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Dieser Beitrag ist Teil von Neuwahlen in Deutschland: Empfehlungen an die neue Bundesregierung

Vor etwas mehr als einer Dekade, am Ende des Jahres 2013, galt es ebenfalls, Empfehlungen an eine künftige Bundesregierung zu formulieren. In seinem Jahresgutachten 2013/14 sprach sich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR, 2013) — zum deutlich erkennbaren Missfallen großer Teile der sich neu formierenden Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzlerin Angela Merkel — vehement für die Hinwendung zu einer wirtschaftspolitischen Reformagenda aus. Viele der vor der deutschen Volkswirtschaft liegenden großen Herausforderungen, insbesondere der demografische Wandel, waren zu diesem Zeitpunkt schon deutlich erkennbar. Mit seinen Anregungen zu marktorientierten Reformen – insbesondere auf den Handlungsfeldern der Arbeitsmarkt- und Rentenpolitik, der Steuerpolitik und der Klimapolitik – verknüpfte der SVR die Erwartung, dass vorausschauendes Handeln aufkeimende Probleme frühzeitig mit vergleichsweise milden Eingriffen beheben und die für Engpasssituationen typischen Verteilungskämpfe entschärfen könnte. Diese Hoffnungen haben sich inzwischen zerschlagen, es sind stattdessen weitere Herausforderungen hinzugekommen; allen voran haben sich die geopolitischen Machtverhältnisse durch den Aufstieg Chinas verschoben.

Die seit Jahren abnehmende Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft und die düsteren Projektionen ihres Wachstumspotenzials legen nahe, dass all diese Herausforderungen nur dann erfolgreich bewältigt werden können, wenn das gesamtwirtschaftliche Leistungspotenzial revitalisiert wird. Dies wird aber wiederum wohl nur dann gelingen, wenn der bisherige Abwärtspfad zugunsten einer marktorientierten Agenda verlassen wird. Sonst dürfte es dabei bleiben, dass es staatlichem Handeln ein aufs andere Mal nicht gelingt, sich mit Mitteln der Detailsteuerung gegen aufkeimende Probleme zu stemmen und die gesteckten Transformationsziele prosperitätswahrend zu erreichen.

Vergleichende Bestandsaufnahme

Wie bereits im Jahr 2013 dreht sich auch der aktuelle Bundestagswahlkampf vielfach um Fragen der Umverteilung. Allerdings unterscheidet sich der Hintergrund dieses politischen Wettstreits deutlich. Statt auf der Grundlage einer guten wirtschaftlichen Situation der deutschen Volkswirtschaft wird er mittlerweile angesichts einer ebenso eklatanten wie verfestigten Wachstumsschwäche geführt: Den öffentlichen Haushalten sind die Spielräume im Zuge der Krisen der jüngeren Vergangenheit abhanden gekommen, und die Aussichten auf dem Arbeitsmarkt sind trotz des fortschreitenden demografischen Wandels eingetrübt.

Abbildung 1
Projektionen des Wachstumspotenzials der deutschen Volkswirtschaft
Projektionen des Wachstumspotenzials der deutschen Volkswirtschaft

Quelle: Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2024); eigene Berechnungen.

Zudem dürfte aktuellen Prognosen zufolge der schon lange ersehnte Konjunkturaufschwung weitgehend ausbleiben. Denn wie Abbildung 1 anhand von aktuellen Projektionen des gesamtwirtschaftlichen Wachstumspotenzials bis zum Ende dieses Jahrzehnts dokumentiert, reflektiert die aktuelle Schwäche offenbar strukturelle Probleme der deutschen Volkswirtschaft: Seit Mitte der 2010er Jahre geht es mehr oder weniger stetig bergab; vor allem gab es nach der Coronapandemie keine Aufwärtsrevision des Wachstumspotenzials. Für die kommenden fünf Jahre belaufen sich die Projektionen auf niedrige 0,4 % pro Jahr. Ebenso deutlich zeigt sich: In der Zeit der Ampel-Koalition fiel die Einschätzung ein ums andere Mal düsterer aus.

