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Nach Vorstellungen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sollte die Bürgergeld-Reform nicht weniger als der Abschied von „Hartz IV“ sein, jener vor zwanzig Jahren von den beiden Parteien selbst ersonnenen, aber zusehends unbeliebteren Grundsicherung für Arbeitsuchende. Bei näherer Betrachtung erweist sich die propagierte Zäsur jedoch als überzeichnet. Das Bürgergeld bricht nicht mit der Vergangenheit, sondern bündelt vielmehr eine Vielzahl an Reformelementen, die in den Jahren zuvor entwickelt, regional erprobt und teils etabliert wurden. Entsprechend hätte die – mit dem Bruch der Ampel-Regierung nicht mehr beschlossene – Wachstumsinitiative auch keinen radikalen Kurswechsel dargestellt. Vielmehr war sie der neuerliche Versuch, fördernde und fordernde Elemente in eine andere Balance zu bringen.

Die Bürgergeld-Reform, wie sie von der SPD auf ihrem Parteitag 2019 in Grundzügen entworfen und mit dem 2022 verabschiedeten Bürgergeld-Gesetz beschlossen wurde, ist als fundamentaler Kurswechsel der sozialen Sicherung in Deutschland dargestellt worden. Mit dem Übergang zum Bürgergeld, so formulierte es Andrea Nahles 2019 in ihrer Zeit als SPD-Chefin, lasse man „Hartz IV“ nicht nur hinter sich, sondern stelle die Grundsicherung für Arbeitsuchende1 „vom Kopf auf die Füße“ (Niesmann & Peter, 2019). Das Bürgergeld sollte also eher als Revolution denn als Evolution verstanden werden, wie die bei keinem Geringeren als Karl Marx entlehnte Formel nahelegt.

Dabei sind es drei Prinzipien, die für die „revolutionäre“ Neuausrichtung des SGB II stehen (SPD, 2019): Mit dem Bürgergeld sollen die Leistungs­empfänger:innen erstens nicht mehr als „Hilfebedürftige“, sondern als „Bürger“ und damit als Träger:innen unveräußerlicher Rechte adressiert werden. Zweitens wird davon ausgegangen, dass die Leistungs­empfänger:innen (zumindest weit überwiegend) unverschuldet in Not geraten sind, die Unterstützung des Sozialstaats also tatsächlich brauchen und seine Leistungen nicht aus mangelndem Arbeitswillen und damit missbräuchlich in Anspruch nehmen. Daraus folgt drittens, dass an die Stelle rigider Zumutbarkeitskriterien und scharfer Sanktionsregelungen eine an den individuellen Bedarfen orientierte Unterstützung der Leistungsbezieher:innen auf ihrem Weg in eine bedarfsdeckende wie nachhaltige Beschäftigung treten soll.

An diese Überlegungen knüpft die so genannte Vertrauenssemantik des Bürgergeld-Gesetzes (Bundesregierung, 2022) an, die in den Reformüberlegungen des Parteitagsbeschlusses der SPD noch keine vergleichbar prominente Rolle spielte. In der Begründung des Bürgergeld-Gesetzes hingegen avanciert „Vertrauen“ zu einer Art Leitbegriff. Und dies in einem doppelten, komplementär zu den Überlegungen aus dem Jahr 2019 konstruierten Sinne: Zum einen als Vertrauensversprechen an die Leistungsempfänger:innen, dass der Sozialstaat sie bei der Bewältigung ihrer Probleme adäquat unterstützt und eben nicht verdächtigt, sich Leistungen bloß zu erschleichen; zum anderen als Vertrauensvorschuss des Sozialstaats an die Leistungsbezieher:innen und ihre redlichen Absichten zur Erwerbsintegration. Letzteres sollte nicht zuletzt in Gestalt der auf sechs Monate angelegten – im Vermittlungsausschuss jedoch gescheiterten – „Vertrauenszeit“ zum Ausdruck kommen, in der Leistungsminderungen rechtlich ausgeschlossen sein sollten. Aber auch die Etablierung eines Kooperationsplans – als Nachfolgerin der mit Rechtsfolgen kommunikativ belasteten Eingliederungsvereinbarung – sowie des Schlichtungsverfahrens für Konfliktfälle zwischen Bürger:innen und Arbeitsverwaltung zum Kooperationsplan lassen sich in diesem Sinne verstehen.

