Deutschlands wirtschaftliche Probleme sind gravierend und in wesentlichen Teilen nur europäisch zu adressieren. Die neue Bundesregierung sollte ihre Europapolitik priorisieren.
Der Draghi-Bericht für die Europäische Kommission konstatiert eine „existenzielle Herausforderung“ für Europa (Draghi, 2024). Der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) stellt fest, dass Deutschlands Wirtschaft seit fünf Jahren kaum gewachsen ist und auch die Aussichten für 2025 gering sind (SVR, 2024). In der öffentlichen Diskussion um die richtigen Maßnahmen zur Wirtschaftsaktivierung wird häufig übersehen, dass sich die fundamentalen Herausforderungen, denen sich Deutschland gegenübersieht – Produktivität steigern, Transformation hin zur Klimaneutralität wachstumsfreundlich gestalten, Wirtschaft und Gesellschaft resilienter machen –, in wesentlichen Teilen nicht ohne Europa angehen lassen. Dies liegt in der Natur der Sache: Resilienz und Versorgungssicherheit kann es nicht national geben, und Emissionsminderung ist eine globale Aufgabe. Außerdem liegen wesentliche Stellhebel, wie die Regeln für Binnenmarkt und Außenhandel, im Mandat der EU.
Die neue Bundesregierung sollte daher europäische Wirtschaftspolitik zur Chefsache machen, mit einem eigenen Koordinator im Kanzleramt. Die Zusammenarbeit mit Frankreich, Italien, Polen und Spanien, den größten Ländern der EU, die zusammen mit Deutschland zwei Drittel des europäischen BIP erwirtschaften, sollte priorisiert werden. Ein enger Schulterschluss mit Großbritannien, dem Land mit besonders hoher Innovationskraft und Verteidigungsbereitschaft in Europa, sollte vollzogen werden. Auch die deutsche Wirtschaftspolitik sollte sich europäischer ausrichten und Maßnahmen, etwa im Energiesektor, konsequenter unter Einbezug ihrer europäischen Auswirkungen hin konzipiert werden.
Europäischen Binnenmarkt ausbauen, Innovationskraft stärken
Die EU ist hinsichtlich ihrer Innovationsfähigkeit hinter die USA und in Teilen auch hinter China zurückgefallen. Draghi spricht (etwas beschönigend) von einer „Innovationslücke“, die sich seit den 2000er Jahren aufgetan hat. Dabei ist die mangelnde Produktivität in Europa mehr als eine Petitesse: „In the long run, productivity is almost everything“ (Krugman, 1997). Ohne Produktivitätswachstum wird Europa nicht aus dem Krisenmodus herauskommen.
Bei einer Analyse der Wirtschaftskraft stehen die Bedingungen im europäischen Binnenmarkt im Vordergrund. Skaleneffekte lassen sich in größeren Wirtschaftsräumen besser realisieren und bei internationalen Verhandlungen etwa über Standards oder Zölle, ist der Zugang zum europäischen Binnenmarkt das Pfund, mit dem die EU wuchern kann. Allerdings kann in vielen Bereichen von einem wirklichen „single market“ nicht die Rede sein. Energie, digitale Produkte und viele Dienstleistungen stoßen nach wie vor an nationale Grenzen.
Regulierung: Intensität verringern, mittelstands- und innovationsfreundlich ausrichten
70 % der laufenden Belastungen der Wirtschaft in Deutschland sind auf die Umsetzung von EU-Richtlinien zurückzuführen (Nationaler Normenkontrollrat, 2024, S. 91). Die Bestrebungen im Bund und in den Bundesländern durch „Bürokratieabbaugesetze“ den Unternehmen mehr Freiheiten zu verschaffen, sind von geringer Wirkung, wenn es nicht gleichzeitig gelingt, den europäischen Regulierungsdrang zu kanalisieren. Insbesondere die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), die den größten Teil der Unternehmen in der EU ausmachen, leiden darunter. Im Digitalsektor, wo Europa einen großen Rückstand aufweist, hat eine überbordende Regulierung Großunternehmen auf Kosten von Neugründungen und KMUs bevorteilt (Rzepecka et al., 2024).
