Die deutsche Industrie befindet sich in der Krise. In den vergangenen Jahren ist die Industrieproduktion massiv zurückgegangen. Mittlerweile liegt sie auf einem Niveau, das – abgesehen vom Einbruch zu Beginn der Pandemie – zuletzt vor rund 15 Jahren registriert wurde. Im Vergleich zu 2019 hat sie um rund 10 % nachgegeben. Gleichzeitig ist die Kapazitätsauslastung in der Industrie deutlich zurückgegangen.1 Größere Schwankungen im Auslastungsgrad sind in der Industrie regelmäßig zu beobachten und könnten darauf hindeuten, dass die Produktion konjunkturell (bzw. temporär) gebremst wird und sie sich mit einer Besserung der Konjunktur rasch wieder erholen würde. Allerdings lag die Auslastung so niedrig wie zuvor nur während der Weltfinanzkrise im Jahr 2009 bzw. während der Pandemie und damit weit unter den Tiefpunkten, die in früheren normalen Rezessionen zu beobachten waren (Abbildung 1). Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß die niedrige Industrieproduktion auf konjunkturelle (bzw. temporäre) Faktoren oder auf einen dauerhaften Rückgang der Produktionskapazitäten in der Industrie zurückzuführen ist.
Abbildung 1
Kapazitätsauslastung in der Industrie

Quartalsdaten. Saisonbereinigt. Normale Rezessionen: Rezessionen außerhalb von Krisen.
Quelle: ifo Institut; Berechnungen des IfW Kiel.
Die Produktionskapazitäten in der Industrie lassen sich ähnlich wie das gesamtwirtschaftliche Produktionspotenzial nicht beobachten. Eine Möglichkeit die Entwicklung der Kapazitäten abzuschätzen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Industrieproduktion und der Kapazitätsauslastung. Die Unternehmen werden vom ifo Institut quartalsweise nach dem Auslastungsgrad ihrer Anlagen befragt: Veränderungen der Industrieproduktion, die sich nicht durch Schwankungen im Auslastungsgrad erklären lassen, sind demzufolge auf Veränderungen bei den Produktionskapazitäten zurückzuführen. Hierzu wird aus den Umfrageergebnissen zur Kapazitätsauslastung und den tatsächlichen Produktionswerten auf das (nicht beobachtbare) Kapazitätsniveau geschlossen. Für eine solche Abschätzung der Produktionskapazitäten sind recht strikte Annahmen notwendig. Insbesondere muss man davon ausgehen, dass sich der normale Auslastungsgrad in der Industrie über die Jahre nicht verändert hat. Zudem wird unterstellt, dass sich die Angaben der Unternehmen zur Auslastung auf die Industrieproduktion (bzw. auf die Warenfertigung) beziehen, nicht aber auf Dienstleistungsaktivitäten der Industrieunternehmen, wie z. B. Vertriebstätigkeiten oder Forschung und Entwicklung, die nicht in der Industrieproduktion abgebildet werden.
Dieser Vorgehensweise zufolge sind die Kapazitäten seit 2019 um rund 6 % gesunken (Abbildung 2). Demnach geht die derzeit niedrige Industrieproduktion zu erheblichen Teilen auch auf rückläufige Kapazitäten und nicht nur auf eine geringere Auslastung zurück. Auffällig ist, dass die so abgeschätzten Produktionskapazitäten kurzfristig recht hohe Schwankungen aufweisen. Für gewöhnlich wird angenommen, dass sich Produktionskapazitäten nur allmählich ändern. Die kurzfristigen Schwankungen könnten zum Teil damit zusammenhängen, dass die Angaben der Unternehmen vor allem in Krisenzeiten unpräziser sind bzw. vorübergehend einen anderen Zusammenhang mit der Industrieproduktion aufweisen als in normalen Zeiten. Denkbar ist, dass Unternehmen in Zeiten abnehmender Produktionskapazitäten – wenn z. B. Kapazitäten obsolet geworden sind – dazu tendieren, zunächst von einer sinkenden Auslastung ihrer bisher gewohnten Produktionskapazitäten zu berichten. Dies könnte aktuell dafür sprechen, dass die Produktionskapazitäten stärker zurückgegangen sind bzw. die äußerst niedrige Kapazitätsauslastung zukünftige Rückgänge bei den Produktionskapazitäten signalisiert, weil im Zuge des beschleunigten Strukturwandels noch bestehende (aber nicht mehr marktfähige) Kapazitäten nach und nach stillgelegt werden.
Abbildung 2
Produktionskapazitäten und Erwerbstätigkeit in der Industrie