Das Bürgergeld ist kein radikaler Kurswechsel

Von dieser Warte aus betrachtet, könnte der Kontrast zum aktivierungspolitischen Narrativ der 2005 in Kraft getretenen vierten Stufe der „Hartz“-Reformen nicht größer sein. Diesem zufolge wird der (langfristige) Verbleib im Sozialleistungsbezug weniger als Ergebnis geringer Arbeitsnachfrage und damit als strukturelles Problem betrachtet, sondern als unbeabsichtigte Nebenfolge einer vermeintlich zu generös ausgestalteten sozialstaatlichen Absicherung. Das hohe Absicherungsniveau habe die Ausbildung von arbeitsmarktfernen Verhaltensmustern begünstigt und damit ungewollt zur mentalen Verfestigung des Leistungsbezugs beigetragen. Eng damit verknüpft war stets der Vorwurf, ein Teil der Leistungsempfänger:innen würde die staatliche Unterstützung ohne Not in Anspruch nehmen. Entsprechend sollte die (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt und damit die Überwindung der Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung vor allem über eine Anpassung der Arbeits- und Konzessionsbereitschaft realisiert werden.

Demgegenüber erscheint die Idee eines Bürgergelds tatsächlich als grundlegende Neuausrichtung der Grundsicherung. Mit dem Bürgergeld ist die Vorstellung einer zu etablierenden „Vertrauenskultur“ (Bundesregierung, 2022, S. 2) zwischen dem Sozialstaat und seinen unterstützungsbedürftigen Bürger:innen assoziiert. Zugleich ist damit die substanzielle Entschärfung sozialstaatlicher Sanktionsmöglichkeiten und die Priorisierung von nachhaltiger Arbeitsmarktintegration, nicht zuletzt ermöglicht durch verstärkte Investitionen in die berufliche Qualifikation der Leistungsberechtigten, verbunden (Bundesregierung, 2022, S. 128).

Bei näherer Betrachtung erweist sich die vor allem von der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen sowie von Teilen der FDP propagierte Zäsur der Bürgergeld-Reform jedoch als überzeichnet. Unterschätzt wird dabei, dass die Grundsicherung bereits zum Zeitpunkt der Beschlussfassung des SPD-Parteitages im Dezember 2019, erst recht aber zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bürgergeld-Gesetzes, nicht mehr viel mit ihrer programmatischen Grundausrichtung des Jahres 2005 gemein hatte. Spätestens mit Ende der mehrjährigen Konstitutionsphase2 der Grundsicherung für Arbeitsuchende, welche das Urteil des Verfassungsgerichtes aus dem Jahr 2010 zur Regelsatzberechnung und dessen gesetzliche Umsetzung im Folgejahr markiert, hatte sich das Sicherungssystem bereits weit vom anfänglichen Aktivierungsansatz entfernt.

Mit diesem Urteil wurde höchstrichterlich geklärt, was bis dahin vielfach „unbegriffen“ (Knuth, 2006) schien: Dass das SGB II nicht allein arbeitsmarktpolitischen Prinzipien verpflichtet ist, sondern als Rechtsnachfolgerin der „alten“ Sozialhilfe den grundgesetzlich verbürgten Auftrag hat, das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern. Nicht von ungefähr wurde diese richterliche Klarstellung hernach im ersten Paragrafen des SGB II fixiert, deren Wortwahl erkennbar dem Bundessozialhilfegesetz entlehnt ist. Demnach hat die Grundsicherung sicherzustellen, dass die Leistungsberechtigten ein Leben führen können, das der „Würde des Menschen“ entspricht.