Die Reduktion der Bürokratiekosten steht auf der Agenda der EU. Kommissionspräsidentin von der Leyen hat angeordnet, die Berichtspflichten in allen Bereichen um 25 % zu reduzieren (von der Leyen, 2023). Es sind aber nicht (nur) die Berichtspflichten, die Europa hemmen. Die Verordnung über künstliche Intelligenz (KI-Verordnung) oder die Datenschutzgrundverordnung bremsen Start-ups, nicht weil sie berichten müssen, sondern weil ihnen bestimmte Anwendungen untersagt werden. Die neue Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass Verordnungen dahingehend geprüft werden, ob sie zu einer Stärkung der kleinen und mittleren Unternehmen und zu mehr Innovationen in Europa führen.
Deregulierung ist insbesondere im digitalen Sektor notwendig, in dem sich die Innovationslücke zwischen Europa und den USA mittlerweile zu einer Innovationsschlucht ausgeweitet hat. Es ist notwendig, die KI-Verordnung innovationsfreundlich auszugestalten und kohärent mit anderen Regularien wie der Datenschutzgrundverordnung zu verbinden. Reallabore können helfen, den Einsatz innovativer Lösungen unter temporärer Aussetzung rechtlicher Regeln zu testen. „Regulatorisches Lernen“, bei dem auf Basis der Erkenntnisse die Regeln der KI-Verordnung im Verlauf der Zeit angepasst werden, sollte institutionell verankert werden, um der dynamischen technologischen Entwicklung der KI gerecht werden zu können (Bertschek & Wambach, 2024).
Innovationsförderung auf Disruptionen ausrichten
Deutschlands Innovationslandschaft ist Weltspitze bei inkrementellen Innovationen, der schrittweisen Verbesserung von Existierendem. Die Zusammenarbeit von Unternehmen, Forschungsinstituten und Universitäten ist gut etabliert. Viele Unternehmen der Sektoren Fahrzeugbau, Informations- und Kommunikationstechnik, Chemie/Pharma und Maschinenbau, den forschungsstärksten Industrien in Deutschland, sind weltweit führend. Die Digitalisierung und die damit einhergehenden Anwendungen sind aber häufig disruptiver Natur (Hottenrott & Wambach, 2023). Neue Geschäftsmodelle entstehen oder bestehende Modelle werden ganz neu strukturiert. Unternehmen in Deutschland versuchen sich in solchen Geschäftsmodellinnovationen, aber der Anteil ist geringer als das Potenzial der transformativen Prozesse erwarten ließe (Rammer et al., 2024).
Die Gründe für die europäische Schwäche bei Wachstumsunternehmen sind vielfältig und reichen von mangelnder Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnisse über regulatorische Hürden bis hin zu Finanzierungsnachteilen in Europa. Im Vergleich zu den USA und China sehen sich europäische Unternehmen einem in wesentlichen Teilen fragmentierten Markt gegenüber. Die Einführung einer neuen Rechtsform für innovative Unternehmen, die die europaweite Expansion erleichtert, würde dazu beitragen, diese Fragmentierung zu überwinden. Zur Wachstumsfinanzierung bedarf es zusätzlich der Ermöglichung flexiblerer Beteiligungsformen, etwa durch Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechten, sowie die weitere Reduzierung von Hürden bei Börsengängen.
Um disruptive Innovationen zu befördern, sollte der European Innovation Council (EIC) zu einer Agentur nach dem Vorbild der „DARPA“ weiterentwickelt werden. Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) ist eine dem amerikanischen Verteidigungsministerium unterstellte Agentur, die sehr erfolgreich Forschungsprojekte durchführt. Das EIC müsste entsprechend finanziell ausgestattet werden und der Fokus auf Hochrisiko-Projekte gelegt werden. Da es in Europa keine großen Digitalkonzerne wie in den USA gibt, bedarf es öffentlicher Investitionen in die Recheninfrastruktur, wie sie z. B. im Rahmen des European High-Performance Computing Joint Undertaking (EuroHPC JU) erfolgen. Der Anspruch ist dabei nicht, mit den Hyperscalern in den USA und ihren gewaltigen Rechenkapazitäten zu konkurrieren. Dies wird nicht zu erreichen sein. Stattdessen sind die eigenen Kapazitäten notwendig zum Aufbau und Vorhalten von Kompetenzen, die für Forschung und Entwicklung im europäischen Raum notwendig sind.
