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Dieser Beitrag ist Teil von Beschäftigung im Wandel: Wie KI, Demografie und Institutionen den Arbeitsmarkt verändern

Das Tarifeinheitsgesetz will Tarifkollisionen verhindern und dadurch die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern. Sofern die Tarifvertragsparteien Tarifkollisionen nicht durch freiwillige Kooperation vermeiden können, findet das Mehrheitsprinzip Anwendung: Es gilt immer der Tarifvertrag, der mehr Beschäftigte betrifft. Die Bilanz fällt nach zehn Jahren gemischt aus. In den Sektoren mit rivalisierenden Gewerkschaften ist es zwar zu tarifautonomen Vereinbarungen gekommen, wodurch Tarifkollisionen weitgehend vermieden wurden. Da sich aber keine Tarifgemeinschaften gebildet haben, ist die erhoffte befriedende Wirkung weitgehend ausgeblieben.

In den 2000er Jahren erstritten verschiedene Berufsgruppengewerkschaften ihre tarifpolitische Eigenständigkeit. Betroffen waren vor allem der Verkehrs- und Kranken­haussektor.1 Im Verkehrssektor kündigten die Pilotenvereinigung Cockpit (VC) und die Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (UFO) ihre Verhandlungsgemeinschaften mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ihre Tarifgemeinschaft mit der damaligen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (Transnet) sowie der Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamter und Anwärter (GDBA). Bei den Kliniken beendete die Ärztegewerkschaft Marburger Bund (MB) die tarifpolitische Zusammenarbeit mit ver.di. Alle Berufsgruppengewerkschaften verfügten über eine besondere Durchsetzungsstärke und Streikmacht, da sie Berufe in Schlüsselstellungen organisierten.

Vorgeschichte und Ziele des Tarifeinheitsgesetzes

Treiber der Autonomiebestrebungen waren eine zunehmende Unzufriedenheit bestimmter Berufsgruppen mit den Ergebnissen der Tarifpolitik und die Befürchtung, spezifische Interessen in der 2001 neu gegründeten Großgewerkschaft ver.di nicht durchsetzen zu können (Lesch, 2008; Schröder & Greef, 2008; Keller, 2020, S. 440). Auch die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG), mit der einige Berufsgruppengewerkschaften bis dahin eng zusammengearbeitet hatten, war in ver.di aufgegangen. Die DAG war (ebenso wie die Berufsgruppengewerkschaften) nicht im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) organisiert.

Die Autonomie der Berufsgruppengewerkschaften warf mehrere Probleme auf (Bachmann et al., 2011, 2012; Bachmann & Schmidt, 2012, 2015; Giesen, 2009; Haucap, 2012; Lesch, 2008, 2015; Lesch & Petters, 2012; Schnabel, 2015; Schröder & Greef, 2008):

  • Das Solidarprinzip wurde verletzt. In Tarifverhandlungen war es üblich, dass bestimmte Berufsgruppen ihre Durchsetzungskraft nutzen, um für alle Berufsgruppen höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu erstreiten. Nun fielen nicht nur wichtige „Speerspitzen“ eines Arbeitskampfes weg. Es war auch zu befürchten, dass streikmächtige Gewerkschaften aus den Tarifverhandlungen mehr für ihre Mitglieder herausholen und die Lohnhöhe weniger durch die Leistungsfähigkeit als durch die Streikmacht bestimmt würde.
  • Der Grundsatz der Tarifeinheit wurde entwertet. Nach diesem über Jahrzehnte dominierenden Ordnungsprinzip sollte in einem Betrieb immer nur eine Gewerkschaft verhandeln. Sofern es mehrere Gewerkschaften gab, verhandelten sie meist als Tarifgemeinschaft mit den Arbeitgebern (oder es setzte sich der sachnähere Tarifvertrag durch). Durch die Konkurrenz zwischen Gewerkschaften entstanden nun mehrere, teils konkurrierende Tarifverträge. Dadurch stiegen der Verhandlungsaufwand und die Zahl der Konflikte.
  • Befürchtet wurde, dass die Konkurrenz zwischen einzelnen Gewerkschaften das Aufschaukeln von Lohnforderungen begünstige und im Zuge dessen Tarifverhandlungen konfliktintensiver würden.