Unabhängig davon hatte bereits 2006 eine politische Absatzbewegung von der aktivierungspolitischen Begründungsfigur eingesetzt, der zufolge vorwiegend motivationale Hemmnisse für die Verstetigung des Leistungsbezugs verantwortlich sind. Stattdessen gewann mit der Berücksichtigung der „multiplen Vermittlungs­hemmnisse“ eine andere Problemperspektive an Bedeutung, die auf die vielfältigen nicht-motivationalen Problemlagen der Leistungsbezieher:innen abstellte, darunter nicht zuletzt gesundheitliche Beeinträchtigungen. Gestützt wurde diese Perspektive von wissenschaftlichen Befunden, die nicht nur die starke Verbreitung solcher Hemmnisse nachwiesen, sondern auch deren erheblichen negativen Einfluss auf die Arbeitsmarktchancen belegten (Koch & Kupka, 2007; Achatz & Trappmann, 2011).

Prominent zum Ausdruck kam diese Perspektivverschiebung im Bericht der „Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt“, die vom damaligen Bundesarbeitsminister Franz Müntefering ins Leben gerufen wurde und die im Frühjahr 2007 ihren Abschlussbericht vorlegte. Demnach existiere eine nennenswerte Gruppe von Leistungsberechtigten, die sich „nur knapp oberhalb der Erwerbsunfähigkeits­schwelle“ befinde, „mehrfache Vermittlungs­hemmnisse“ (BMAS, 2007, S. 4) aufweise und folglich kurzfristig keine realistischen Arbeitsmarktchancen mehr habe. Um dem zu begegnen, wurde mit dem Beschäftigungszuschuss ein Instrument geschaffen, das nicht nur eine besonders arbeitsmarktferne Gruppe unter den Leistungsberechtigten adressierte, sondern vorrangig die desintegrativen Folgen eines langjährigen Ausschlusses vom Arbeitsmarkt kompensieren sollte (Ramos Lobato et al., 2023). Erstmals in der Geschichte der bundesdeutschen Arbeitsförderung bestand zudem die Möglichkeit einer dauerhaften Förderung. Insofern markiert der Beschäftigungszuschuss gleich in mehrfacher Hinsicht einen frühen „Bruch mit der Aktivierungslogik“ (Bauer et al., 2010, S. 274).

Elemente des Bürgergelds vorweggenommen

Noch etwas fraglicher erscheint die behauptete Gegensätzlichkeit von Bürgergeld und „Hartz IV“, wenn man all jene Änderungen bedenkt, die in den Jahren vor der Reform bereits erfolgten. In der Entwicklungsphase der Grundsicherung für Arbeitsuchende entfaltete sich die Perspektiv­verschiebung von „Aktivierung und Vermittlung“ zu „Beratung und Teilhabesicherung“ in Gestalt diverser Projekte, Initiativen, Programme und Regelungen.3 Dabei war der explizite oder implizite analytische Ausgangspunkt vielfach eine am Capability-Ansatz von Sen (2002; siehe auch Penz, 2012) ausgerichtete Programmatik: Demnach ist die „Verwirklichungschance“ auf Arbeitsmarktteilhabe – und damit auf einen Autonomiegewinn der Leistungsberechtigten – nicht nur eine Frage individueller Fähigkeiten (worunter man auch deren Motivation subsummieren kann), sondern immer auch von strukturellen Handlungsoptionen.

Daran orientierte sich nicht nur die Weiterentwicklung des Förderangebots in Richtung eines ganzheitlichen Ansatzes (z. B. Betreuung, Coaching, Betriebsakquisition, Förderung schwer zu erreichender Jugendlicher etc.), sondern auch und vor allem die Erweiterung des Beratungsmandats der Jobcenter. Die Erfüllung eines umfassenden Beratungsauftrags zur Sicherung der Arbeitsmarkteilhabe bildet neben der monetären Existenzsicherung dabei eine zentrale Säule der Grundsicherung und ihrer sozialstaatlichen Aufgaben.

Auch sind in die Bürgergeld-Reform einige gesetzliche Regelungen aus den Krisenjahren seit 2020 eingegangen. Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und Ukraine-Krieg wurden Anpassungen auf den Weg gebracht, die das Bürgergeld-Gesetz (teils in modifizierter Form) aufgegriffen hat. Dies gilt nicht zuletzt für die unter dem Namen „Sozialschutz-Paket“ bekannten erleichterten Zugangsbedingungen, die ab März 2020 geschaffen wurden, um auch in solchen Fällen eine ökonomische Absicherung zu gewährleisten, in denen kein Anspruch auf Arbeitslosengeld (mehr) bestand, Grundsicherungsleistungen aufgrund von Vermögenswerten oberhalb der bis dahin geltenden Freibetragsregelungen aber nicht hätten gewährt werden können. Als Karenzzeit für Vermögen bzw. Wohnen wurde diese Regelung mit dem Bürgergeld-Gesetz schließlich auch für die postpandemische Zeit im SGB II verankert.

