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Dieser Beitrag ist Teil von Reformen im Gesundheitswesen: Chancen und Herausforderungen

Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach ist sich sicher: „Wir stehen am Vorabend einer notwendigen Revolution im Krankenhaussektor“ (BMG, 2023). Damit sind zwei große Reformvorhaben gemeint: Erstens sollen die unter massiven Personalengpässen und Arbeitsverdichtung leidenden Krankenhäuser eine neue Krankenhausfinanzierung erhalten, durch die eine „Durchökonomisierung der Medizin vermieden wird“ (BMG, 2023). Zweitens will Lauterbach die äußerst prekäre Situation in der präklinischen und klinischen Notfallversorgung, die der vorliegende Beitrag fokussiert, ebenfalls grundlegend verbessern.

Während die stationäre Versorgung seit der großen Diagnosis Related Group (DRG)-Reform von 2003 weiter verändert wurde, sind verschiedene Gesetzesinitiativen zur Notfallversorgung in der Vergangenheit gescheitert.1 Eine Reform gilt hier als besonders herausfordernd, da beide Sektoren der Notfallversorgung betroffen sind und eine ausgeprägte Gestaltungskonkurrenz zwischen Bund und Ländern besteht (Di Fabio, 2024).

Gesundheitsreformen – zwischen Dauerkrise, Selbstverwaltung und Gestaltungskonkurrenz

Angesichts der Rhetorik des Ministers ist es nicht verwunderlich, dass derlei Vorhaben Gefahr laufen, hinter den gesteckten Zielen zurückzubleiben. Tatsächlich treten Minister:innen keine Revolutionen los, sondern Reformen. Die Sozialwissenschaften melden hier schon lange Zweifel an der Plan- und Steuerbarkeit solcher Programme an. Aus einer systemtheoretischen Perspektive etwa bedeuten Reformen grundsätzlich komplexe, wenig planbare Reorganisation (Luhmann, 2006, Kap. 11). Die an Reformen beteiligten Organisationen können nicht einfach als „Systeme rationaler Problemlösung“ (Luhmann, 2006, S. 337) betrachtet werden, die nach dem einfachen Input-Output-Schema beliebige Ziele erfüllen. Die prozessuale Offenheit und Selbstreferenz von Reformen hält dazu an, mit Pfadabhängigkeiten, Trägheit, strategischem Verhalten, ergo: mit Minimalkompromissen oder gar einem möglichen Scheitern der Bemühungen zu rechnen. Politische Reformen stellen zudem besondere Entscheidungsprozesse dar. Ihre primäre Funktion ist es, kollektiv bindende Entscheidungen herbeizuführen (Luhmann, 2002). Sie sind mit den vorhandenen Expertenmeinungen deshalb nur lose gekoppelt und orientieren sich vielmehr an ihrer jeweils systemeigenen Geschichte, die von vorherigen Entscheidungen beeinflusst ist.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit von Reformen geht, folgt man der Perspektive weiter, auch auf unterschiedliche Risikobewertungen zurück. Der Maßstab hierfür liegt häufig in der Frage begründet, „wie sich die angestrebte Reform in das gegebene System einfügen lässt. So erscheint nur die Reform riskant. Das Risiko der Beibehaltung der „bewährten“ Strukturen wird oft nicht gesehen oder unterschätzt.“ (Luhmann, 2006, S. 333)

Politische Risikoabwägungen und Pfadabhängigkeiten treffen zudem auf ein von Krisen gezeichnetes Gesundheitssystem. Die Coronapandemie führte vor Augen, wie schwach die Resilienz nach zwei Jahrzehnten Ökonomisierung in Teilen der Versorgungslandschaft ist (Molzberger, 2020). Gleichzeitig ist es vielfach gelungen, durch Rückbesinnung auf professionelle Kernkompetenzen und berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit Prozesse kurzfristig zu verändern und sich so erfolgreich an den Gesundheitsnotstand anzupassen (Wolf & Molzberger, 2020).