Die Debatte gewann an Intensität, nachdem das Bundesarbeitsgericht im Jahr 2010 den Grundsatz der Tarifeinheit in seiner Rechtsprechung fallen ließ. Es verstärkte sich die Sorge, dass andere Berufsgruppen dem Beispiel von Lokführern, Flugbegleitern oder Ärzten folgen und der Grundsatz der Tarifeinheit in weiteren Branchen auf der Strecke bleiben würde. Um die Tarifeinheit als Ordnungsprinzip wiederherzustellen, einigten sich der DGB und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) auf ein Positionspapier, das die Wiederherstellung der Tarifeinheit per Gesetz forderte. Nach innergewerkschaftlicher Kritik stieg der DGB aus der gemeinsamen Initiative aus. Dennoch beschloss die Bundesregierung im Jahr 2014, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich einzuführen.

Das Tarifeinheitsgesetz (TEG) soll „Tarifkollisionen“ im Betrieb vermeiden und dadurch die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern (Bundesregierung, 2015, S. 8-10). Bei konkurrierenden Tarifverträgen gilt das Mehrheitsprinzip: Es kommt der Tarifvertrag zur Anwendung, der sich auf mehr Beschäftigte bezieht. Die kleinere Gewerkschaft kann eine „Nachzeichnung“ verlangen. In der Gesetzesbegründung wird betont, dass das TEG nicht das Recht der Gewerkschaften berührt, ihre Zuständigkeiten wechselseitig abzustimmen oder sich in Tarifgemeinschaften zu verbinden, um gemeinsam Tarifverträge abzuschließen. Der Grundsatz der Tarifeinheit greife nur, „wenn eine autonome Verständigung der Gewerkschaften nicht gelingt“ (Bundesregierung, 2015, S. 12).

Eine autonome Verständigung schließt Möglichkeiten „gewillkürter Tarifpluralität“ mit ein. Diese lässt sich über verschiedene Wege umsetzen (Giesen, 2020, S. 484-485). Denkbar ist, den Geltungsbereich eines Tarifvertrags so zuzuschneiden, dass eine Überschneidung mit anderen Tarifverträgen fremder Gewerkschaften ausgeschlossen ist. Zudem kann die Anwendung der Kollisionsregel abbedungen werden. Dazu bedarf es einer trilateralen Vereinbarung zwischen der Arbeitgeberseite und zwei konkurrierenden Gewerkschaften, einer bilateralen zwischen zwei konkurrierenden Gewerkschaften oder einer bilateralen zwischen einer der beiden konkurrierenden Gewerkschaften und der Arbeitgeberseite. Die „gewillkürte Tarifpluralität“ schafft insbesondere für die Gewerkschaften einen Anreiz, „sich auf ein Miteinander oder ein Nebeneinander zu verständigen“, um einer Anwendung des TEG aus dem Wege zu gehen (Giesen, 2020, S. 468).

Nach allgemeinem Verständnis folgte aus der Anwendung des Mehrheitsprinzips, dass kleinere Gewerkschaften nicht für einen Tarifvertrag streiken dürfen, der letztlich aufgrund mangelnder Mehrheit nicht zur Anwendung kommt (Bundesregierung, 2015, S. 12). Das sollte befriedend wirken und den Kooperationsanreiz erhöhen. Die Einführung des Mehrheitsprinzips sollte zugleich befürchteten Neugründungen weiterer Berufsgruppengewerkschaften entgegenwirken (Giesen, 2009, S. 13). Warum sollte eine Berufsgruppe sich als Gewerkschaft organisieren, um einen Minderheitstarifvertrag durchzusetzen, der nicht zur Anwendung kommt?