Wie die erleichterten Zugangsbedingungen steht auch das insbesondere von der Partei Bündnis 90/Die Grünen angestrebte, bereits im Februar 2022 entworfene Sanktionsmoratorium für eine große Distanz zur Programmatik der Gründungsjahre der Grundsicherung und nahm zugleich Regelungen vorweg, die mit der „Vertrauenszeit“ im Bürgergeld-Gesetz dauerhaft eingeführt werden sollten. Auch wenn die „Vertrauenszeit“ selbst nicht eingeführt wurde, etablierte die Bundesagentur für Arbeit (BA) in einer Weisung zum Kooperationsplan ein Vorgehen, das dem Gedanken der „Vertrauenszeit“ denkbar nahekam. Demnach sollen Erstberatung und Folgetermine sowie Maßnahmenzuweisungen und Vermittlungsvorschläge ohne Rechtsfolgenbelehrung (und damit ohne Möglichkeit von Leistungsminderungen) auskommen, solange die Leistungsbezieher:innen kooperieren. Mit Blick auf die in der Bürgergeldreform als innovativ herausgestellte „Vertrauenssemantik“ ist schließlich zu bemerken, dass die Leistungsberechtigten bereits seit Jahren ihren Kontakt zum Jobcenter mehrheitlich als positiv bewerten, wie eine Reihe von Befragungen gezeigt haben (siehe etwa Tisch, 2010; Stockinger & Zabel, 2020).

Es lässt sich festhalten, dass die Bürgergeld-Reform weder den programmatischen Grundlinien des SPD-Parteitagsbeschlusses aus dem Jahr 2019 nach noch in Gestalt der 2023 realisierten gesetzlichen Änderungen das ist, was die Formel von einer „Überwindung von Hartz IV“ versprach: nämlich einen paradigmatischen Wechsel in der Geschichte der Grundsicherung (mit ähnlicher Stoßrichtung siehe Beckmann, 2023; Börner & Kahnert, 2024). Dass etwas anderes suggeriert wurde, mag am Selbstverständnis der politischen Akteur:innen liegen, ändert am Ergebnis aber nur wenig. Das Bürgergeld, als politisches Konzept wie als konkretes Reformprogramm, bricht nicht radikal mit der Vergangenheit. Vielmehr bündelt es eine Vielzahl an Problemperspektiven und Lösungsansätzen, die über Jahre hinweg entwickelt, regional erprobt und teils bereits etabliert wurden. Gleichzeitig schafft es neue gesetzliche Rahmenbedingungen, um die Nutzung und Weiterentwicklung dieser Lösungsansätze zu erleichtern.

Ebenso wenig sollte in diesem Zusammenhang unerwähnt bleiben, dass die Überwindung der Hilfebedürftigkeit durch die Aufnahme von Erwerbsarbeit weiterhin konstitutives gesetzliches Ziel des Bürgergeldes ist. Das schließt die Bemühungen um nachhaltige(re) Arbeits­marktintegrationen ein, deren Anteil an allen Beschäftigungsaufnahmen aber bereits in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zugenommen hat (BA, 2024). Ebenso können die Jobcenter die Mitwirkung der Bürgergeldbezieher:innen an der Realisierung dieses Ziels einfordern und sie im Verweigerungsfalle auch mit Leistungskürzungen belegen. Zudem gilt weiterhin, dass eigene Einkommens- und Vermögenswerte grundsätzlich für die Unterhalts­sicherung eingesetzt werden müssen. Demnach wurde mit dem Bürgergeld weder die Konditionalität von Grundsicherungsleistungen noch deren Nachrangigkeit aufgegeben.

Wo steht die Grundsicherung heute?