Im Jahr 2013 hatte der SVR noch bemängeln müssen, dass überwältigende Teile der Politik und der breiten Öffentlichkeit die starke wirtschaftliche Verfassung der deutschen Volkswirtschaft offenbar als ohnehin dauerhaft gesichert ansahen: Der wirtschaftspolitische Diskurs zeigte sich gegenüber den herannahenden Herausforderungen weitgehend ignorant. Auf dieser Grundlage gab es wenig Bereitschaft, sich mit Strukturreformen für eine stürmischere Zukunft zu wappnen. Stattdessen wurden vor allem die Reformen der Agenda 2010, die noch fast auf die gesamten 2010er Jahre positiv ausstrahlten, vielfach infrage gestellt.

Insbesondere wurden im Widerspruch zur empirischen Evidenz vehement Maßnahmen gefordert, um eine vermeintlich drastisch gestiegene Einkommensungleichheit zu lindern. Im weiteren Zeitverlauf wurde dann das sogenannte Arbeitslosengeld II als Synonym für einen unzureichenden Sozialstaat diffamiert. Die damals eingerichteten Anschläge auf die Demografiefestigkeit der gesetzlichen Rentenversicherung und die Arbeitsanreize erfahrener Arbeitskräfte – die Mütterrente bzw. die Rente mit 63 für langjährig Versicherte – erhöhten zudem die Belastung nachfolgender Generationen.

Im Laufe der folgenden Jahre wurden die in den 2000er Jahren erzielten Reformfortschritte letztlich weitgehend verspielt. Die mittlerweile im politischen Diskurs eingeübte Praxis, unerwünschte Ergebnisse aus dem Marktgeschehen nicht als Anlass zu einer Veränderung der Rahmenbedingungen für individuelles Handeln zu verstehen, wurde hier fest etabliert. Inzwischen ist es Routine, dass Maßnahmen wie ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn oder die Mietpreisbremse ein gewünschtes Marktergebnis herbeiführen sollen, ungeachtet ihrer tatsächlichen Wirkungen oder möglicher schädlicher Nebenwirkungen.

Einmal eingerichtet, haben sich derartige Maßnahmen als äußerst hartnäckig erwiesen. Es ist mehr als bezeichnend, dass die Ende des Jahres 2024 von der scheidenden Bundesregierung beschlossene Verlängerung der für die Schaffung von Wohnraumangebot kontraproduktiven Mietpreisbremse selbst von einschlägigen Beratungsgremien kaum noch kritisch diskutiert wurde. Offenbar treffen Reformvorschläge, die Privilegien beschneiden und mit der Aussicht auf künftige Früchte morgen zu Anstrengungen und Anpassungen heute aufrufen, nie auf sonderlich viel Gegenliebe. Die Mahnung des SVR im Jahr 2013, die – zum Großteil bereits erkennbaren – künftigen Herausforderungen würden deutlich leichter zu bewältigen sein, wenn die Bundesregierung(en) statt einer „eher rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik“ mit Blick auf die Zukunft Reformen bereits proaktiv in Gang setzen würde(n), ist jedenfalls verpufft.

Die Grundaussagen des Jahresgutachtens 2013/14 haben dennoch kein bisschen an Aktualität eingebüßt: „Eine Wirtschaftspolitik, die zukunftsgerichtet ist, vermeidet Maßnahmen, die künftig noch größeren Handlungsdruck erzeugen […] und verbessert die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Dies alles ist nötig, um […] das Wirtschaftswachstum Deutschlands zu stärken, die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungssysteme sicherzustellen und die deutsche Wirtschaftsordnung als ein Vorbild […] auszugestalten“ (SVR, 2013, S. 1–2).