Verhandlungsstrukturen und Tarifeinheitsgesetz

Als das TEG im Juli 2015 in Kraft trat, hatten sich in den betroffenen Branchen längst spezifische Strukturen herausgebildet. In den Kliniken war der MB als eigenständige Ärztegewerkschaft etabliert. Es gab eine „Koexistenz“ zwischen ver.di und dem MB, bei der „jede Gewerkschaft das Tarifieren der jeweils anderen Gewerkschaft hinnahm“ und „keine (zumindest keine offenen) Verteilungskonflikte geführt wurden“ (Giesen, 2020, S. 470). Im Lufthansa-Konzern waren die Zuständigkeiten im Cockpit2 (hier tarifierte die VC) und beim Bodenpersonal (hier tarifierte ver.di) ebenfalls durch Absprachen geklärt, während in der Kabine zwischen UFO und ver.di um die Vorherrschaft gestritten wurde. In der Lufthansa-Vergütungsrunde 2012 verabredeten UFO und ver.di eine Tarifgemeinschaft, die im Laufe der Verhandlungen allerdings auseinanderbrach. Durch einen Arbeitskampf gelang es UFO, im Lufthansa-Mutterkonzern eine Vormachtstellung zu gewinnen. Die Konkurrenz zwischen beiden Gewerkschaften hielt aber an, zumal sich ver.di in der Kabine der Tochtergesellschaft Eurowings als Mehrheitsgewerkschaft betrachtete.

Die Deutsche Bahn schloss 2008 mit ihren rivalisierenden Gewerkschaften „Funktionsgruppentarifverträge“. Einer der sechs funktionsspezifischen Tarifverträge war der mit der GDL ausgehandelte „Lokführertarifvertrag“, dem sich die Tarifgemeinschaft aus Transnet und GDBA anschloss. Transnet und GDBA wiederum waren bei den anderen fünf funktionsspezifischen Tarifverträgen federführend (Deutsche Bahn Netz AG, 2009, S. 18). Damit bestand auch bei der Bahn eine „gewillkürte Tarifpluralität“. Diese hielt aber nicht lange. In der Tarifrunde 2014 strebte die GDL an, ihren Vertretungsanspruch über die Lokführer hinaus auf das gesamte Zugpersonal auszuweiten. Die Ende 2010 aus der Fusion zwischen Transnet und GDBA hervorgegangene Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) erklärte währenddessen, auch wieder für die Lokführer verhandeln zu wollen (Lesch, 2015, S. 112). Im Zuge dieses substitutiven Wettbewerbs (Wettbewerb um dieselben Berufsgruppen) eskalierte die Tarifrunde 2014/2015 vor allem zwischen Deutscher Bahn und GDL. Es gab mehrere Streikwellen, bis sich die Tarifparteien nach über einem Jahr mit Hilfe einer Schlichtung einigen konnten.

Mit dem Inkrafttreten des TEG im Juli 2015 änderte sich an den neuen Verhandlungsstrukturen zunächst wenig. In den Kliniken setzte sich die Koexistenz zwischen MB als Ärztevertretung und ver.di als Vertreterin des sonstigen Krankenhauspersonals fort. In der Luftfahrt blieben die Strukturen im Cockpit und am Boden unverändert, während das TEG im Zusammenspiel mit der Konkurrenz zwischen UFO und ver.di in der Kabine dazu führte, dass UFO im September 2015 mit der Arbeitnehmergewerkschaft im Luftverkehr (AGiL) sowie der Technik Gewerkschaft Luftfahrt (TGL) die Industriegewerkschaft Luftverkehr (IGL) gründete. Die IGL verstand sich als „Gewerkschaft aller Arbeitnehmer des Luftverkehrs in Deutschland“ (o. V., 2015). Eine Bündelung der Interessen verschiedener Berufsgruppen im Luftverkehr sollte die Zersplitterung in verschiedene Berufsgruppen beenden und zugleich die Position der Berufsgruppengewerkschaften gegenüber der Branchengewerkschaft ver.di stärken. Die ebenfalls zur Mitwirkung eingeladene VC lehnte eine Mitarbeit in der IGL allerdings ebenso ab wie die Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF), die die Fluglotsen vertritt (o. V., 2015; Plück, 2025).

Bei der Deutschen Bahn wurde die Anwendung des TEG durch eine Vereinbarung mit der GDL zunächst ausgesetzt (Giesen, 2020, S. 471). Im Zuge des Tarifabschlusses vom Juni 2015 wurde ein „Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen“ vereinbart, in dem die Autonomie der GDL als Tarifpartner bis Ende 2020 gewährleistet wurde. Im Gegenzug stimmte die GDL einer Schlichtungsvereinbarung zu. Danach konnte jede Seite eine Schlichtung anrufen, sobald die Verhandlungen für gescheitert erklärt wurden. Ein Arbeitskampf war für die Dauer des Schlichtungsverfahrens ausgeschlossen. Die Vereinbarung befriedete (Keller, 2024, S. 113). In der Tarifrunde 2016/2017 wurde der Konflikt im Rahmen einer Schlichtung beigelegt und die folgende Tarifrunde 2018/2019 verlief ebenfalls vergleichsweise konfliktfrei. In beiden Runden gab es weder Warnstreiks noch unbefristete Streiks. Der Bahn gelang es, mit beiden Gewerkschaften inhaltsgleiche Tarifverträge abzuschließen, um Tarifkollisionen zu vermeiden. Die Rivalität zwischen EVG und GDL blieb indes bestehen (Keller, 2024).

