Die aggressive Handelspolitik der Vereinigten Staaten hat in den letzten Wochen eine neue Qualität erreicht. Mit der Androhung und Einführung massiver neuer zusätzlicher Zölle durch die Trump-Regierung, die nun durchschnittlich 27 % erreichen – eine Größenordnung, die seit über einem Jahrhundert nicht mehr gesehen wurde – steht die Welt nicht nur vor wirtschaftlichen, sondern auch vor geopolitischen Verwerfungen.
Diese neue Welle von Handelsbeschränkungen unterscheidet sich grundlegend von den Maßnahmen aus Trumps erster Amtszeit: Die Zölle sind höher, breiter angelegt und enthalten deutlich weniger Ausnahmen. Chinesische Waren sind besonders stark betroffen, mit zusätzlichen Zöllen von bis zu 145 %, was Vergeltungszölle Chinas von bis zu zusätzlichen 125 % auf US-Waren provoziert hat. Auch die Europäische Union (EU) sieht sich mit neuen Abgaben auf Stahl-, Aluminium- und Autoexporte konfrontiert, und mit zusätzlichen Zöllen von 20 % (vorübergehend für 90 Tage auf 10 % gesenkt), die potenziell auf alle Sektoren ausgeweitet werden könnten.
Über den reinen Umfang der restriktiven Maßnahmen hinaus weicht das neue US-Handelsregime erheblich von etablierten ökonomischen Prinzipien sowie der traditionellen Logik des Protektionismus ab. Zölle werden typischerweise genutzt, um bestimmte heimische Industrien zu schützen, nicht um Handelsungleichgewichte in sämtlichen bilateralen Beziehungen zu beseitigen. Das am 2. April 2025 vorgestellte Paket sogenannter „reziproker“ Zölle benachteiligt zudem unverhältnismäßig stark einkommensschwache Volkswirtschaften wie Lesotho und Madagaskar, deren Exporte keine glaubwürdige Bedrohung für die US-Industrie oder die nationale Sicherheit darstellen. Global bedrohen diese Zölle Lieferketten erheblich und beeinträchtigen die Produktion, insbesondere von US-Unternehmen, die Vorleistungen importieren. Die extreme (handels-)politische Unsicherheit hat zusätzlich abschreckende Effekte auf langfristige Investitionen, insbesondere in stark integrierte Sektoren wie der Automobil- und Elektronikindustrie, die auf grenzüberschreitende Handelsnetzwerke angewiesen sind.
Die Maßnahmen sind zudem vor dem Hintergrund einer bereits unter Druck stehenden Welthandelsorganisation (WTO) zu sehen, die durch die Aussetzung der US-Finanzbeiträge weiter destabilisiert werden könnte. Insgesamt wurde zwar erwartet, dass sich die USA unter der neuen Regierung weiter wirtschaftlich von China entfernen würden, doch spiegeln die bisher getroffenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen eine weitaus radikalere – und chaotischere – Abkehr der USA vom globalen Handel selbst wider.
Die wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen US-Zölle für die EU sind signifikant. Simulationen mit einem modernen quantitativen Handelsmodell zeigen, dass ein anhaltender transatlantischer Zollkrieg die Exporte der EU in die USA langfristig halbieren könnte. Die wirtschaftliche Last wäre dabei ungleich auf die EU-Mitglieder verteilt, wobei die Slowakei, Litauen und Österreich potenziell langfristig die stärksten Rückgänge des Bruttoinlandsprodukts verzeichnen könnten. Auch die sektoralen Auswirkungen wären weitreichend und heterogen, mit deutlichen Produktionsrückgängen bei Kraftfahrzeugen, Pharmazeutika, im Maschinenbau, bei Transportausrüstung sowie im Bereich Computer und Elektronik.
