensführung zu verausgaben, genauso wie die Sparneigung mit der Höhe des Einkommens und Vermögens einer Person tendenziell zunimmt, entzieht die Kapitalkonzentration (Monopolisierung) der Volkswirtschaft die zur Ankurbelung der Binnenkonjunktur und damit zur Bewältigung von Wirtschaftskrisen nach keynesianischem Muster nötigen Mittel und lähmt so die Wachstumskräfte, wodurch die Krisenhaftigkeit des Systems steigt und der zunehmende private Reichtum wiederum mehr Armut schafft (vgl. dazu Zinn, 2006).

Pointiert formuliert: Ungleichheit rechnet sich weder für die Volkswirtschaft, deren Wachstum an Dynamik einbüßt, noch für die Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet. „Abgesehen von ihren Kosten in puncto sozialer Gerechtigkeit, kann eine zu ungleiche Verteilung von Chancen und ökonomischen Erträgen negative Auswirkungen auf den Umfang der Wirtschaftstätigkeit und den durchschnittlichen materiellen Wohlstand einer Gesellschaft haben“ (Bourguignon, 2013, S. 91). Umverteilung von oben nach unten würde der Volkswirtschaft nützen, eine Stärkung der Massenkaufkraft bewirken und die schwächelnde Konjunktur ankurbeln. Vor allem die Kaufkraft der untersten Einkommensgruppen durch staatliche Maßnahmen wie eine kräftige Anhebung des Mindestlohns dauerhaft zu erhöhen, wäre nicht bloß sozial gerecht, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Deshalb liegt es sogar im wohlverstandenen Systeminteresse, die Kluft zwischen Arm und Reich ein Stück weit zu schließen. Die sozioökonomische Polarisierung fördert Tendenzen zur Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung. Wirtschaftliche und soziale Spaltungstendenzen ziehen in der Regel auch politische Spaltungstendenzen nach sich, die aus Deutschland schon vor Beginn der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 eine „zerrissene Republik“ gemacht haben (vgl. hierzu Butterwegge, 2020).

Aus folgenden Gründen bildet die wachsende sozioökonomische Ungleichheit eine akute Gefahr für die Demokratie: Erstens beteiligen sich Armutsbetroffene immer weniger an Wahlen, die für das parlamentarische Repräsentativsystem konstitutiv und zudem sein niedrigschwelligstes politisches Partizipationsangebot sind. Zweitens verlieren manche Angehörige der (unteren) Mittelschicht, die armutsbedroht sind oder besonders in Krisensituationen große Angst vor einem sozialen Abstieg bzw. Absturz haben, ihr Vertrauen in das politische und Parteiensystem, was den Aufstieg ultrarechter, rechtspopulistischer bzw. rechtsextremer und neofaschistischer „Alternativorganisationen“ begünstigt. Drittens konzentrieren sich das Kapital und der Medienbesitz immer stärker bei wenigen Hochvermögenden, deren Machtgewinn es ihnen ermöglicht, staatliche Entscheidungen so massiv in ihrem Sinne zu beeinflussen, dass von einer demokratischen Willensbildung keine Rede mehr sein kann. „Die Reichen haben die Mittel, das Wirtschaftsleben, die Medien und die Politik ihrem Einfluss zu unterwerfen und schränken den Handlungsspielraum von Demokratien ein, indem sie ihre Sonderinteressen und Weltanschauungen durchsetzen“ (Sayer, 2017, S. 10).

Zwar führt die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht automatisch zu einer Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems. Ursächlich dafür sind vielmehr Formen der Entpolitisierung, durch welche die etablierten Parteien sowohl Frustrationserlebnisse wie auch Abwehrreaktionen vieler Bürger:innen hervorrufen. Sowohl das Ideal der politischen Gleichheit aller Staatsbürger:innen wie auch die Legitimationsbasis der Demokratie leiden unter wachsender Ungleichheit, weil diese mit einer schwindenden Partizipationsbereitschaft der Armen ebenso verbunden ist wie mit einer politischen Überrepräsentation der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen. Resümierend kann man feststellen: Armut hält die Betroffenen von der politischen Einflussnahme (im Wahlakt) ab und Reichtum beeinflusst die staatlichen Entscheidungen unabhängig von Wahlen.

Ein weiteres, ebenfalls sehr gewichtiges Argument, das gegen Ungleichheit, aber für die Umverteilung des Reichtums spricht, ist ökologischer Natur. Dass wachsende Ungleichheit die notwendige Verwirklichung von Umwelt- und Naturschutz, die Bewahrung von Biodiversität sowie die Schaffung von Klimagerechtigkeit blockiert, zeigt sich etwa, wenn man die Menge der Treibhausgasemissionen besonders privilegierter und marginalisierter Bevölkerungsschichten miteinander vergleicht. Ohne die ökologischen Krisenerscheinungen auf ein Problem des massenhaften individuellen (Fehl-)Verhaltens zu reduzieren, also ihre strukturellen, im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem begründeten Ursachen auszublenden, kann man feststellen, dass sich die größten Umweltverschmutzer, „Klimakiller“ und Artenvernichter an der Spitze des Reichtums finden. „Bei den obersten ein Prozent kommt zum verschwenderischen Luxus ihres Lebensstils noch hinzu, dass sie in unvergleichbarer Weise die unternehmerischen Entscheidungen bestimmen, die Emissionen hervorrufen – und dabei von diesen Emissionen auch noch überaus stark finanziell profitieren“ (Neckel, 2023, S. 50).