Eine marktorientierte Fortschrittsagenda

Diejenige große Herausforderung für die deutsche Volkswirtschaft, auf die wir uns schon am längsten hätten vorbereiten können, ist zweifellos der demografische Wandel. Er zeichnet sich bereits seit mehreren Jahrzehnten ab. Zwar gab es in den 2010er Jahren eine „demografische Atempause“, verbunden mit einer langsam ansteigenden Belastung der Rentenkassen und sinkender Anforderungen an das Bildungssystem. Sie verstellte aber nur bei einer oberflächlichen Betrachtung den Blick auf die sich ab dem Eintritt in die 2020er Jahre auftürmenden Handlungserfordernisse. Die damalige Bundesregierung hatte vor diesem Hintergrund bereits im Jahr 2011 den SVR (2011) um eine Expertise gebeten, welche Konsequenzen sich aus diesem Wandel ergeben dürften. In der Essenz handelt es sich um zwei zentrale Auswirkungen, die eine ernsthafte wirtschaftspolitische Antwort erfordern: eine gedämpfte gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit und eine Erosion der Stabilität der umlagefinanzierten Systeme der sozialen Sicherung. Zudem war völlig klar, dass eine hohe Zuwanderung diese Probleme nur abmildern, nicht aber beseitigen konnte, an Reformen konnte dauerhaft kein Weg vorbeiführen. Zeit genug, diese Antworten zu finden, hätte man gehabt.

Im Laufe des vergangenen Jahrzehnts sind zwei weitere große Herausforderungen hinzugetreten. Zum einen ist dies die drohende Deglobalisierung: Deutsche Unternehmen hatten sich in den vergangenen Jahrzehnten wie die Akteure keiner anderen fortgeschrittenen Volkswirtschaft die stetig wachsenden Vorteile der internationalen Arbeitsteilung zunutze machen können. Nun müssen sie fürchten, dass die Welt zunehmend in rivalisierende regionale Blöcke zerfällt und ihre Rolle als Ausrüster des weltweiten industriellen Aufschwungs erodiert.

Zum anderen geht es um die Dekarbonisierung: Um bis Mitte dieses Jahrhunderts wie angestrebt auf vorbildhafte Weise die Klimaneutralität zu erreichen, muss zugleich die Leistungsfähigkeit der heimischen Volkswirtschaft gesichert werden. Ein Erreichen der Verpflichtungen zur Rückführung der Treibhausgasemissionen, das nur mit massivem Verzicht auf Wirtschaftsleistung gelingt, dürfte wohl kaum die gewünschten internationalen Nachahmer finden. Erforderlich ist vielmehr eine Energiewende, die ökonomisch effizient, sozial ausgewogen und prosperitätswahrend gestaltet ist (SVR, 2019a).

Wenngleich die durchgreifende Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft für diese großen Herausforderungen ein wichtiger Teil der Lösung sein kann, ist ihre Umsetzung zugleich eine Herausforderung in sich. Sie wird massive Investitionen sowie die radikale Veränderung von Geschäftsprozessen erfordern. In den vergangenen Jahren sind noch weitere große Herausforderungen hinzugetreten: Unter dem Stichwort der Resilienz gilt es, aufgrund der hohen Verletzlichkeit schlanker und ausdifferenzierter Liefer-, Innovations- und Wertschöpfungsketten hinreichende Vorkehrungen gegen ihre Störung zu treffen, um deren Eintreten zu verhindern und im Ernstfall rasch und wirkmächtig reagieren zu können (Kagermann et al., 2021).

Um für die digitalisierte und hoch-technologisierte Zukunft gerüstet zu sein, ist es für eine Volkswirtschaft ratsam, bei sogenannten Schlüsseltechnologien eine gewisse Souveränität zu bewahren. Um das Heft des Handelns bei Technologien, Gütern, Vorleistungen und Rohstoffen in der eigenen Hand zu behalten, sind der Zugang zu ihnen zu gewährleisten und die für ihre Nutzung erforderlichen Kompetenzen vorzuhalten (Expertenkommission Forschung und Innovation, EFI, 2022). Schließlich haben die vergangenen Jahre verdeutlicht, dass Deutschland und Europa im Gegensatz zu den Jahrzehnten davor wieder einen erheblichen eigenen Beitrag zur Gewährleistung ihrer äußeren Sicherheit leisten müssen (EFI, 2024).