Das herrschende Prinzip der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen erschwert diese Beweglichkeit: Der Staat als zentral lenkender Leviathan nach Hobbes macht organisierten Interessen Platz, die vielfältige, teils offen widersprüchliche Logiken miteinander verhandeln und in der Versorgungspraxis in Beziehung setzen müssen (Vogd et al., 2018). „Leistungserbringer“ und „Kostenträger“, gemeinsam mit dem Staat als Rahmensetzer, Finanzier und Kontrollinstanz, erzeugen eine „institutionelle Komplexität“ (Greenwood et. al., 2011), die systemische Trägheit bedingt (Simon, 2000). Die präklinische Notfallrettung wird, das kommt erschwerend hinzu, gemeinhin der „allgemeinen Gefahrenabwehr“ zugerechnet, einer Domäne der Länder, während der Bund Garant der Sozialversicherung ist.2 Zudem sind die Kommunen über Trägerschaften, im Rettungsdienst und dem stationären Bereich, an der Versorgung operativ wie planerisch beteiligt. Eine Gesetzgebungs- und Steuerungskonkurrenz zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist die Folge (Di Fabio, 2024).

Notfallversorgung am Limit – Ist eine Abwärtsspirale noch abzuwenden?

Das verheißt nichts Gutes für die Reformfähigkeit in der Notfallrettung. Doch mittlerweile wird der Reformdruck von vielen Stakeholdern als so hoch bewertet, dass grundsätzliche Reformen möglich erscheinen. Das liegt auch an der Notfallversorgung, die am Beginn einer Abwärtsspirale steht: Mehrere Bundesländer erwägen die „Hilfsfrist“ im Rettungsdienst abzusenken. Sie ist die wichtigste Qualitätskennziffer, die angibt, bis wann ein Rettungsmittel vor Ort sein muss, um Leben zu retten. Dabei verließ 2023 nur jeder Zehnte von rund 55.000 Notfallpatient:innen mit der besonders zeitkritischen Diagnose „Herzstillstand“ das Krankenhaus wieder lebend (Deutsches Reanimationsregister, 2024).

Und das, obwohl die Rettungsdienste, ähnlich der Entwicklung in den Notaufnahmen der Krankenhäuser, in den letzten drei Jahrzehnten ein starkes quantitatives Wachstum erfahren haben: Allein zwischen 2010 und 2021 hat sich das Einsatzaufkommen um 75 % erhöht, gegenüber 1994 gar um 378 % (Bundesministerium für Gesundheit, 2023b). Im gleichen Zeitraum stieg der Personaleinsatz um 71 % (Statistisches Bundesamt, 2023).

Die Ausgaben der Krankenkassen für den Rettungsdienst, die als „Transportkosten“ gelten, stiegen in den letzten zehn Jahren um 141 % auf 4,1 Mrd. Euro (Verband der Ersatzkassen, 2024). Werden alle Segmente der Notfallrettung betrachtet, machen die Aufwendungen mittlerweile fast 10 % der stationären Gesamtausgaben aus (Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung, 2023b, S. 6). Umgekehrt schreiben Krankenhäuser jährlich schätzungsweise 1 Mrd. Euro Verlust mit dem Betrieb von Notaufnahmen (von Eiff et al., 2016).

Der bisherige Ansatz des „mehr Leistung durch mehr Personal und Technik“ trägt nicht länger: Qualifiziertes Rettungspersonal ist kaum zu noch finden, während die enorme Arbeitsbelastung zu niedriger Arbeitszufriedenheit, hohen Burnout-Raten und einer Abwanderung in andere Versorgungsbereiche führt (Roth et al., 2021; Lehweß-Litzmann & Hofmann, 2022).

Eine effiziente und bedarfsgerechte Planung und Steuerung der Notfälle ist nicht in Sicht, da es weiterhin an bundesweiten Ausbildungs-, Digitalisierungs-, Dispositions- und Versorgungsstandards fehlt (Krafft et al., 2022). Dabei steht das System zusätzlich durch demografische Effekte und eine verfestigte „Anspruchsinflation“ (Luhmann, 1983) unter Druck: Der eigentliche Auftrag, „Personen, die sich in unmittelbarer Gefahr befinden, aus diesen Gefahrensituationen zu befreien“ (Grother-Hammer, 2024, S. 313) und notfallmedizinisch zu versorgen, ist in der Praxis längst weiter gefasst.