Solange die ungerechten Verteilungsverhältnisse fortbestehen, fehlt dem umfassenden Klima-, Arten- und Tierschutz der nötige Rückhalt innerhalb der Bevölkerung. Zwar besteht ein Strukturzusammenhang zwischen sozioökonomischer und ökologischer Ungleichheit, dies bedeutet aber nicht, dass mit dem einen Problem gewissermaßen im Selbstlauf auch das andere Problem gelöst wäre. Vielmehr bemerkt César Rendueles in seinem couragierten Plädoyer für Ergebnis- statt Chancengleichheit, wie sie Neoliberale propagieren: „Die Gleichheit wird die sozial-ökologische Krise nicht stoppen, aber sie ist die einzige realistische Option, um die größte Probe zu bestehen, mit der die Menschheit in den letzten zehntausend Jahren konfrontiert war“ (Rendueles, 2022, S. 322).

Ungleichheit des erreichten Ausmaßes ist moralisch nicht zu rechtfertigen, weil Armut die Würde der Betroffenen verletzt – man kann in diesem Zusammenhang durchaus von „struktureller Gewalt“ (Johan Galtung) sprechen – und Reichtum seinen Nutznießern eine nicht legitimierte Macht über weniger vermögende Menschen verleiht, die gleichfalls entwürdigend wirkt. Ähnlich wie Papst Franziskus stellt der Jesuit Friedhelm Hengsbach fest: „Eine Wirtschaft, die ausgrenzt, soziale Ungleichheit erzeugt und Gewalt hervorbringt, tötet“ (Hengsbach, 2015, S. 20). Angesichts der Vorkriegsstimmung, die sich hierzulande im Gefolge des Ukrainekrieges ausgebreitet hat, gewinnt ein weiterer Argumentationsstrang und möglicher Zugang für das Ringen um mehr soziale Gleichheit an Gewicht: Gleichheit schützt ein Land vor Aggressivität und militärischer Gewalttätigkeit: „Eine Gesellschaft mit einer ausgewogenen Verteilung der Einkommen und Vermögen hat eine größere Chance, nach innen und außen Wohlstand und Frieden zu schaffen – ohne Waffen“ (Hengsbach, 2015, S. 9).

Weil die soziale Ungleichheit durch politische (Fehl-)Entscheidungen zugunsten der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen verschärft worden ist, besteht auch die Möglichkeit, sie durch staatliche Eingriffe zugunsten der Armen und eines sozialen Ausgleichs zu verringern (vgl. die zahlreichen Vorschläge dazu Butterwegge, 2024b, 172-220). Ob sich die Ungleichheit in Zukunft weiter verschärft oder abschwächt, hängt maßgeblich davon ab, was gegen sie auf den einzelnen Politikfeldern unternommen wird.

  • 1 Vgl. die ähnliche Berechnung/Einschätzung des Vermögensreichtums von Hentschel und Eibl (2024, S. 95).

Literatur

Bourguignon, F. (2013). Die Globalisierung der Ungleichheit. Hamburger Edition.

Butterwegge, Ch. (2020). Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland (2. Aufl.). Beltz Juventa.

Butterwegge, Ch. (2021). Ungleichheit in der Klassengesellschaft (2. Aufl.). PapyRossa Verlag.

Butterwegge, Ch. (2024a). Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung. Beltz Juventa.

Butterwegge, Ch. (2024b). Umverteilung des Reichtums. PapyRossa Verlag.

Butterwegge, Ch. & Butterwegge, C. (2021). Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt. Campus Verlag.

El-Mafaalani, A. (2020). Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiepenheuer & Witsch.

Fratzscher, M. (2016). Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird. Hanser Mär.

Hengsbach, F. (2015). Teilen, nicht töten! (2. Aufl.). Westend Verlag.

Hentschel, K.-M. & Eibl, A. (2024). Steuerrevolution. Ein Konzept zur Rückverteilung von Reichtum, zu mehr Gerechtigkeit und Klimaschutz. AttacBasis Texte 59.

Hubeli, E. (2020). Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert. Rotpunktverlag.

Kersten, J., Neu, C. & Vogel, B. (2019). Gleichwertige Lebensverhältnisse – für eine Politik des Zusammenhalts, Wochenzeitung Das Parlament, 46 (Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte).

Lohauß, P. (2019). Zur sozialen Polarisierung der Wohnungsmärkte in Deutschland im Kontext europäischen und globalen Wirtschaftswachstums. In A. Hentschel & P. Lohauß (2019). Wohnungsmärkte und Wohnungspolitik. Beiträge zur Kritik des Immobiliensektors.

Neckel, S. (2023). Zerstörerischer Reichtum. Wie eine globale Verschmutzerelite das Klima ruiniert, Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2023.

Neuhäuser, C. (2018). Reichtum als moralisches Problem (2. Aufl., Bd. 2249). suhrkamp taschenbücher wissenschaft.

Rendueles, C. (2022). Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet. Suhrkamp Verlag.

Sayer, A. (2017). Warum wir uns die Reichen nicht leisten können. C.H. Beck.

Zinn, G. K. (2006). Wie Reichtum Armut schafft. Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel (4. Aufl.). PapyRossa Verlag.

Title:Inequality – Poison for Social Cohesion and Representative Democracy

Abstract:The socio-economic inequality that has been growing for some time now is poison for social cohesion and representative democracy. In order to break through the indifference that still prevails towards socio-economic inequality and make more equality possible, people must become aware that the future redistribution of wealth to those who created it is not just about achieving more social justice, but also about preserving social peace, preventing centrifugal tendencies and weakening anti-democratic forces.

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© Der/die Autor:in 2024

Open Access: Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht (creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).

Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2024-0119

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