KI-Anwendungen benötigen Daten. Initiativen wie der European Health Data Space können dazu beitragen, durch das Zusammenführen von (Gesundheits-)Daten die Entwicklung besserer Diagnosen und Therapien zu ermöglichen. Ansonsten sind regionale Initiativen vorzuziehen, da die EU-Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Branchenstrukturen aufweisen.
Bankenunion und Kapitalmarktunion angehen
Dem Kapitalmarkt kommt eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung von Innovationen und der Transformation zu. Allerdings weist der europäische Kapitalmarkt in vielen Dimensionen Schwächen auf. So ist, anders als in den USA, (externes) Eigenkapital in Europa wesentlich teurer als Fremdkapital. Eigenkapital wird aber besonders von den Unternehmen benötigt, die in der Transformation einen hohen Finanzbedarf haben. Auch die europäischen Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups fallen hinter denen in den USA weit zurück. Eine Kapitalmarktunion kann dazu beitragen, den Zugang zu Finanzmitteln und dabei insbesondere den Zugang zu Eigenkapital für europäische Unternehmen und Start-ups signifikant zu verbessern (Europäische Kommission, 2020). Eine europäische gemeinsame Aufsicht der Kapitalmärkte würde es Investoren erleichtern, in Europa zu investieren (Véron, 2024). Europäische Finanzprodukte können dazu beitragen, die hohen privaten Ersparnisse in Europa für die Transformation zu mobilisieren. Gleichzeitig wird die europäische Wirtschaft mittelfristig maßgeblich von der Bankenfinanzierung abhängig bleiben. Ein Zwischenschritt wäre daher, das europäische Bankensystem stärker mit den Kapitalmärkten zu verzahnen, beispielsweise über Verbriefungen (Brückbauer & Kirschenmann, 2024).
Auch die Bankenunion ist nicht vervollständigt. Die Konsequenzen aus den Erfahrungen der Finanzkrise, insbesondere hinsichtlich Risikomanagement und Abwicklung von Banken, sind nicht ausreichend umgesetzt. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, die Voraussetzungen für eine umfassende Bankenunion, die auch eine europäische Einlagensicherung beinhaltet, zu schaffen.
Klimapolitik europäisch ausrichten
Binnenmarkt für Energie ausbauen
Die Gaskrise hat die Abhängigkeiten von Russland aber auch die gegenseitigen Verflechtungen im Energiemarkt in Europa offengelegt. Die europäischen Länder brauchen sich gegenseitig. Ohne einen konsequenten Ausbau der europäischen Energieinfrastrukturen wird sich die Transformation nicht bewältigen lassen. Deutschland etwa wird zukünftig Importeur von (grünem) Wasserstoff sein, der unter anderem in Spanien hergestellt wird, das bessere Voraussetzungen für erneuerbare Energien hat. Dafür bedarf es eines europäischen Wasserstoffnetzes (BMWK, 2024a).
Auch im Stromsektor sind die Landesgrenzen häufig eine hohe Barriere. Deutschland sollte konsequent mit den Nachbarstaaten den Ausbau der Grenzkuppelstellen forcieren. Dafür muss aber der Energiemarkt in Deutschland angepasst werden: Viele europäische Nachbarn beanstanden den grenzüberschreitenden Stromhandel mit Deutschland, weil der Strommarkt in Deutschland ineffizient aufgestellt ist und verzerrende Preissignale setzt. Eine Regionalisierung der Preisstruktur wird aber nicht nur aus europäischer Perspektive notwendig, sondern auch zum Umbau des deutschen Energiesystems, bei dem das Fehlen von regionalen Preisanreizen und Anreizen für Flexibilität zwei der wesentlichen Baustellen sind (Hirth et al., 2024; BMWK, 2024b).