Rettungsdienste und Notaufnahmen behandeln immer mehr Akutfälle, die originär durch die Dienste der Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) zu versorgen sind. Die Behandlungszahlen des KV-Notdienstes haben zwischen 2009 und 2019 jedoch um 12 % abgenommen, während im Rettungsdienst mittlerweile 20 % bis 40 % der versorgten Fälle als nicht-lebensbedrohlich gelten und damit außerhalb des eigentlichen Versorgungsauftrags liegen (Regierungskommission 2023a, S. 5; Metelmann et al. 2022).

Diese Patient:innen landen in aller Regel dennoch in den Notaufnahmen, da Rettungsdienste weiterhin als reine Transportleistung vergütet werden, obwohl sie komplexe ambulant-notfallmedizinische Leistungen erbringen, die eine Weiterbehandlung im Krankenhaus oft erübrigen. Ein Fehlanreiz, der zu vielen unnötigen, weil medizinisch nicht indizierten Einweisungen führt, während Notaufnahmen chronisch unterfinanziert und überbelegt sind (Trautmann et al., 2022; von Eiff et al., 2016).

Mehr sektorenübergreifende Kooperation wagen

Der Gesetzentwurf des BMG zur Reform der Notfallversorgung (NotfallG) will hier Abhilfe schaffen und orientiert sich dazu an zwei Empfehlungen der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung (2023a, b). Der Reformvorschlag zielt im Kern auf eine vertiefte intersektorale Kooperation sowie eine bedarfsgerechtere Steuerung von Akut- und Notfallpatient:innen, was zu einer Entlastung der Notaufnahmen und Rettungsdienste führen soll. Hierzu werden gleichermaßen die Strukturen in der Notaufnahme im Krankenhaus (klinisch) und der Notfallrettung durch Rettungsdienste und kassenärztliche Notdienste (präklinisch) fokussiert.

Erstens sieht die Reform integrierte Notfallzentren (INZ) als „sektorenübergreifende Notfallversorgungsstrukturen“ vor (BMG, 2024, S. 2). Die INZ werden von ausgewählten Krankenhäusern und Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) in verbindlicher Kooperation betrieben und bestehen aus einer Notaufnahme des Krankenhauses, einer KV-Notdienstpraxis sowie einer zentralen Ersteinschätzungsstelle in unmittelbarer Nähe des Krankenhauses. Die Ersteinschätzungsstelle besteht aus Krankenhaus- und KV-Personal und soll den Zulauf von Patient:innen mit akuten Beschwerden in Form eines gemeinsamen Tresens bündeln. Hier wird die Ersteinschätzung durchgeführt und über die Dringlichkeit und Weiterleitung in die passende Versorgungseinheit entschieden.

Umbau der Leitstellen und Ausweitung der notdienstlichen Pflichten

Zweitens sieht das Gesetz eine flächendeckende Vernetzung von kassenärztlichem Notdienst, Rettungsdienst und Notaufnahmen der Krankenhäuser vor, da hier bislang zwei weitestgehend getrennt operierende Leitstellensysteme der Feuerwehren bzw. Kommunen (Rufnummer 112) und der Kassenärztlichen Vereinigungen (Rufnummer 116 117) existieren.

Einerseits soll im Rahmen der Arbeit der 116 117 eine „Akutleitstelle“ (BMG, 2024, S. 2) ausschließlich für Patient:innen mit akuten Beschwerden eingerichtet werden.3 Diese soll in der Lage sein, Notfälle über eine digitale Schnittstelle medienbruchfrei an die Rettungsleitstellen zu übermitteln, wodurch ein umfassendes „Gesundheitsleitsystem“ (BMG, 2024, S. 18) entstehen würde.