Bisher hat die EU mit Zurückhaltung reagiert und verfolgt eine zweigleisige Strategie, die auf Verhandlungen setzt, aber gleichzeitig mit eigenen Vergeltungen droht – im Bewusstsein, dass eine weitere Eskalation des Zollkonflikts die wirtschaftlichen Folgen auch in Europa verschärfen würde. Sie hat Vergeltungsmaßnahmen gegen die USA vorübergehend ausgesetzt und war bei der Auswahl der Produkte auf ihrer Vergeltungsliste selektiv. Für viele der US-Waren, die von Vergeltungszöllen betroffen sein könnten, gibt es geeignete alternative Lieferanten – weltweit oder innerhalb der EU selbst.
Die politische Antwort der EU sollte noch klarer sein: Diversifizierung statt Eskalation. Die EU sollte bestehende Freihandelsabkommen wie die mit Kanada, Japan und Südkorea vertiefen und gleichzeitig neue Abkommen mit Ländern wie Indien, Australien, den Mercosur-Staaten und den ASEAN-Ländern anstreben oder finalisieren. Simulationen zeigen, dass bereits moderate Erleichterungen bei der Handelsdiversifizierung Wohlfahrtsverluste vollständig ausgleichen könnten, sollten die US-Zölle auf hohem Niveau bleiben. Es würde zudem die Anfälligkeit der EU für zukünftige handelspolitische Abenteuer der USA oder anderer Handelspartner begrenzen und die Lieferketten der EU gegen neue Bedrohungen absichern, die sich aus klimawandelbedingten Störungen und militärischen Konflikten ergeben.
Angesichts des dringenden Bedarfs an alternativen Märkten und Lieferanten sollten neue Handelsabkommen in dieser Phase explizit Zollsenkungen priorisieren, um den Verhandlungs- und Ratifizierungsprozess zu beschleunigen. Diese Abkommen können in späteren Phasen ausgebaut und vertieft werden, um regulatorische Aspekte von Handel und Investitionen aufzugreifen. In einem Moment, in dem sich die USA vom Multilateralismus zurückziehen, hat die EU die Gelegenheit, sich international als verlässlicher Handelspartner zu präsentieren. Als einer der größten Konsumgütermärkte der Welt – und nicht direkt in einen eskalierenden Zollkrieg wie die USA und China verwickelt – bietet der europäische Binnenmarkt Partnern erhebliche wirtschaftliche Perspektiven und ausgewiesene regulatorische Stabilität.
Einzelne Volkswirtschaften und Regionen, die besonders vom Handelskonflikt zwischen den USA und China betroffen sind, wie beispielsweise Chile, Kolumbien sowie einzelne afrikanische und südostasiatische Länder, könnten in der EU einen wichtigen Anker im globalen Handelssystem finden. Diese Länder suchen dringend nach alternativen Partnern und verfügen über dynamische Wirtschaftsstrukturen mit jüngerer Bevölkerung und wachsenden Mittelschichten.
Eine Schlüsselfrage für den Bestand des Welthandelssystems ist, ob die jüngsten Maßnahmen der USA auch eine breitere Eskalation des Protektionismus zwischen bisher unbeteiligten Drittländern auslösen werden. Entscheidend ist, dass die EU es als Vorreiter vermeidet, in eine globale Spirale protektionistischer Reflexe hineingezogen zu werden. Maßnahmen wie Safeguards-Schutzzölle, die zu allgemeinen Zollerhöhungen führen, würden der EU letztlich schaden. Stattdessen sollte die EU weiterhin gezielte Instrumente nutzen, um unlautere Handelspraktiken zu bekämpfen, ohne die Prinzipien offener Märkte zu untergraben.
Die aktuelle Krise des Multilateralismus und das erratische handelspolitische Vorgehen der USA eröffnen der EU zugleich ein strategisches Handlungsfenster: Sie kann ihre Rolle in der globalisierten Wirtschaft neu definieren. Indem die EU ihr Engagement in multilateralen Institutionen wie der WTO bei handelspolitischen Fragen stärkt und gezielt Partnerschaften mit gleichgesinnten Ländern vertieft, kann sie sich als verlässliche und stabilisierende Kraft in einer zunehmend fragmentierten Welt positionieren – und eine Alternative zur chaotischen Entkopplung bieten.