Die mit dem TEG beabsichtigten Kooperationen zwischen den Gewerkschaften kamen – sofern sie sich überhaupt einstellten – nicht im Sinne einer Bildung von Tarifgemeinschaften, sondern im Wege „gewillkürter Tarifpluralität“ zustande. Erreicht wurde ein Nebeneinander von Tarifverträgen, aber kein Miteinander der Gewerkschaften.

Verhandlungsstrukturen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Nachdem einige Gewerkschaften vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt hatten, bestätigte das Gericht in seinem Urteil vom 11. Juli 2017 das TEG im Grundsatz, zog dem Gesetz aber seinen entscheidenden Zahn. Es kippte die Erwartung, dass kleinere Gewerkschaften nicht für einen Tarifvertrag streiken dürfen, der letztlich aufgrund mangelnder Mehrheit nicht zur Anwendung kommt (Bundesverfassungsgericht, 2017, S. 43). Die Interessen von Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, müssten im verdrängenden Tarifvertrag angemessen berücksichtigt werden. Dazu gehörte laut Gericht auch das Recht einer Minderheitsgewerkschaft, die Nachzeichnung eines durch eine Konkurrenzgewerkschaft geschlossenen Mehrheitstarifvertrags notfalls mittels Arbeitskampfes durchzusetzen. Mit diesem Urteil änderten sich die Rahmenbedingungen, da eine Minderheitsgewerkschaft fortan keinem Arbeitskampfrisiko mehr unterlag. Der Anreiz rivalisierender Gewerkschaften, den Streik als Mittel zu nutzen, um selbst Mehrheitsgewerkschaft zu werden oder zu bleiben, wurde erhöht und gleichzeitig der Anreiz vermindert, Tarifgemeinschaften zu bilden.

Die veränderten Anreizstrukturen wirkten sich unterschiedlich aus. Im Krankenhaussektor blieben die Verhandlungsstrukturen unverändert. Im Dezember 2017 trafen die rivalisierenden Gewerkschaften MB und ver.di ein Übereinkommen, mit der Arbeitgeberseite zu vereinbaren, die Tarifverträge der jeweils anderen Gewerkschaft anwendbar zu machen (Giesen, 2020, S. 470). Durch diese nun auch formell beschlossene „gewillkürte Tarifpluralität“ wurden in der Folge zwar keine Tarifkollisionen, aber wenigstens Verteilungskonflikte vermieden.

In der Luftfahrt verstärkte sich die Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften nicht nur in der Kabine, sondern auch im Cockpit. Der Versuch, die verschiedenen Berufsgruppen in der IGL zu bündeln, scheiterte. Die IGL teilte im März 2025 die Auflösung des Bereichs Technik und drei Monate später das Ende des Bereichs Kabine mit (IGL, 2025a, 2025b). UFO allein schaffte es aber nicht, ver.di dauerhaft zurückzudrängen. Bei Eurowings hält derzeit ver.di die Position der Mehrheitsgewerkschaft in der Kabine, während UFO bei der Lufthansa dominiert. Bei der im Jahr 2021 neu gegründeten Eurowings Discover (seit 2023 Discover Airlines) wurde nicht nur um die Kabine, sondern auch um das Cockpit gestritten. Im Sommer 2024 schloss ver.di mit dem Unternehmen einen Tarifvertrag für beide Sparten ab. Die parallel geführten Verhandlungen mit der VC und UFO wurden daraufhin durch das Unternehmen trotz Streiks und weiterer Streikdrohungen abgebrochen. Im Zuge dieser Rangeleien ist es sowohl bei Eurowings als auch bei Discover Airlines gelungen, Tarifkollisionen zu vermeiden.