Andererseits werden durch eine „Konkretisierung des Sicherstellungsauftrages“ (BMG, 2024, S. 18) die notdienstlichen Pflichten der KV in den Blick genommen. Hierzu zählen neben der Beteiligung an den INZ die „notdienstliche Akutversorgung“ (BMG, 2024, S. 8), worunter nun auch das Vorhalten einer rund um die Uhr verfügbaren telemedizinischen sowie aufsuchenden Versorgung zu verstehen ist.

Vorhersehbare Konflikte zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern

Der Gesetzentwurf nimmt den KV-Bereich angesichts einer sinkenden Leistungsfähigkeit deutlich stärker für die Notfallrettung in die Pflicht. Die Frage, ob die Vorschläge aus Sicht von Notfallpatient:innen sinnvoll erscheinen, wird dabei kaum diskutiert. Eine Stellungnahme des Patientenbeauftragten sucht man vergeblich.

Die Diskussion kreist eher um die Frage, ob eine „Konkretisierung“ (BMG) oder eine „Erweiterung“ des KV-Auftrages vorliegt, wie die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV, 2024) behauptet. Sie kritisiert die Vorschläge als „nicht zielführend und finanzierbar“; es fehle zudem an Personal für die neuen Aufgaben.

Die „institutionalisierte Öffnung von Notaufnahmen während der Sprechzeiten“ werde die Belastung der Notaufnahmen noch erhöhen und produziere zudem ein „unklares Rangverhältnis“ (BMG, 2024, S. 3) zwischen niedergelassenen Praxen und der neuen notdienstlichen Akutversorgung. Die Vorrangstellung der „Regelversorgung“ (S. 6) während der regulären Öffnungszeiten sei festzuschreiben, sonst drohten neue Doppelstrukturen.

Die Berufsfeuerwehren als wichtige Leistungserbringer und Leitstellen-Verantwortliche haben die Vorschläge zur Einrichtung der notdienstlichen Akutversorgung und Akutleitstellen sowie der INZ hingegen begrüßt (Deutscher Feuerwehrverband, 2024). Sie würden einen „guten Ansatz für eine notwendige Reform zur Versorgung und Steuerung der Patienten im Zusammenspiel zwischen Gefahrenabwehr und Gesundheitsvorsorge“ bieten (Deutscher Feuerwehrverband, 2024).

Länder und Kommunen zu mehr Einheitlichkeit aufgefordert

Der Deutsche Landkreistag (2024) hält mit Blick auf die Reformvorschläge des Bundesgesundheitsministers fest: Der Gesetzentwurf ziele „in Wahrheit nur darauf“, die „Krankenkassen um die Investitionskosten zu entlasten“ und den Rettungsdienst – wie schon bei den Krankenhäusern – „in die strukturelle Unterfinanzierung“ zu treiben.

Aber wie sehen das die Leistungserbringer im Rettungsdienst? Zur Beantwortung der Frage wird die gegenwärtige Situation im Rettungsdienst auf Landes- und kommunaler Ebene im Rahmen der laufenden Novellierung des Rettungsgesetzes in Nordrhein-Westfalen (RettG NRW) beleuchtet. Als bevölkerungsreichstes Bundesland ist NRW von den oben skizzierten Entwicklungen besonders betroffen und steht exemplarisch für die Herausforderungen im gesamten Bundesgebiet.

Mittels der Ergebnisse einer qualitativen Studie zur „Zukunft der Rettungsdienste in Nordrhein-Westfalen“ werden die bereits dargestellten Reformaspekte auf Bundesebene aus Sicht der Landesgesetzgebung im Folgenden diskutiert.4

Kommunale Ausbildungsregeln verschärfen Personalmangel

Als größtes Problem gilt auch im nordrhein-westfälischen Rettungsdienst die Mengenausweitung der Einsätze in Kombination mit einem ausgeprägten Fachkräftemangel. Viele Befragte sehen die Notfallversorgung in NRW unter großem Anpassungsdruck, manche sehen sogar die Versorgungssicherheit absehbar gefährdet.