Quartalsdaten. Saisonbereinigt. Produktionskapazitäten: Berechnet mittels der Abweichung der umfragebasierten Kapazitätsauslastung vom Mittelwert (1991 bis 2019); Durchschnitt über 4 Quartale.
Quelle: Statistisches Bundesamt; ifo Institut; Berechnungen des IfW Kiel.
Das Ergebnis spürbar rückläufiger Produktionskapazitäten in der Industrie steht im Einklang mit anderen Beobachtungen. So ist die Erwerbstätigkeit seit 2019 um mehr als 4 % gesunken, das Arbeitsvolumen sogar um über 7 %. Und dies, obwohl viele Unternehmen angesichts des Fachkräftemangels eher dazu tendieren dürften, sich mit Beschäftigungsabbau stärker als in früheren wirtschaftlichen Schwächephasen zurückzuhalten. Daher dürften die Beschäftigungsrückgänge zu einem Gutteil struktureller Natur sein. Zudem gibt es branchenspezifische Hinweise auf rückläufige Produktionskapazitäten in großen Wirtschaftszweigen. So dürfte sich die Produktion in den energieintensiven Branchen, die im Zuge der Energiekrise eingebrochen ist, angesichts der wohl auf absehbare Zeit relativ hohen Energiepreise in Deutschland nicht wieder vollständig erholen. In der Automobilbranche sind offenbar durch die Umstellung der Produktion zu Elektrofahrzeugen die Produktionskapazitäten dauerhaft gesunken (Falck et al., 2021).
Schließlich haben die Industrieunternehmen an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt. So berichten bereits seit einigen Jahren per Saldo deutlich mehr Unternehmen von einer Verschlechterung ihrer Wettbewerbsposition auf internationalen Märkten. Dies gilt in ähnlicher Weise sowohl für Märkte innerhalb als auch außerhalb der EU. Der Umstand, dass die Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit für deutsche Unternehmen ausgeprägter ist als für die Unternehmen im Euroraum insgesamt spricht dafür, dass auch länderspezifische Faktoren dazu beitragen. Im Einklang damit kann die Industrieproduktion bereits seit einiger Zeit nicht mehr mit der weltweiten Industrieproduktion Schritt halten, was ebenfalls gegen den Einfluss kurzfristiger konjunktureller Faktoren spricht.
Abbildung 3
Industrieproduktion und Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe

Quartalsdaten. Preis-, saison- und kalenderbereinigt. 2019 = 100.
Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des IfW Kiel.
Allerdings war die Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe zuletzt deutlich stabiler als die Industrieproduktion (Abbildung 3). So lag die Bruttowertschöpfung zuletzt nur rund 2,5 % unter dem Niveau von 2019. Entsprechend ist die Krise in der Industrie bislang auch nicht so stark auf die gesamte Wirtschaftsleistung durchgeschlagen, wie es der Rückgang der Industrieproduktion suggeriert. Grundsätzlich können mehrere konzeptionelle Unterschiede zu den Diskrepanzen beitragen (Lehmann & Wollmershäuser, 2024). Da einschlägige Ursachen, wie z.B. unterschiedliche Branchengewichtungen (die Industrieproduktion wird auf Basis fixer Branchengewichte ermittelt) oder sich verändernde Vorleistungsanteile (die Industrieproduktion bezieht Vorleistungen ein), die Diskrepanzen seit 2019 kaum erklären können, spricht einiges für steigende Dienstleistungsanteile an der Wertschöpfung der Industrieunternehmen als eine wesentliche Ursache. Da Dienstleistungen im Gegensatz zur Industrieproduktion bei der Bruttowertschöpfung berücksichtigt werden, könnte die Diskrepanz zwischen Produktion und Wertschöpfung maßgeblich der steigenden Dienstleistungsaktivität der Industrieunternehmen geschuldet sein. In diesem Fall würden Rückgänge der Produktionskapazitäten in der Warenfertigung einem Aufbau von Kapazitäten bei den Dienstleistungen gegenüberstehen.
- 1 Industrie und verarbeitendes Gewerbe werden im Folgenden als Synonym verwendet. Die Industrieproduktion umfasst neben dem verarbeitenden Gewerbe noch Bergbau und die Gewinnung von Steinen und Erden, die quantitativ jedoch kaum eine Rolle spielen.
Literatur
Falck, O., Czernich, N. & Koenen, J. (2021). Auswirkungen der vermehrten Produktion elektrisch betriebener Pkw auf die Beschäftigung in Deutschland (ifo Studie).
Lehmann, R. & Wollmershäuser, T. (2024). Struktureller Wandel im Verarbeitenden Gewerbe: Produktion unterzeichnet Bruttowertschöpfung. ifo Schnelldienst, 77(2), 55–60.