Auch bei der im März 2022 neu gegründeten Lufthansa-Tochter City Airlines wird um den ersten Tarifvertrag gestritten. Hier reklamiert ver.di einen Vertretungsanspruch für die rund 300 Beschäftigten. Auf den wachsenden Führungsanspruch ver.dis reagierten AGiL, UFO und VC im September 2025 mit einer „strategischen Partnerschaft“. Die drei Fachgewerkschaften wollen künftig enger miteinander kooperieren, „um eine starke gemeinsame Stimme zu entwickeln“ (VC, 2025).

Bei der Deutschen Bahn lief der „Tarifvertrag zur Regelung von Grundsatzfragen“ Ende 2020 aus. Seitdem findet das TEG bei der Bahn volle Anwendung. Um festzustellen, welcher Tarifvertrag wo gilt, müssen demnach für mehr als 300 Betriebe die Mehrheitsverhältnisse geklärt werden (Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, 2021, S. 9). Dadurch ist eine Wettbewerbssituation entstanden, die die konkurrierenden Gewerkschaften dazu motiviert, in möglichst vielen Betrieben Mehrheitsgewerkschaft zu werden (Keller, 2024). Das belastete die Tarifrunden. Die Verhandlungen zwischen Bahn und GDL (2021 und 2023/2024) eskalierten bis zum unbefristeten Streik und auch die EVG verschärfte 2023 die Gangart (nachdem sie im 2021er Abschluss eine Corona-Beihilfe nur im Fahrwasser der GDL durchsetzen konnte). Nach dem Scheitern der Verhandlungen und einer Urabstimmung konnte ein Arbeitskampf der EVG durch eine Schlichtung noch verhindert werden.

Fazit und Ausblick

Die Bilanz des TEG fällt nach zehn Jahren gemischt aus. Auf der Habenseite steht, dass es seit 2015 keine relevanten Gewerkschaftsneugründungen gegeben hat. Hier hat das Mehrheitsprinzip seine Anreizfunktion erfüllt. Eine wesentliche Zielsetzung des TEG bestand allerdings darin, den Kooperationsanreiz zwischen den Gewerkschaften zu erhöhen, um Tarifkollisionen zu vermeiden (Lesch, 2015, S. 112). Hier fällt die Bilanz gemischt aus. Der Begriff Kooperation umfasst die Bildung von Tarifgemeinschaften ebenso wie Absprachen im Sinne einer „gewillkürten Tarifpluralität“. Eine dauerhafte Kooperationsvereinbarung gab es im Wege einer „gewillkürten Tarifpluralität“ lediglich im Krankenhaussektor. Im Bahnverkehr und in der Luftfahrt halten die Spannungen zwischen den Gewerkschaften an. Dennoch wurden Tarifkollisionen weitestgehend vermieden (Bahn und Luftfahrt) oder toleriert (Kliniken).

Kritiker des TEG hatten von vorneherein befürchtet, dass der Kooperationsanreiz eher ab- als zunimmt, da jede Gewerkschaft danach streben würde, selbst Mehrheitsgewerkschaft zu werden (Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, 2021, S. 10). Ein positiver Nebeneffekt des Strebens nach Mehrheiten ist allerdings, dass sich die Zielfunktion einer Gewerkschaft ändert. Gruppenegoistische Zielsetzungen rücken in den Hintergrund. In dem Maße, wie das TEG eine Gewerkschaft dazu motiviert, möglichst viele Berufsgruppen zu organisieren, stärkt das Gesetz die Solidarität auf der Arbeitnehmerseite (Giesen, 2009, S. 16). Hierzu liegen allerdings keine empirischen Befunde vor.

