Die Restlebenserwartung im Alter des Rentenzugangs ist systematisch positiv mit der Höhe des Einkommens korreliert. Für die Jahrgänge 1947 bis 1949 beträgt der Unterschied der Restlebenserwartung zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Dezil des Lebenseinkommens mehr als sechs Jahre, mit entsprechenden niedrigeren Abständen zwischen den anderen Dezilen (Haan et al., 2020). Auch berufliche Unterschiede sind erheblich: Arbeiter haben eine 5,6 Jahre kürzere Restlebenserwartung als Beamte, und bei hoher Arbeitsbelastung ist sie vier Jahre kürzer als bei geringer Belastung (Geyer et al., 2022). Diesen Unterschied nicht zu berücksichtigen, ist in einer sozialen (umlagefinanzierten) Rentenversicherung nicht zu rechtfertigen.
Die „Rente mit 63“ war ein Versuch, diese Ungerechtigkeit auszugleichen. Allerdings löste sie einen adversen Selektionseffekt aus (Zwick et al., 2022). Diejenigen Personen, die diese Rente in Anspruch nahmen, konnten ansehnliche Rentenzahlungen erwarten und gehörten demnach nicht zum Personenkreis mit niedriger Restlebenserwartung. Ein alternativer Lösungsansatz sieht vor, bei niedrigen Erwerbseinkommen die Entgeltpunkte bei der Berechnung der Zugangsrente zu erhöhen. Dies würde zu höheren Rentenzahlungen führen, die aber nicht mit der Restlebenserwartung verknüpft sind. Gründe für niedrige Erwerbseinkommen können hier ganz andere sein, z. B. wenn Ehepartner aufgrund des Ehegattensplittings nur in geringem Umfang mit niedrigen Entgeltpunkten erwerbstätig sind. Dieses Instrument erhöht den Barwert der Rente, ohne die Ungleichheit der Lebenserwartung auszugleichen.
Der Vorschlag von Richter und Werding (2020), demzufolge einkommensschwache Personen beim Rentenzugang bei gleichem Rentenbarwert zwischen einer inflationsindexierten und einer – wie bisher – lohnindexierten Rente wählen können, geht in die gewünschte Richtung. Eine inflationsindexierte Rente wäre mit höheren Rentenzahlungen zu Beginn der Rentenlaufzeit verbunden, würde aber in späteren Jahren langsamer als die lohnindexierte Rente steigen – sofern die Löhne stärker steigen als die Inflation. Obwohl dieser Ansatz das Ungleichheitsproblem der Restlebenserwartung korrekt adressiert, ist die Entscheidung beim Übergang in die Rente schwierig, da eine Rückkehr zur lohnindexierten Variante ausgeschlossen werden muss.
Hier wird vorgeschlagen, eine Differenzierung nach der Restlebenserwartung vorzunehmen, wobei der Barwert der Rentenzahlungen bei durchschnittlicher Lebenserwartung zugrunde liegt. Dieser Barwert ist der jeweiligen Person beim Übergang in die Rente gutzuschreiben. Die Differenzierung erfolgt dann bei der Auszahlung der Rente in nach versicherungsmathematisch berechneten Annuitäten nach Berufsgruppen (Jensen et al., 2024). Je nach Restlebenserwartung innerhalb der jeweiligen Gruppe wird eine Differenzierung der Annuitäten vorgenommen. Je kürzer die Restlebenserwartung der Berufsgruppe, umso höher die monatliche Rente, bei gleichem Barwert der Rente insgesamt. Die Umsetzung sollte aufkommensneutral sein: Die Erhöhung der Rente für Personen mit geringer Restlebenserwartung wird kompensiert durch die Absenkung der Annuitäten bei Personen mit hoher Restlebenserwartung.
Um auf diese Weise die ungleiche Lebenserwartung bei der Rentenzahlung ganz oder teilweise auszugleichen, benötigt man Daten über die Restlebenserwartungen von Berufsgruppen. Hierbei kann auf die Daten privater Rentenversicherungen zurückgegriffen werden, die vor ähnlichen Problemen stehen. Des Weiteren sind die Annuitäten an die Lohnindexierung der Renten anzupassen. Steigt der Restbarwert der Rente infolge einer Rentenerhöhung, partizipieren wie bisher alle Rentner daran. Lediglich die monatliche Rente der Personen mit der kürzeren Restlebenserwartung steigt stärker gegenüber derjenigen der anderen Berufsgruppen. Mit der berufsgruppenspezifisch differenzierten Rentenzahlung nach der Restlebenserwartung kann die gesetzliche Rentenversicherung gerechter gemacht werden. Dadurch wird auch die Akzeptanz der notwendigen Anhebung der Altersgrenzen erhöht.
Literatur
Geyer, J., Haan, P. & Schaller, M. (2022). Heterogene Lebenserwartung und das Rentensystem: Regressive Verteilungswirkungen und Reformoptionen. IW-Trends, 49(2), Forum: Rente, 141–146.
Haan, P., Kemptner, D. & Lüthen, H. (2020). The rising longevity gap by lifetime earnings – Distributional implications for the pension system. Journal of the Economics of Aging, 17, 100199.
Jensen, S. E. H., Sveinsson, T. S. & Zoega, G. (2024). Addressing longevity inequality: How retirement age differentiation can be implemented. CESifo Economic Studies, 70, 1–16.
Richter, W. F. & Werding, M. (2020). Unterschiedliche Lebenserwartungen und Rentenanpassung. Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 21(4), 398–402.
Zwick, T., Brun, M., Geyer, J. & Lorenz, S. (2022). Early retirement of employees in demanding jobs: Evidence from a German pension reform. Journal of the Economics of Aging, 22, 100387.