Nach Artikel 4, Ziffer 2 der ersten Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 stand dem alten Reiche grundsätzlich die Gesetzgebung über „die für die Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern“ zu; irgendeine Beschränkung der Besteuerungsmöglichkeiten für das Reich war also nicht vorgesehen. Die vielen neuen Projekte, die bald nach 1871 auftauchten (Reichseinkommensteuer usw.), beweisen, daß der zitierte Verfassungsartikel auch durchaus in diesem Sinne aufgefaßt wurde. Das blieb so bis gegen Ende der siebziger Jahre. Bis dahin war das Reich, vor allem dank der französischen Kriegsentschädigung, in der Lage, seinen Bedarf mit den vorhandenen Mitteln zu decken. Diese bestanden vor allem aus den Zolleinnahmen, Verbrauchsabgaben (Salz-, Tabak-, Zucker-, norddeutsche Branntwein- und Biersteuer) und dem Wechselstempel, die sämtlich in der Ausgestaltung, die sie in der Zeit des Zollvereins und des Norddeutschen Bundes erfahren hatten, auf das Reich übernommen wurden. Daneben figurierten im Reichsetat die Überschüsse der Verwaltungsbetriebe sowie die Matrikularbeiträge, die (Art. 70 alte RV) dann von den Bundesstaaten — und zwar entsprechend der Bevölkerungszahl: ein höchst roher und ungerechter Maßstab — aufzubringen waren, wenn alle übrigen „gemeinschaftlichen“ Einnahmen, einschließlich etwaiger Überschüsse der Vorjahre, zur Ausgabendeckung nicht ausreichten.
Der Finanzbedarf des Reichs wuchs innerhalb weniger Jahre beträchtlich, so daß 1879 bereits eine Änderung des herrschenden Zustandes sich als unumgänglich notwendig erwies. (Nicht zuletzt findet das seine Begründung in der unrationellen Verwendung der Kriegsentschädigung, die großenteils den Bundesstaaten zugeführt wurde, was bei diesen einen Abbau des Steuersystems zur Folge hatte.) Zölle und Tabaksteuer wurden beträchtlich erhöht; zugleich aber wurde wegen politischer Eifersüchteleien eine Komplizierung der finanziellen Beziehungen zwischen Reich und Bundesstaaten vorgesehen. Gegen jede Ratio wurden von nun an ein gewisses Maß übersteigende Reichseinnahmen aus Zöllen und Tabaksteuer den Staaten überwiesen bzw. auf deren Matrikularbeiträge verrechnet, die Überweisungen mit Einführung neuer Steuerquellen später auch auf diese ausgedehnt (Reichsstempelabgaben 1881, 1885, 1894, Branntweinsteuer 1887).
Auch als die Lage der Reichsfinanzen sich in den neunziger Jahren immer mehr verschlechterte, hielt man an dem angedeuteten System fest. Der Reichsgedanke besaß nicht genügende Kraft, um die von „eigenstaatlichem“ Denken erfüllten Bundesstaaten dazu zu bewegen, dem Reiche mit der Zuweisung eigener ausreichender Steuereinnahmen aus seiner Kalamität zu helfen. So verzichtete man 1896 lediglich auf Teile der zuständigen Überweisungen zugunsten der Tilgung von Reichsschulden. Die Art des bestehenden „Finanzausgleichs“ blieb unberührt, dank der allmählich sich herausbildenden, auch von hervorragenden Staatsrechtlern (Laband) vertretenen Theorie, daß das Reich auf Grund der Verfassung keine „direkten“ Steuern erheben könne — eine im Hinblick auf den erwähnten Art. 4, Abs. 2 RV offenbare Irrlehre, die jedoch grundsätzlich bis zum Jahre 1913 aufrechterhalten wurde. Die Reformen von 1906 und 1909 brachten für das Reich eine große Zahl neuer Verkehrs- und Verbrauchssteuern, neben einer Steigerung der Matrikularbeiträge; durch diese Maßnahmen wurde erreicht, daß die Reichsschulden von 1909 bis zum Kriegsausbruch keine weitere Steigerung erfuhren. Die 1906 eingeführte, 1909 ausgebaute Erbschaftssteuer und die Tantiemesteuer wurden, um die Aufrechterhaltung der erwähnten Anschauung von der Gesetzgebungskompetenz des Reichs zu ermöglichen, künstlich als „indirekte“ Steuern konstruiert. Erst 1913 wurden dem Reich mit dem Wehrbeitrag und der sogenannten Besitzsteuer auch „direkte“ Steuern offen zugestanden.