Wenn das Bürgergeld aber nun nicht jener radikale Kurswechsel ist, als der er von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gerne gesehen und in der aufgeregten öffentlichen Debatte bisweilen verdammt wird, wie sind dann die bereits erfolgten oder von der Ampel-Regierung noch angestrengten Änderungen am Bürgergeld zu bewerten? Die nüchterne Antwort lautet: Es handelt sich nicht um eine inhaltliche Abkehr vom Bürgergeld, sondern um eine in Anbetracht der Geschichte der Grundsicherung wenig überraschende Balancierung der Ausgestaltung.

Zur Erinnerung: Bereits vor der Einführung des Bürgergeldes musste die Ampel-Regierung im Vermittlungsausschuss Änderungen an ihrem ursprünglichen Gesetzesentwurf akzeptieren, darunter verkürzte Dauern der Karenzzeiten, geringere Vermögensfreibeträge sowie der Verzicht auf die bereits erwähnte „Vertrauenszeit“. Gut ein Jahr nach Inkrafttreten des Bürgergeld-Gesetzes hatte die Ampel-Regierung mit dem Zweiten Haushaltsfinanzierungsgesetz selbst Änderungen des Gesetzes initiiert. Hierzu gehörten die Einführung der Möglichkeit einer vollständigen Minderung der Regelleistung bei nachhaltiger Arbeitsverweigerung sowie die Abschaffung des Bürgergeldbonus, der als finanzieller Anreiz für die Teilnahme an bestimmten arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gedacht war.

Wenige Monate später wurden im Rahmen der „Wachstumsinitiative“ (Bundesregierung, 2024) weitere SGB-II-Änderungen angestrengt, die ursprünglich noch im Jahr 2024 vom Bundestag beschlossen werden sollten, nach dem Auseinanderbrechen des Regierungsbündnisses aber nicht mehr realisiert wurden. Mit Ausnahme der öffentlich kontrovers diskutierten Anschubfinanzierung (Weber, 2024), die als Anreiz zur Aufnahme von und zum Verbleib in bedarfsdeckender Erwerbsarbeit konzipiert ist, hätten die übrigen Änderungen die geltenden Regelungen zur Zumutbarkeit von Erwerbsarbeit und zu den Leistungsminderungen verschärfen sollen. Arbeitslose Leistungsberechtigte sollten zudem monatlich zu einem persönlichen Gespräch eingeladen werden, wenn dies für ihre Eingliederung in Arbeit erforderlich ist. Die angestrebte Intensivierung der Zusammenarbeit von Jobcentern und Zollbehörden sollte Schwarzarbeit unter Bürgergeldbezieher:innen bekämpfen.

Mit diesen Änderungen wollte die Bundesregierung bei jenen Elementen nachsteuern, die im Zentrum der Kritik an der Bürgergeld-Reform stehen, selbst wenn deren Ursprünge zum Teil bereits vor der Bürgergeld-Reform liegen (zur Einschätzung der Jobcenter siehe Beckmann et al., 2024; Bernhard et al., 2024). Bei den Leistungsminderungen wäre man faktisch zu jenen Regelungen zurückgekehrt, wie sie unmittelbar nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019 galten. Diese wären unbestreitbar schärfer ausgefallen, als dies nach Inkrafttreten des Bürgergeld-Gesetzes der Fall war und bis heute ist, wären aber selbstredend nicht über jene roten Linien hinausgegangen, die das Verfassungsgericht in seinem Urteil aus dem Jahr 2019 gezogen hatte.

An einigen Zielen der Bürgergeld-Reform wurde jedoch unverändert festgehalten. So etwa am Ziel einer nachhaltigen Arbeitsvermittlung und der dafür wichtigen Rolle beruflicher Weiterbildung, ebenso wie an dem Bemühen um eine kooperative Zusammenarbeit mit den Bürgergeld­bezieher:innen. Die Initiative „Job-Turbo“ für geflüchtete Menschen im SGB II verdeutlicht zugleich, dass mit der Bürgergeld-Reform das Ziel der Eingliederung in Arbeit nicht aus den Augen verloren wurde.4 Zwar wurde der Vermittlungsvorrang abgeschafft, dieser aber keineswegs durch einen „Qualifizierungsvorrang“ ersetzt. Auch die kritisierten Änderungen des Leistungsrechts, allen voran die kurzfristige Anpassung der Regelleistung als Reaktion auf inflationsbedingte Preisentwicklungen sowie die Karenzzeit Wohnen, wollte die Bundesregierung ebenso unangetastet lassen wie die Leistungen zur Eingliederung in Arbeit für Langzeitleistungsbezieher:innen – etwa die mit dem Bürgergeld-Gesetz entfristete Förderung nach § 16i SGB II oder das neu geschaffene Coaching nach § 16k SGB II.