In ihrer Gesamtheit sind diese Herausforderungen große Herausforderungen für die wirtschaftliche Prosperität Deutschlands. Um Lebensstandard, soziale Kohärenz und geopolitisches Gewicht zu erhalten, sind entsprechend erhebliche Anstrengungen erforderlich (Schmidt, 2024). Ein unverzichtbarer Startpunkt aller Überlegungen dazu ist die ebenso banale wie offenbar bei vielen politischen Entscheidungsträgern wenig ausgeprägte Einsicht, dass man im Leben nicht alle Ziele verwirklichen kann. Budgetrestriktionen und Zielkonflikte als Rahmenbedingungen der Lebenswirklichkeit anzuerkennen, fällt aber gerade in Wahlkampfzeiten offenbar schwer, was in der inhaltsleeren Floskel gipfelt, man dürfe wichtige gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ziele nicht „gegeneinander ausspielen“.

Die aktuellen Wachstumshemmnisse sind massiv, tiefgreifend und verfestigt: Daher gibt es wenig tiefhängende Früchte; Konjunkturpakete oder schuldenfinanzierte Strohfeuer werden wenig helfen, sondern drohen, die Probleme auf lange Sicht eher noch zu verschärfen. Stattdessen muss es darum gehen, (i) unternehmerisches Handeln zu entfesseln, denn es ist der Ursprung der Prosperität, (ii) staatliches Handeln, also den direkten Einflussbereich des Staates, zu verbessern und vor allem (iii) die Kraft aufzubringen, dem Widerstand gegen den akuten Populismus der politischen Ränder Glaubwürdigkeit zu verleihen, indem man die eigene Spaltungsrhetorik zurückfährt. Im Folgenden werden – mit mahnendem Blick zurück – ausgewählte Ausschnitte aus diesem Aufgabenspektrum diskutiert.1

Unternehmerisches Handeln entfesseln

Da die Quelle von Wertschöpfung und Prosperität unternehmerisches Handeln ist, wäre die Wirtschaftspolitik angesichts der aktuellen Leistungsschwäche der deutschen Volkswirtschaft gut beraten, zuallererst hier anzusetzen: Anstatt – wie in jüngster Zeit mehrfach geschehen – einzelne große Unternehmen und Technologien mit massiven Subventionen zu unterstützen und den Strukturwandel aufzuhalten, sollten Anreize und Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass sie Handlungsspielräume für unternehmerische Initiative und Risikobereitschaft bieten. Dazu müsste es gehören, die Steuer- und Abgabenlast für Unternehmen zu senken sowie die mittlerweile überbordenden Regulierungsanforderungen und Berichtspflichten zurückzufahren – angefangen mit einem sofortigen Verzicht auf deren weiteren Ausbau.

Ein diskriminierungsfreier Einsatz, aber keine Passivität, ist bei Fragen der Industrie- und Innovationspolitik geboten. Nach wie vor ist es angezeigt, im Kern einen horizontalen Ansatz zu wählen, also vor allem gute Rahmenbedingungen für unternehmerisches Handeln sowie für einen dynamischen Strukturwandel zu schaffen. Möglichst sektor- und technologieunabhängig gestaltete industrie- und innovationspolitische Maßnahmen sind darüber hinaus dort angezeigt, wo der Markt nachweislich versagt. Vertikale oder missionsorientierte Eingriffe in die Wirtschaftsstruktur sind zwar ebenfalls nicht auszuschließen, aber ihr Einsatz stellt hohe Anforderungen an die Kompetenz der staatlichen Institutionen bei ihrer Umsetzung (SVR, 2019b, S. 140–197; EFI, 2021).