So lagen die Dinge 1914 — und so blieben sie bis 1916. Man dachte nicht daran, dem Reiche die Kriegführung durch eine leicht erhöhbare und ertragreiche Steuer (wie es eine Reichseinkommensteuer gewesen wäre) zu erleichtern, sondern finanzierte den gesteigerten Bedarf mit Hilfe von Anleihen. Die Begründung lautete folgendermaßen: Nur keine Veränderung der „stabilisierten“ Finanzausgleichsverhältnisse; keine Antastung der Finanzhoheit der Bundesstaaten; keine Aufregung der Gemüter (die zur Störung des legendären „Burgfriedens“ hätte führen können) durch neue Reichssteuern! Schüchtern wagte man sich in 1916 und den folgenden Kriegsjahren an eine — im Vergleich mit England geradezu lächerlich geringe — Besteuerung von Kriegsgewinnen in Form von Mehreinkommen und Vermögenszuwachs, dehnte man den Kreis der der Verbrauchsbesteuerung unterworfenen Objekte aus bzw. erhöhte die bestehenden Steuern. Besonders zu erwähnen ist die Einführung der Umsatzsteuer (1916: 1 v. T., 1918: 5 v. T., daneben Luxussteuer für Kleinhandelswaren in Höhe von 10 v. H.) und der Kohlensteuer (20 v. H.), durch die eine Vorbelastung des gesamten Verbrauchs geschaffen wurde.
Unter dem Druck der durch die Umwälzung 1918 hervorgerufenen politischen Verhältnisse wurde dann in den Jahren 1919 und 1920 das Finanzwesen von Reich und Ländern auf eine völlig neue Basis gestellt. Wenn es auch nicht gelang, dem Einheitsstaatsgedanken in der neuen Reichsverfassung vom 11. August 1919 volle Geltung zu verschaffen, so wurde doch dem Reich im Vergleich zu früher eine beträchtlich verstärkte Macht gegenüber den Einzelstaaten und eine Fülle neuer Aufgaben zugewiesen. Der Reichsgedanke wurde von den Regierungsparteien stark in den Vordergrund gestellt, und naive Gemüter stritten sich gar darüber, ob den „Ländern“ noch Staatscharakter zuzuerkennen sei. Durch den Gang der Dinge in den letzten zwei Jahren, die in der allerletzten Zeit zu einer Wiederbeseitigung gewichtiger Teile des damals in raschem Impetus Geschaffenen führte — eine Warnung vor einer Überschätzung der Dauerhaftigkeit des verbliebenen Restbestandes an Reichshoheit —, dürfte dieser Streit in eindeutig-bejahender Weise entschieden sein.
Die staatsrechtlichen und soziologischen Wandlungen machten mit Rücksicht auf die Reichsfinanzpolitik, der von nun an überwiegende Relevanz zukam, dreierlei erforderlich: einmal eine Umgestaltung des Steuersystems, sodann (in Verbindung damit) eine Änderung der finanziellen Beziehungen zwischen Reich, Ländern und Gemeinden, und schließlich, als Folge der notwendig gewordenen Übernahme der bisher von den Ländern innegehaltenen Finanzverwaltung auf das Reich, eine einheitliche Regelung der prinzipiellen Fragen des formalen und materialen Steuerrechts. Für diese lagen bereits umfangreiche Vorarbeiten vor; ihre Auswertung und Anpassung an die veränderten Verhältnisse erfolgte durch die Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919, die zugleich ein Instrument zur Verbesserung der Erfassungsmöglichkeiten darstellt. Bei den Steuerreformen, die der damalige Reichsfinanzminister Erzberger mit größter Energie durchzusetzen bestrebt war — wohl wissend, daß in jenem Augenblick weniger aus finanziellen, als aus allgemein politischen Gründen höchste Eile geboten war; denn jeder versäumte Tag konnte bei der Labilität der inneren und äußeren Verhältnisse das angestrebte Ziel: die Stärkung der finanziellen Position des Reichs, in Frage stellen —, stand im Vordergrund der Gedanke, nunmehr die wichtigsten „direkten“ Steuern in weitestem Maße dem Reiche dienstbar zu machen. Es handelte sich ferner darum, ein System der Reichseinnahmen zu schaffen, das Verbrauch und Verkehr, Einkommen und Besitz möglichst lückenlos erfaßte und dessen einzelne Glieder aufeinander abgestimmt sein mußten, um Ungerechtigkeiten, die aus der bisherigen Art des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern und der Verschiedenheit der Steuersysteme der letzteren resultierten, zu vermeiden. Daß die Belastung des Besitzes dabei nicht unerheblich verschärft wurde, war eine selbstverständliche Folge der Wandlungen in den soziologischen Machtverhältnissen und sozialpolitischen Anschauungen jener Zeit. Dieser Gedanke ließ sich jedoch nur für kurze Zeit verwirklichen. Das Anwachsen der Gegenströmungen führte seit 1921, besonders aber in 1922 und 1923 dazu, daß die Finanzpolitik Mittel zu einer sozial höchst bedenklichen Verschiebung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse und einer starken Herabdrückung der Realeinkommen der breiten Massen wurde. Erst mit den sogenannten Steuernotverordnungen, von denen weiter unten noch die Rede sein wird, trat hierin wieder ein Wandel ein.
Im einzelnen umfaßten die Reformen von 1919/20 (wenn man die Finanzausgleichsfragen vorläufig beiseite läßt) folgende Maßnahmen: Abschluß der Kriegsbesteuerung durch die außerordentliche Kriegsabgabe für 1919 und die Kriegsabgabe vom Vermögenszuwachs; Besteuerung des Einkommens (infolge Ausdehnung des Einkommenbegriffs Erfassung auch der nicht regelmäßigen Einnahmen) durch Einkommen-, Körperschaftsund Kapitalertragssteuer; Belastung des Besitzes einmal durch Übernahme der laufenden Besitzsteuern auf das Reich: Besitzsteuer (ausgebaute und erhöhte), Erbschaftssteuer und Besitzwechselabgaben, ferner durch das Reichsnotopfer — auch dieses, ursprünglich als einmalige große Vermögensabgabe zur Verminderung der Kriegsschulden bestimmt, wurde unter dem anwachsenden Einfluß der Interessenten sehr bald zu einer laufenden Steuer, die ab Mitte 1921 bequem mit dem Inhalt des Portefeuilles gezahlt werden konnte —; schließlich Ausdehnung und Ausgestaltung der bisherigen Besteuerung von Verbrauch und Verkehr durch die allgemeine Umsatzsteuer, durch Kohlen-, Salz-, Zündwaren-, Leuchtmittel-, Zucker-, Tabak-, Bier-, Still- und Schaumwein-, Mineralwasser- und Spielkartensteuer, das Branntweinmonopol, die Essigsäure-Verbrauchsabgabe, die mannigfachen Reichsstempelabgaben, die Abgaben vom Personen- und Güterverkehr, die Grunderwerbssteuer und die Zölle.
Das „unsinnige“, „ruinöse“ Erzbergersche Steuersystem (oder welche schmückenden Beiworte man ihm immer verlieh) spielte sich in überraschend kurzer Zeit ein. Rechnet man die Papiermarkeinnahmen der einzelnen Monate 1920/21 über den jeweiligen Lebenshaltungsindex um (eine für diese Zeit verhältnismäßig zuverlässige Methode), so ergeben sich folgende Zahlen: 1920 stiegen die monatlichen Reichseinnahmen von 71. Mill. Goldmark im April über 300 Mill. im Oktober auf mehr als 600 Mill. im Dezember und hielten sich im Laufe des Rechnungsjahres 1921 durchschnittlich auf der Höhe von 400-450 Mill. Goldmark. Je mehr man das System zu modifizieren und zu „verbessern“ suchte (wozu seit der zweiten Hälfte 1921 durch die Ermordung Erzbergers freie Bahn geschaffen war), desto geringer wurden die Einnahmen. Der nicht mehr aufgehaltene Niederbruch der Reichsfinanzpolitik setzt ein mit dem September 1922 — der Wiederaufbau beginnt fünf Vierteljahre später.
(Ein zweiter Aufsatz folgt.)