Auch wenn die Änderungen der Wachstumsinitiative alles andere als unerheblich gewesen wären, kann von einer Rückabwicklung der Bürgergeld-Reform keine Rede sein. Dies wäre schon allein deshalb nicht ohne weiteres möglich, weil ihre zentralen Elemente Ausdruck und Ergebnis eines langfristigen institutionellen Lernprozesses sind. Auch die angedachten Änderungen des Leistungsminderungsrechts hätten keinen Widerspruch zur Bürgergeld-Reform, ihren politischen Intentionen und dem zugrundeliegenden Menschenbild dargestellt, sondern wären eine Ergänzung, wenn nicht sogar eine notwendige Korrektur gewesen. Gerade eine Reform, die von grundsätzlich arbeitsorientierten und regelkonformen Leistungsberechtigten ausgeht, benötigt eine institutionelle Absicherung seiner finanziellen und legitimatorischen Resilienz durch durchsetzbare Regeln der Mitwirkung und wirksame monetäre Anreize. Anders formuliert: In der Grundsicherung bedarf es einer angemessenen Balance zwischen unterstützend-beratenden und fordernden Elementen. Diese herzustellen, bleibt ein fortwährender gesellschaftspolitischer Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen Interessen, der niemals abgeschlossen werden kann.

Die Autoren vertreten in diesem Beitrag ausschließlich ihre persönliche Meinung.

  • 1 Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir im Text häufig die Kurzform „Grundsicherung“
  • 2 Wir unterscheiden drei Phasen in der historischen Entwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende: Die Konstitutionsphase (2005 bis 2010), die Entwicklungsphase (2011 bis 2019) sowie die Krisenphase (ab 2020), in die auch die Einführung des Bürgergelds und der damit verbundene Versuch einer politischen Neuausrichtung der Grundsicherung für Arbeitsuchende fällt (Gellermann et al., 2025).
  • 3 Beispielhaft sei verwiesen auf das Bundesprogramm „Perspektive 50plus“, die „Berliner Joboffensive“, Modellprojekte öffentlich geförderter Beschäftigung in Nordrhein-Westfalen, das ESF-Bundesprogramm zur Eingliederung langzeitarbeitsloser Leistungsberechtigter, verschiedene Projekte der LZA-Schwerpunktregionen der Bundesagentur für Arbeit (BA), die Weiterentwicklung der Beratungskonzeption der BA, das Bundesprogramm Soziale Teilhabe, das 9. SGB II-Änderungsgesetz (insb. § 16g und § 16h SGB II) und schließlich das Teilhabechancengesetz. Experimente auf der lokalen Ebene müssen hier leider unberücksichtigt bleiben.
  • 4 Wenngleich diese Initiative und womöglich auch die damit verbundenen politischen Steuerungssignale von Seiten der Praxis eher reserviert aufgenommen wurden. So wird etwa in Befragungen von Jobcenter-Beschäftigten zum Bürgergeld der „Job-Turbo“ als deutlich „weniger sinnvoll“ bewertet als unterstützend-beratende Elemente wie etwa Coaching (§ 16k SGB II) oder Teilhabe am Arbeitsmarkt (§ 16i SGB II) (Bernhard et al., 2024).

Literatur

Achatz, J. & Trappmann, M. (2011). Arbeitsmarktvermittelte Abgänge aus der Grundsicherung. Der Einfluss von personen- und haushaltsgebundenen Barrieren. IAB-Discussion Paper, 02/2011.

BA – Bundesagentur für Arbeit. (2024). Entwicklung nachhaltiger Arbeitsmarktintegration von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten des SGB II. (Sonderbestellung: Auftragsnummer 360038).