Da die Gewerkschaften (wenn überhaupt) den Weg der „gewillkürten Tarifpluralität“ gingen, anstatt Tarifgemeinschaften zu bilden oder Laufzeiten zu synchronisieren und parallel zu verhandeln, konnten „kumulierende Konfliktrisiken“ (Lesch, 2013, S. 769, 2015, S. 129) kaum vermieden werden.3 Die mit dem TEG verbundene Erwartung, befriedend zu wirken, wurde allenfalls zum Teil erfüllt. Dies hat dazu geführt, dass vor allem für die Daseinsvorsorge verstärkt über alternative Vorschläge diskutiert wird, die die Auswirkungen von Gewerkschaftskonkurrenz mit Hilfe des Arbeitskampfrechts lösen wollen.4 Im Zuge des Aufkommens streikmächtiger Berufsgruppengewerkschaften hatte eine Professorengruppe bereits 2012 zum Schutz der Allgemeinheit und der öffentlichen Sicherheit einen Entwurf für ein Arbeitskampfrecht in der Daseinsvorsorge vorgelegt (Franzen et al., 2012). Mit sich jährlich wiederholenden Streikwellen in Teilen der Daseinsvorsorge wurden diese Überlegungen jüngst wieder aufgegriffen (Giesen & Höpfner, 2025). Im Zentrum steht nun die obligatorische Schlichtung. Ein unbefristeter Arbeitskampf soll danach nur zulässig sein, wenn ihm ein (gescheiterter) Schlichtungsversuch vorausgegangen ist.

  • 1 Berufsgruppengewerkschaften gab es zwar auch in anderen Branchen (Schröder & Greef, 2008, S. 334; Schnabel, 2015, S. 36). Diese fielen aber nicht durch eine eigenständige Tarifpolitik auf, in deren Rahmen es zu größeren Konflikten mit der Arbeitgeberseite kam.
  • 2 Eine Ausnahme stellt der Versuch ver.dis im Jahr 2007 dar, bei der Lufthansa-Tochter Cityline Fuß zu fassen. Die Gewerkschaft organisierte einen Warnstreik, konnte die Vorherrschaft der VC aber nicht brechen.
  • 3 Diese entstehen, wenn ein Arbeitgeber mehrfach und sequenziell mit konkurrierenden Gewerkschaften verhandeln muss und die aus einem einzelnen Tarifvertrag resultierende Friedenspflicht dadurch entwertet wird.
  • 4 Auf diese Option hat der Verfasser schon beim Inkrafttreten des TEG hingewiesen: „Sofern sich trotz des verbesserten Ordnungsrahmens durch das geplante Tarifeinheitsgesetz tarifplurale Strukturen etablieren, die zu kumulierenden Konfliktrisiken mit hohen negativen Drittwirkungen führen – etwa in der Daseinsvorsorge – könnte der Gesetzgeber den Grundsatz der Tarifeinheit durch ein Arbeitskampfgesetz ergänzen“ (Lesch, 2015, S. 131).

Literatur

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Bachmann, R., Henssler, M., Schmidt, C. M. & Talmann, A. (2012). Gefährdung der Solidarität oder Aufbruch in die Moderne? Die Auswirkungen der Tarifpluralität auf den deutschen Arbeitsmarkt. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 61(2), 135–151.

Bachmann, R. & Schmidt, C. M. (2012). Im Zweifel für die Freiheit: Tarifpluralität ohne Chaos. Wirtschaftsdienst, 92(5), 291–294.

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Franzen, M., Thüsing, G. & Waldhoff, C. (2012). Arbeitskampf in der Daseinsvorsorge. Vorschläge zur gesetzlichen Regelung von Streik und Aussperrung in Unternehmen der Daseinsvorsorge.

Giesen, R. (2009). Tarifeinheit im Betrieb. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 26(11), 11–18.

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Giesen, R. & Höpfner, C. (2025, 24. September). Vorschlag für ein Schlichtungsgesetz.

Haucap, J. (2012). Tarifeinheit nicht durch Gesetz verankern. Wirtschaftsdienst, 92(5), 299–303.

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IGL – Industriegewerkschaft Luftfahrt. (2025b, 18. Juni). Auflösung des Bereichs Kabine in der IGL.

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VC – Vereinigung Cockpit (2025, 26. September). We are Aviation - AGiL, UFO und VC starten strategische Partnerschaft.

Title:Ten years of the Collective Bargaining Unity Act: an evaluation

Abstract:The Collective Bargaining Unity Act aims to prevent conflicts between collective agreements and thereby ensure the functioning of free collective bargaining. If the parties to a collective agreement are unable to avoid overlaps between collective agreements through voluntary cooperation, the majority principle applies: the collective agreement that affects more employees always takes pre­cedence. After ten years, the results are mixed. In sectors with rival unions, autonomous agreements have been reached, largely avoiding overlaps between collective agreements. However, since no collective bargaining units have been formed, the expected pacifying effect has not been achieved.

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© Der/die Autor:in 2025

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DOI: 10.2478/wd-2025-0186