Die Klimapolitik ist eine der zentralen Baustellen für eine echte Wende in der Wirtschaftspolitik. Natürlich ist seit dem Beginn des vergangenen Jahrzehnts beim Ausbau der erneuerbaren Energien viel geschehen, der vollständige Ausstieg aus der Kernenergie wurde vollzogen und der Kohleausstieg bei der Stromerzeugung folgt einem ambitionierten Plan. Zudem gibt es mittlerweile neben dem europaweiten CO2-Preis für Industrie und Energiewirtschaft eine nationale Bepreisung in den Bereichen Mobilität und Wärme. Doch nach wie vor fehlen Netz- und Speicherkapazitäten und die Deindustrialisierung des Landes schreitet voran (Schmidt & Schmidt, 2022).

Die Scheu vor marktorientierten Ansätzen bei der Energiewende ist keineswegs neu, sie plagt dieses Vorhaben seit ihrem Start. Der Sachverständigenrat schrieb im Jahr 2013: „Dieses Großprojekt wird derzeit ohne ein schlüssiges Gesamtkonzept verfolgt. […] Die Kosten der Förderung erneuerbarer Energien […] stellen nunmehr einen der größten Subventionstatbestände in Deutschland dar. Die Wirtschaftspolitik hat sich bisher lediglich um die Frage der Kostenverteilung gekümmert, statt um die zentrale Frage, wie die volkswirtschaftlichen Kosten des gesamtgesellschaftlichen Projekts Energiewende minimiert werden könnten“ (SVR, 2013, S. 9). Leider treffen diese Punkte nach wie vor ins Mark. Ebenso schmerzhaft ist es, wie unerfüllt nach wie vor die Anregungen geblieben sind, die Energiewende in eine europäische klimapolitische Strategie einzubetten, die den globalen Herausforderungen des Klimawandels gerecht wird, den Handel mit CO2-Emissionszertifikaten zum dominierenden Instrument der europäischen Klimapolitik auszubauen sowie auf die national ausgerichtete Förderung erneuerbarer Energien weitgehend zu verzichten.

Staatliches Handeln verbessern

Würde es gelingen, das Regulierungsdickicht und die Berichtspflichten der Unternehmen zurückzuschneiden, würden auch die Überwachungserfordernisse für die öffentliche Verwaltung sinken. Damit würden die Spielräume erweitert, um staatliches Handeln effizient auszurichten und unter anderem mit straffen Planungs- und Genehmigungsverfahren, deren Dauer aktuell für einen guten Teil des staatlichen Investitionsstaus verantwortlich sind, das unternehmerische Handeln besser zu unterstützen. Letztlich hat es der Staat bei den eigenen Leistungen am ehesten in der Hand, für mehr Wirtschafts- und Innovationsdynamik zu sorgen (Kussel et al., 2024).

Vor allem gilt es jedoch zu begreifen, dass die in den öffentlichen Haushalten entstehenden Spielräume durch eine Priorisierung von Ausgaben und wachstumsfördernde Reformen gewaltig sein dürften. Die aktuelle Diskussion kreist hingegen um Reformvorschläge zur Aufweichung der Schuldenbremse, unter der Fiktion, neu geschaffene Spielräume würden dann verlässlich allein für zukunftsorientierte Maßnahmen verwendet. Doch wenngleich neu eingerichtete Sondervermögen oder Infrastrukturfonds auf dem Papier attraktiv erscheinen mögen, ist doch fraglich, wie festgestellt werden soll, dass die investiven Maßnahmen, die ansonsten unter anderen Haushaltstiteln gefasst würden, unangetastet erhalten bleiben.

Schließlich wurden schon in den vergangenen Jahren viele der erarbeiteten Haushaltsspielräume für die Ausweitung des Sozialstaats genutzt, nicht für zukunftsorientierte Ausgaben. Überraschend ist das aus politökonomischer Sicht nicht. So schrieb der Sachverständigenrat im Jahr 2013: „Mit den richtigen Prioritäten können erforderliche Mehrbedarfe für öffentliche Investitionen im Rahmen der derzeitigen staatlichen Einnahmen bewältigt werden“ (SVR, 2013, S. 6). Das dürfte nach wir vor zutreffen. Ausweitungen, die durch politische Entscheidungen aufgebaut wurden, könnten auf gleichem Wege korrigiert werden, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist.