Zu der hohen Einsatzlast kommt aus Sicht der befragten Expert:innen insbesondere für Notfallsanitäter:innen hinzu, dass deren professionelle Kompetenzen systematisch wie praktisch entwertet werden. Die steigende Zahl an Einsätzen ohne Notfallindikation wirkten sich negativ auf die Motivation und das Selbstverständnis der Rettungskräfte aus, deren Notfall-Kompetenzen immer seltener gefordert werden. Zudem würde „ein kommunaler Flickenteppich“ von Regelungen die Ausübung dieser heilkundlichen Notkompetenzen sowie den Austausch von Rettungspersonal über kommunale Gebietsgrenzen hinweg signifikant einschränken. Dies wäre auf die für die Kommunen tätigen „Ärztlichen Leiter Rettungsdienst“ zurückzuführen, die jeweils eigenständig darüber befinden, welche vorhandenen Kompetenzen (z.B. bei der Medikamentengabe und bei Notfallmaßnahmen) in den Rettungsdienstbezirken von Notfallsanitäter:innen selbstständig ausgeübt werden dürfen.

Die Expert:innen schlagen vor, das bereits in 30 NRW Kommunen zum Einsatz kommende „Gemeinsame Kompendium Rettungsdienst“ als Standard der präklinischen Notfallversorgung für alle NRW-Kommunen festzuschreiben. Dies würde – zumindest in NRW – Standards für die Notfallversorgung setzen und eine gemeinsame, rechtssichere und Gebietsgrenzen überschreitende Zusammenarbeit sicherstellen.

Ein weiteres damit in Zusammenhang stehendes Problem ist die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz von Bund und Ländern: Das Notfallsanitätergesetz (NotSanG) des Bundes von 2013 würde zwar fachliche Vorgaben für die Ausbildung machen, es regele aber nicht, welche erlernten Kompetenzen Notfallsanitäter:innen später auch anwenden dürfen.

Die Planung und Finanzierung der Ausbildung wird als weitere Herausforderung genannt. Sie liegt bei den Trägern des Rettungsdienstes, den Kommunen, die mit den Krankenkassen ihre eigenen Bedarfspläne verhandeln. Aufgrund einer jahrelangen Blockadehaltung der Krankenkassen nach Einführung des Notfallsanitätergesetz (NotSanG) sowie unrealistischer Bedarfsannahmen und vielerorts angespannter Finanzen seien in der Vergangenheit viel zu wenig Notfallsanitäter:innen ausgebildet worden.5 Die Ausbildungskapazitäten sollten aus Sicht der Expert:innen deutlich nach oben korrigiert werden.

Einige Expert:innen legen hierzu entweder eine zentrale Ausbildungsplanung durch das Land oder die Prüfung nahe, den Beruf in das Berufsbildungsgesetz und damit in die Verantwortung des Bundes zu überführen. Eine zentrale Planung könnte Ausbildungsstandards erhöhen, die Finanzierung und Planung verbessern, Eintrittsbarrieren in den Beruf abbauen und somit letztlich dem Fachkräftemangel entgegenwirken.

Fehlende IT- und Abfragestandards verhindern bedarfsgerechte Notfallsteuerung

Ein ähnlich diffuses Bild zeigt sich auch in der Einsatzorganisation: In NRW existieren 52 Leitstellen mit unterschiedlichen, untereinander teils inkompatiblen Einsatzleitsystemen, Notrufabfragen und Dispositionsregeln (Trautmann et al., 2022, S. 73). Um Druck von der Notfallrettung zu nehmen, sind hier aus Sicht der Expert:innen eine flächendeckende digitale Erfassung sowie einheitliche Verarbeitung von Einsatzdaten und standardisierte Erstabfragen notwendig. Dies beschleunige die Erfassung und Übermittlung von Einsatzdaten zwischen Leitstellen, helfe Dispositionsfehler zu reduzieren und die Bedarfsgerechtigkeit der Entsendung zu verbessern.