Bauer, F., Franzmann, M., Fuchs, P. & Jung, M. (2010). Unbefristet öffentlich geförderte Beschäftigung: Ein Novum in der aktivierenden Arbeitsmarktpolitik. Zwischenergebnisse aus einer Implementationsanalyse zu § 16e SGB II. Sozialer Fortschritt, 59(10/11), 273–278.

Beckmann, F. (2023). Wie viel Hartz IV steckt im Bürgergeld? Eine institutionentheoretische Analyse. Sozialer Fortschritt, 72(1), 55–74.

Beckmann, F., Heinze, R. G., Schad, D., Schupp, J. (2024). Erfahrungsbilanz Bürgergeld: Jobcenterbeschäftigte sehen kaum Verbesserungen. DIW-Wochenbericht, 17/2024.

Bernhard, S., Osiander, C. & Ramos Lobato, P. (2024). Jobcenter-Beschäftigte finden die verschiedenen Elemente des Bürgergelds unterschiedlich sinnvoll. Serie „Bürgergeld“. IAB-Forum.

BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales. (2007). Bericht der „Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt“.

Börner, S. & Kahnert, P. (2024). Von Hartz IV zum Bürgergeld – weniger Konditionalität. In M. Opielka & F. Wilke (Hrsg.), Der weite Weg zum Bürgergeld. Perspektiven der Sozialpolitik (S. 15–38). Springer.

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Gellermann, J., Penz, R. & Ramos Lobato, P. (2025). Im Spannungsfeld von Arbeitsmarkt- und Teilhabepolitik – 20 Jahre institutioneller Wandel der Grundsicherung für Arbeitsuchende (in Vorbereitung).

Knuth, M. (2006): „Hartz IV“: die unbegriffene Reform, Sozialer Fortschritt, 55(7), S. 160-168.

Koch, S. & Kupka, P. (2007). Geförderte Beschäftigung für leistungsgeminderte Langzeitarbeitslose? Expertise. WISO Diskurs.

Niesmann, A. & Peter, T. (2019). „Wir lassen Hartz IV hinter uns.“ Andrea Nahles im RND-Interview.

Penz, R. (2012). Steuerung des institutionellen Wandels. Das Beispiel der rot-grünen Arbeitsmarktreformen. In B. P. Priddat (Hrsg.), Diversität, Steuerung, Netzwerke (S. 53–74). Metropolis.

Ramos Lobato, P., Globisch, C. & Lange, J. (2023). Das Teilhabechancengesetz – Geschichte, Zielsetzung und Ausgestaltung der Förderinstrumente. Sozialer Fortschritt, 72(9-10), 673–689.

Sen, A. (2002). Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft. dtv.

SPD. (2019). Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit. Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit. Beschluss Nr. 3 des Ordentlichen Bundesparteitags 2019.

Stockinger, B. & Zabel, C. (2020). Bewertung der Betreuung und Beratung in den Jobcentern: Leistungsberechtigte bedürfen oft besonderer Unterstützung. IAB-Kurzbericht 23/2020.

Tisch, A. (2010). Kundenzufriedenheit im SGB II: Arbeitsvermittler im Urteil der ALG-II-Empfänger. IAB-Kurzbericht 07/2010.

Weber, E. (2024). Eine Anschubhilfe im Bürgergeld könnte die Erwerbsanreize erheblich stärken. IAB-Forum.

Title:Where Does the Basic Income Support for Jobseekers Stand After the Bürgergeld Reform?

Abstract:According to political parties SPD and Bündnis 90/Die Grünen, the “Bürgergeld” or welfare reform should be nothing less than a farewell to “Hartz IV”, the basic income support for jobseekers that was designed by the same parties almost twenty years ago as a reform of the system of unemployment and welfare benefits. On closer inspection, however, the propagated caesura proves to be exaggerated. The reform does not break with the past, but rather combines a large number of reform elements that were previously developed, regionally tested and partly established. Accordingly, the growth initiative (Wachstuminitiative) – which ended when the current government coalition broke up – would not have represented a radical change of course either. Rather, it was a renewed attempt to bring elements into a different balance.

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DOI: 10.2478/wd-2025-0016