Der Staat hat noch eine weitere herausragende Aufgabe – die Sicherung des Angebots an Fachkräften, etwa durch Bildungsmaßnahmen, kontrollierte Zuwanderung und Maßnahmen zur Integration der Zugewanderten in den Arbeitsmarkt (Achleitner et al., 2023). Hier wäre bereits viel gewonnen, wenn der Staat in einer Ära des beschleunigten demografischen Wandels, der den Arbeitsmarkt mittlerweile in einen klaren Anbietermarkt verwandelt hat, zumindest darauf verzichtete, immer wieder neue Beschäftigungshürden einzubauen.

Spaltungsrhetorik beenden

Damit sehr eng verbunden, wäre schon lange mehr Ehrlichkeit beim Ungleichheitsdiskurs geboten. Wie Abbildung 2 dokumentiert, gilt nach wie vor, was der SVR im Jahr 2013 schrieb: „Die Analyse der Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland seit dem Jahr 1991 zeigt, dass – gemessen am Gini-Koeffizienten – die Ungleichheit lediglich moderat gestiegen ist. […] Diese Befunde stehen im klaren Gegensatz zu den zentralen sozialpolitischen Schlagworten der Parteien, mit denen im diesjährigen Bundestagswahlkampf für mehr Umverteilung, Steuerhöhungen und die Rücknahme von Teilen der Agenda 2010 geworben wurde“ (SVR, 2013, S. 8). Wie traurig, dass dieser empirische Befund so wirkungslos verhallt ist.

Abbildung 2
Entwicklung der Ungleichheit in der Verteilung der Haushaltsnettoeinkommen
Entwicklung der Ungleichheit in der Verteilung der Haushaltsnettoeinkommen

Quelle: SVR (2023); eigene Berechnungen.

Seit dieser Zeit hat sich – trotz einer massiven Einwanderung in die unteren Bereiche der Einkommensverteilung – nichts daran geändert, dass diese Verteilung bemerkenswert stabil geblieben ist. Darauf könnte man bei der internationalen Diskussion über die Vor- und Nachteile konkurrierender Wirtschaftssysteme stolz verweisen und offensiv für die Soziale Marktwirtschaft werben. Davon ist aber wenig zu sehen. Es wird wohl das Geheimnis so mancher politischer Wettbewerber bleiben müssen, wie sie sich einerseits als Bollwerk der Demokratie gegen die Populisten an den politischen Rändern vermarkten, aber andererseits zugleich mit Neidkampagnen die gesellschaftliche Spaltung befeuern können.

Ein eng damit verwandtes Thema ist die Stabilität der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV). Nachdem in den 2000er Jahren eingebrachte Weichenstellungen die Demografiefestigkeit der GRV noch erhöht hatten, war von der Notwendigkeit zur Vorsorge gegen den demografischen Wandel seit Beginn des vergangenen Jahrzehnts nichts mehr zu spüren. Wie der SVR schon in seiner Expertise im Jahr 2011 ausgeführt hatte, wäre die finanzielle Stabilität der GRV langfristig zu sichern, indem das Renteneintrittsalter ab dem Jahr 2029 regelgebunden weiter anstiege, orientiert an der Entwicklung der ferneren Lebenserwartung. Selbst dieser sanfte Übergang wird bislang zumeist vehement abgelehnt.