Viele befragte Expert:innen sehen hierfür die „Gesundheitsleitstelle“ als Format der Wahl an. Darunter wird eine zentrale Anlaufstelle verstanden, die alle relevanten Notrufnummern (112 und 116 117 sowie weitere Notfall-Rufnummern) auf sich vereint. Alternativ müsse der Kassenärztliche Notfalldienst seine Leistungsfähigkeit signifikant erhöhen (wie es im NotfallG auf Bundesebene nun geplant ist).

Zusätzlich befürworten die Expert:innen die Einführung eines Krankentransportwagens (KTW) für nicht-lebensbedrohliche Akutfälle. Dieser sogenannte „Notfall-KTW“ hätte den Vorteil, steigende Bedarfe im Akutbereich ohne Notfallindikation mit einer geringeren Ausstattung an Bord zu versorgen und damit vorhandenes Rettungspersonal und Ressourcen kurzfristig zu schonen.

Fazit

Wenn schon keine Revolution zu erwarten steht, zeichnet sich nun angesichts des skizzierten Diskurses eine grundlegende Reform der Notfallversorgung ab? Ein befragter Leitstellendisponent der Expertenstudie bringt das Reformdilemma auf den Punkt: Es gebe kein „Erkenntnisproblem“, sondern ein „riesengroßes Umsetzungsproblem“. Damit wird immer klarer, dass zuvorderst um eine Reform des staatlichen Arrangements in der Notfallversorgung und erst in zweiter Linie um eine Reform der Notfallrettung selbst gerungen wird. Was fachlich geboten ist, erscheint weitgehend klar, bloß wie gelangt das System dorthin?

„Sektorenübergreifende Strukturen“ sind der Deckmantel, unter dem tieferliegende Gesetzgebungs- und Interessenkonkurrenzen nun schlummern sollen. Diese sind weniger revolutionär als evolutionär im Sinne der Systemtheorie, bewegen sich Kernanliegen, etwa zu den Akutleitstellen, doch strikt innerhalb der Sektorengrenzen. Zumal sektorenübergreifende Strukturen wie die INZ bislang unter einer übermäßigen Bürokratielast zu scheitern drohen (GKV-Spitzenverband, 2024).

Der Bund könnte, wie Di Fabio (2024) in einem Rechtsgutachten betont, sich mehr Kompetenzen zulasten der Länder einräumen, da er dem sozialrechtlichen Grundsatz „gleiche Beiträge, gleiche Leistung“ verpflichtet sei. Di Fabios Empfehlung: Der Bund solle „den Graubereich der bislang unspezifizierten … medizinischen Leistung Notfallrettung“ (Di Fabio, 2024, S. 4) auflösen und diesen fortan im Sozialgesetzbuch V explizit und einheitlich regeln.

Nicht nur rechtlich, sondern auch professionell leuchtet das ein: Die fortschreitende Professionalisierung der nicht-ärztlichen Komponente im Rettungsdienst durch Notfallsanitäter:innen ruft, wie Di Fabio (2024, S. 35) weiter argumentiert, die Zuständigkeit der Sozialversicherung und damit des Bundes in dem Maße auf den Plan, wie Rettungsdienste hierdurch aufhören reine Transportdienste zu sein und zunehmend komplexe, präklinische Notfallmedizin betreiben.

Dieser Weg erscheint plausibel, wenn sich Bund und Länder sowie die Gatekeeper der Sektoren weiterhin nicht auf integrierte Lösungen in der Notfallrettung verständigen. Dennoch ist dieser Weg äußerst riskant – der erbitterte Widerstand von Ländern und Kommunen ist gewiss, die kollektive Bindungswirkung einer solchen Entscheidung wäre in Frage gestellt, Verfassungsklagen, eine weitere Blockade und Zeitverlust wären die Folge.

Eine weitere Überlegung betrifft die fehlende Bedarfsgerechtigkeit und damit die Ineffizienz in der Notfallversorgung. Ein Rettungswagen gleiche heute einer „rollenden Intensivstation“, wie ein befragter Leitstellendisponent es ausdrückt. Eine Notfallsanitäterin berichtet, was sie „kaputt macht“, seien die vielen 12-Stunden-Schichten, in denen von neun versorgten Patient:innen nur ein einziger dabei sei, der „uns wirklich gebraucht“ hat. Ergo: Ressourcenaufwand und Ressourceneinsatz stehen in einem teilweise katastrophalen Verhältnis.