Emissionshandel stärken, Regulierungen daran ausrichten
Das Leitinstrument der EU für die Transformation hin zur Klimaneutralität ist der Emissionshandel. Das erste Handelssystem, das seit 2005 in Kraft ist, deckt unter anderem die Sektoren Industrie und Stromerzeugung ab. Das zweite Handelssystem (EU-ETS II) für die Sektoren Wärme und Verkehr geht 2027 an den Start. Der Emissionshandel ist ein effizientes Instrument um die Klimaziele zu erreichen. Die Emissionsreduktion, die die US-Amerikaner mit ihrem Inflation Reduction Act erreichen, hätte man mit wesentlich geringeren Kosten über einen Emissionshandel erzielen können (Bistline et al., 2023). Die Bundesregierung sollte den Handel als Leitinstrument nutzen und die weitere Klimapolitik konsequent daran ausrichten. Viele regulatorische Maßnahmen werden redundant, wenn dieses Leitinstrument wirkt. So erfolgt die Dekarbonisierung in den Sektoren Wärme und Verkehr über den Markt, sobald der EU-ETS II beginnt. Darüber hinausgehende Regulierungen wie Flottenziele oder ein genaues Datum für ein Verbrennerverbot werden dann weniger notwendig. Die beiden Handelssysteme und ein weiteres Instrument der Klimapolitik, das System der europäischen Lastenteilung (Effort Sharing Regulation, ESR), sind allerdings nicht aufeinander abgestimmt. Die Bundesregierung sollte darauf hinwirken, die Überlappung zwischen dem EU-ETS II und der ESR aufzuheben bzw. Flexibilisierungsmöglichkeiten zu stärken, z. B. durch Märkte für den zwischenstaatlichen Handel mit Zertifikaten des ESR-Systems.
Nachteile im internationalen Wettbewerb verhindern
Europäischen Unternehmen, denen hohe Kosten bei der Vermeidung von CO2-Ausstoß entstehen, erleiden einen Wettbewerbsnachteil gegenüber Unternehmen in Drittstaaten, die diese Aufwendungen nicht haben. Dann lohnt sich die Verlagerung der Produktion in Drittstaaten, was weder klimapolitisch („carbon leakage“) noch wirtschaftspolitisch sinnvoll ist. Die EU will die europäischen Unternehmen durch einen Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) schützen und so ein „level playing field“ erreichen. CBAM leidet aber unter zwei fundamentalen Problemen. Zum einen hat er Lücken: Nur bestimmte Gütergruppen – Aluminium, Düngemittel, Eisen und Stahl, Strom, Wasserstoff, Zement – müssen beim Import in die EU einen Ausgleich zahlen. Hinzu kommt, dass die verarbeiteten Produkte nicht erfasst werden (Campolmi et al., 2024). Zum anderen bietet der CBAM in seiner jetzigen Form keine Lösung für das Problem des unfairen Wettbewerbs in Drittstaaten, bei dem europäische Unternehmen mit Klimakosten gegen Unternehmen ohne diese Kosten antreten. Die ursprüngliche Idee sah eine Kompensation für aus Europa heraus exportierende Unternehmen vor – einen Grenz-„Ausgleich“ in beide Richtungen (Beirat BMWi, 2021).
Die Schwächen des CBAM und die daraus resultierenden Wettbewerbsnachteile sind insbesondere für Deutschland mit einem der höchsten Industrie- und Exportanteile in Europa von Relevanz. Ohne einen wahren Grenzausgleich ist der Bundesregierung zu empfehlen, sich dafür einzusetzen, den Wettbewerbsnachteil für energieintensive und im internationalen Wettbewerb stehende europäische Unternehmen auszugleichen, etwa durch die Zuteilung kostenloser Zertifikate.