Geschichte reimt sich

Die hier vorgelegte Diskussion hat sich mit Blick auf die anstehende Bundestagswahl – mit der Ausnahme der Klimapolitik – vor allem auf die nationale Wirtschaftspolitik bezogen. Allerdings muss diese bewusst in den europäischen Kontext eingebettet werden. Schon im Jahr 2013 hatte der SVR angemahnt, dass aus Verantwortung für Europa dem Eindruck entgegenzuwirken sei, die Bundesregierung würde von anderen EU-Mitgliedstaaten gegebenenfalls unpopuläre Reformen erwarten, sich aber selbst zugleich vor solchen scheuen. Nach wie vor gilt, dass Deutschland der Anker einer europäischen Sozialen Marktwirtschaft und vor allem eines regelgebundenen Haushaltsgebarens sein sollte. Dazu braucht es nur eines: hinreichenden politischen Willen.

  • 1Lesenswert ist in diesem Zusammenhang beispielsweise das überzeugende Minderheitsvotum von Veronika Grimm im jüngsten Gutachten des SVR (2024, S. 136–146).

Literatur

Achleitner, A.-K., Kussel, G., Pavleka, S. & Schmidt, C. M. (2023). Innovationssystem Deutschland: Die Fachkräftesicherung in Deutschland unterstützen. acatech STUDIE.

EFI – Expertenkommission Forschung und Innovation. (2021). Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2021: B 1 Neue Missionsorientierung und Agilität in der F&I-Politik, 38–52.

EFI – Expertenkommission Forschung und Innovation. (2022). Gutachten zu Forschung, Innovation und technologischer Leistungsfähigkeit Deutschlands 2022: B 1 Schlüsseltechnologien und technologische Souveränität, 38–56.

EFI – Expertenkommission Forschung und Innovation. (2024). Synergieeffekte zwischen ziviler und militärischer Forschung klug nutzen. Wirtschaftsdienst, 104(10), 677–682.

Kagermann, H., Süssenguth, F., Körner, J., Liepold, A. & Behrens, J. H. (2021). Resilienz als wirtschafts- und innovationspolitisches Gestaltungsziel. acatech IMPULS.

Kussel, G., Pavleka, S. & Schmidt, C. M. (2024). Innovationssystem Deutschland: Effizienz und Agilität der öffentlichen Verwaltung erhöhen. acatech STUDIE.

Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose. (2024). Deutsche Wirtschaft im Umbruch – Konjunktur und Wachstum schwach. Gemeinschaftsdiagnose Herbst 2024.

Schmidt, C. M. (2024). Ohne Fleiß kein Preis – die deutsche Volkswirtschaft muss sich ihre Innovationsfähigkeit immer wieder neu erarbeiten. Wirtschaftsdienst, 104(4), 236–240.

Schmidt, C. M. & Schmidt, T. (2022). Defossilisierung vorantreiben und Deindustrialisierung vermeiden: möglich, aber schwierig. Wirtschaftsdienst, 102(12), 929–932.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2011). Herausforderungen des demografischen Wandels. Expertise.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2013). Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2013/14.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2019a). Aufbruch zu einer neuen Klimapolitik. Sondergutachten.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2019b). Den Strukturwandel meistern. Jahresgutachten 2019/20: Kapitel 3: Industriepolitik: Strukturwandel als Chance, 140–197.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2023). Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren. Jahresgutachten 2023/24.

SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. (2024). Versäumnisse angehen, entschlossen modernisieren. Jahresgutachten 2024/25: Kapitel 2: Zukunftsorientierung der öffentlichen Finanzen stärken—Eine andere Meinung, 136–146.

Ich danke Torsten Schmidt und Sabine Weiler für wichtige Hinweise.

Title: Against a Backward-Looking Economic Policy – Inconvenient Truths With a Long Half-Life

Abstract: In 2013, the German Council of Economic Experts advised the then future German government to pursue a decisively market-oriented economic reform agenda in the fields of labour market and pension policy, tax policy and climate policy. Yet, policy makers have ignored this advice, basically disregarding the foreseeable demographic transformation. Meanwhile, new additional challenges have emerged, which require a seriously revitalised German economy. Thus, the next German government should shift to a market-oriented course in its economic policy, particularly by unleashing entrepreneurial motivation.

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© Der/die Autor:in 2025

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Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert.


DOI: 10.2478/wd-2025-0008

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