Damit läuft die Reform letztlich auf die Frage hinaus, ob und wie die institutionelle Komplexität der Gesundheitspolitik mit dem Ziel der Bedarfsgerechtigkeit vereinbar ist. Wenn die Idee, regionale Besonderheiten der Versorgung durch eine Planungshoheit der Länder und Kommunen besser abzubilden, in der Praxis aber umschlägt in regional höchst disparate Leistungsniveaus bei gleichzeitig exorbitantem Ressourcenaufwand, hält der Bund ein gewichtiges Argument für mehr Zentralisierung in seinen Händen.

Einer Gesellschaft, die Wert auf gleiche Lebensverhältnisse legt, stünde es gut zu Gesicht, Bedarfsgerechtigkeit Vorrang vor der Autonomie einzelner politischer Ebenen und etablierter Berufsgruppen einzuräumen. Patient:innen und Rettungspersonal haben gleichermaßen einen Anspruch darauf. Sollte dieser nicht eingelöst werden, scheint ein Absenken der Ansprüche an die Notfallversorgung unvermeidlich, mit hohen politischen Kosten für alle Beteiligten.

  • 1 2014 gab es eine Initiative durch den Bundesrat, die die damalige Bundesregierung ablehnte und einen Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) im Jahr 2018, der aber auch ins Leere lief.
  • 2 Der Bund handelt hier als Garant der Sozialversicherung auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, die Länder nach Art. 30, 70 GG.
  • 3 Bislang übernehmen die Leitstellen der 116 117, auch Terminservicestellen genannt, ein weites Spektrum an Anfragen, von der Vermittlung von ortsnahen Terminen bei Ärzt:innen und psychotherapeutischen Sprechstunden bis hin zur Entsendung des KV-Notdienstes bei Akutbedarfen.
  • 4 In einer Telefonbefragung gaben 19 Expert:innen aus den Rettungsdiensten der anerkannten Hilfsorganisationen sowie aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft der präklinischen Notfallversorgung aus Nordrhein-Westfalen (NRW) Auskunft zu aktuellen Herausforderungen und Zukunftsperspektiven des Rettungsdienstes in NRW. Die Befragung umfasst über zwölf Stunden Interviewmaterial und wurde im Jahr 2023 vom Meinungsforschungsinstitut Mauss Research im Auftrag der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V., Landesverband NRW, unabhängig durchgeführt. Es wird im Folgenden aus dem Ergebnisbericht sowie den vorliegenden Interviewtranskripten zitiert. Die zentralen Ergebnisse der Studie werden im Johanniter LV NRW (2023) aufgriffen.
  • 5 Die durchschnittliche Verweildauer von etwa zehn Berufsjahren im Rettungsdienst werde in den Bedarfsplänen der Kommunen bislang nicht berücksichtigt (siehe auch die Studienergebnisse von Lehweß-Litzmann & Hofmann, 2022). Man geht bei den Berechnungen der Verweildauer von einer deutlich länger andauernden Berufsbiografie aus.

Literatur

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Title:Reforming Emergency Care in Germany: What Is Possible and What Is at Stake

Abstract:The German healthcare system faces urgent challenges, with Minister Karl Lauterbach proposing two major reforms: restructuring hospital financing and overhauling emergency services. While past efforts to reform emergency care have failed, the current crisis – exacerbated by staff shortages and increased demand – has intensified calls for change. However, the complexity of Germany’s decentralised system and competing interests among federal, state and local governments, and service providers hinder progress. The Minister’s plan includes integrated emergency centres and improved coordination between hospital and pre-hospital acute care. Achieving these goals, however, remains fraught with legal and political obstacles.

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© Der/die Autor:in 2024

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DOI: 10.2478/wd-2024-0159