Europäische Sicherheit und Resilienz stärken
Verteidigungsindustrie weiter europäisieren
Die Ausgaben der EU für Verteidigung sind seit 1960 von über 3 % auf gut unter 2 % gefallen. Seit 2015 ist wieder ein Anstieg zu beobachten. Im Jahr 2022 wurden ca. 240 Mrd. Euro ausgegeben, etwa in der Größenordnung der Ausgaben Chinas von 275 Mrd. Euro und ca. das Dreifache der Ausgaben Russlands. Der europäische Verteidigungssektor hat jedoch grundlegende Schwächen. Wie auch Letta und Draghi in ihren Berichten betonen, ist die europäische Verteidigungsindustrie zu fragmentiert (Letta, 2024; Draghi, 2024). Ein Beispiel: EU-Mitgliedstaaten verwenden zwölf verschiedene Panzertypen während in den USA nur ein Modell produziert wird. Mögliche Skaleneffekte werden zu wenig genutzt. Fragmentierung führt zu Duplizierung und aufgrund von mangelnder Standardisierung auch zu schlechter Interoperabilität.
Ein weiteres Defizit ist die Nicht-Nutzung der Verteidigungsindustrie als Treiber von Innovationen und Wachstum. So geben die USA 16 % ihrer wesentlich höheren Militärausgaben für Forschung und Entwicklung aus, in der EU sind es nur 4,5 %. Ziviler Sektor und Verteidigungssektor können sich dabei gegenseitig stärken: Innovationen im Militärbereich finden sich später häufig im zivilen Bereich wieder, und umgekehrt werden viele Innovationen, insbesondere in Form von technischen Neuerungen, aus dem zivilen Sektor im Verteidigungssektor genutzt (Bertschek et al., 2024).
Eine vertiefte gemeinsame Beschaffung der EU-Staaten würde die europäische Verteidigungsindustrie stärken. Für Deutschland bietet sich dabei eine Chance, da deutsche Unternehmen in vielen Bereichen führend sind. Eine (gewünschte) Konsolidierung im Rüstungssektor würde mit der gemeinsamen Beschaffung einhergehen. Die von Draghi vorgeschlagenen „poles of competence“ würden eine erweiterte Spezialisierung der Industriestandorte bewirken, um Skaleneffekte und Synergien besser zu erreichen. „European Defence Projects of Common Interest“ können zu mehr Forschung und Entwicklung im Verteidigungssektor und darüber hinaus beitragen.
European Supply Security Office einrichten
Ein Großteil der Verarbeitung von kritischen Rohstoffen findet in China statt. Die meisten dieser kritischen Rohstoffe kommen aus nur wenigen Ländern. Die Abhängigkeiten bei strategischen Industrien wie etwa der Halbleiterindustrie sind auf den verschiedenen Stufen der Wertschöpfung unterschiedlich groß. In vielen Sektoren ist unklar, inwiefern die Unternehmen bereits durch eigene Maßnahmen wie Diversifizierung von Lieferanten und Lagerung Lieferkettensicherheit herstellen und an welcher Stelle darüber hinaus ein Eingreifen durch die öffentliche Hand notwendig ist. Stresstests der Sektoren hinsichtlich geopolitischer Risiken in Anlehnung an die Stresstests im Bankensektor können dazu beitragen, die systemischen Risiken zu identifizieren und Schwachstellen der Versorgungssicherheit festzustellen. Ein European Supply Security Office (Draghi spricht in seinem Bericht von einem „Supply Chain Assessment Board“) sollte eingerichtet werden, um Daten zu Lieferketten zur Verfügung zu stellen, Stresstests zu entwickeln, und Vorschläge für Sicherheitsmaßnahmen zu erarbeiten (Beirat BMWK, 2023).
Europäische Finanzierungsmöglichkeiten erschließen
Der Finanzierungsbedarf, um den Herausforderungen der deutschen und europäischen Wirtschaft gerecht zu werden, ist enorm. Der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) etwa empfiehlt für Deutschland jährliche Zusatzausgaben der öffentlichen Hand von ca. 40 Mrd. Euro, insbesondere für Investitionen in Infrastruktur, Gebäudesanierung und zur Unterstützung der Transformation (BDI, 2024). Draghi hält für Europa 800 Mrd. Euro jährlich an zusätzlichen Investitionen für notwendig, etwa 4,5 % des EU-BIPs.
Der derzeitige EU-Haushalt wird diesen Herausforderungen bei weitem nicht gerecht. Im europäischen Haushalt haben Politiken, die den Mitgliedstaaten gut berechenbare und sichtbare Rückflüsse garantieren, nach wie vor ein Übergewicht. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) und Kohäsionspolitik machen jeweils gut 30 % Budgetanteil im EU-Haushalt aus und tragen nur wenig zur Lösung der großen Probleme in Europa bei.
Rückführung der GAP- und Kohäsionsbudgets
In den nun beginnenden Verhandlungen zum Post-2027-Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) sollte sich die Bundesregierung dafür einsetzen, die Anteile von GAP und Kohäsionspolitik am EU-Haushalt zu reduzieren, um nennenswerte Budgetanteile für neue strategische Prioritäten freizusetzen. Die Kohäsionspolitik ist hinsichtlich ihres Ziels der regionalen Konvergenz von begrenzter Wirkung und leidet an einer Überfrachtung mit weiteren Zielen (Asatryan et al., 2024). Die GAP sollte durch eine Reduktion der bedingungslosen Hektarprämien mit ihren oft problematischen Verteilungswirkungen stärker in Richtung einer Incentivierung von Umweltgütern umgestaltet werden (Heinemann & Weiss, 2018). Die dadurch frei werdenden Mittel können zur Finanzierung neuer Ausgabeschwerpunkte im Bereich der europäischen öffentlichen Güter wie Verteidigung, Forschung und Migration eingesetzt werden. Hier könnte im MFR eine „European Public Good Pillar“ geschaffen werden. Kriterium für den Mitteleinsatz wäre das Vorliegen einer unstrittigen Aussicht auf einen hohen europäischen Mehrwert der finanzierten Maßnahmen.
Europäische Schulden nur bei strikteren Budgetregeln
Finanzierungsengpässe im EU-Haushalt durch neue EU-Schulden abzumildern geht mit eigenen Problemen einher. Der EU-Haushalt wird nicht aus eigenen EU-Steuerquellen gespeist, sondern durch nationale Eigenmittelzahlungen. Eine Konsequenz ist, dass neue EU-Anleihen kein „Safe Asset“ darstellen. EU-Anleihen werden an den Anleihemärkten im Vergleich zu deutschen Staatsanleihen als weniger sichere Assets bewertet (Heinemann, 2024). Die Reputation der EU als Gläubiger ist nur so gut wie die Qualität der Mitgliedstaaten, welche dem EU-Haushalt auch in Zukunft Mittel in Aussicht stellen. Insbesondere die großen EU-Mitgliedstaaten müssen sich daher wieder einen nennenswerten fiskalischen Spielraum erarbeiten, bevor eine Ausweitung von EU-Schulden in Betracht gezogen werden kann. Eine Härtung der europäischen Budgetregeln würde dazu beitragen.
Der europäische Investitionsbedarf ist gewaltig. Die europäische Infrastruktur – Energienetze, Schienen, Straßen und Breitbandleitungen – bedarf des Ausbaus. Der Wiederaufbau der Ukraine – auch eine europäische Aufgabe – muss finanziert werden. Die EU wäre gut beraten, die Möglichkeiten zu schaffen, solche Investitionsprogramme auf die Beine stellen zu können.
Literatur
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Title: Making Europe a Top Priority
Abstract: The fundamental challenges that Germany is facing – increasing productivity, combining the transformation to climate neutrality with economic growth, making the economy more resilient – cannot be tackled in large part without Europe. This is in the nature of things: resilience and security of supply cannot be achieved nationally, and reducing emissions is a global task. In addition, key levers are within the EU’s mandate. The new German government should therefore make European economic policy a top priority. German economic policy should take a more European approach.