In einem ersten Aufsatz1 wurde geschildert, wie die Verfasser des amerikanischen Werks „Germany's capacity to pay“ sich mit dem Problem der Zahlungsbilanz auseinandersetzen. Jetzt sollen ihre Ausführungen über den Haushalt des Deutschen Reichs gewürdigt werden. Die Verfasser behandeln Deutschlands finanzielle Lage während des Kriegs und seitdem, legen dar, wie viel leichter in jeder Hinsicht Frankreich daran war, als es nach 1871 die weit geringere Entschädigung von 5 Milliarden Franken an Deutschland zu leisten hatte, prüfen die bisherigen deutschen Leistungen, die währungspolitischen Verhältnisse und anderes. Von dem reichen Inhalt dieser Ausführungen sei im Folgenden zunächst ein Thema besonders erörtert: die Frage, wie Deutschland den Krieg finanziert hat. Moulton und McGuire geben folgende Ziffern, für die nähere Quellenangaben im Anhang G hinzugefügt werden:
Tabelle:
Ausgaben und Einnahmen
(in Milliarden Papiermark)
Rechnungsjahr | Ausgaben | Einnahmen aus anderen Quellen als Schuldaufnahme | Fehlbeträge |
---|---|---|---|
1914/15 | 8,8 | 2,4 | 6,4 |
1915/16 | 25,7 | 1,8 | 23,9 |
1916/17 | 27,8 | 2,1 | 25,7 |
1917/18 | 52,1 | 8,0 | 44,1 |
1918/19 | 44,4 | 7,4 | 37,0 |
Zusammen | 158,8 | 21,7 | 137,1 |
Hiermit werden dann amtliche deutsche Ziffern über die Entwicklung der deutschen Kriegsschuld verglichen. Die amerikanischen Verfasser kann kein Vorwurf treffen, wenn einiges aus ihren Ziffern – entsprechend besonderen Verhältnissen der amtlichen deutschen Finanzstatistik – der Berichtigung bedarf. Die amtliche Statistik der Kriegsanleihen, auf die sich die Verfasser gestützt haben, enthält leider Unrichtigkeiten, wie ich in Schmollers Jahrbuch 1924 S. 207 nachgewiesen habe. Auch in den Zusammenstellungen der Ziffern der deutschen Reichsschuld in den sonst sehr zuverlässigen Statistischen Jahrbüchern für das Deutsche Reich sind in allen bisherigen Jahrgängen Fehler enthalten, denen auch die amerikanischen Benutzer dieser Quellen zum Opfer fielen. Es fehlt in der deutschen Reichsstatistik die Ziffer der unverzinslichen Schatzanweisungen für 31. März 1914; der Umlauf derselben betrug damals nach dem Bericht der Reichsschuldenkommission 284 Mill., also die unverzinsliche Schuld einschließlich der Reichskassenscheine 524 Mill. Am 31. März 1919 betrug nach dem Bericht der Reichsschuldenkommission der Umlauf der unverzinslichen Schatzanweisungen 58 194 Mill., während das reichsstatistische Jahrbuch 63 696 Mill. aufführt. Unglücklicherweise ist es angesichts dessen unmöglich, nach den statistischen Jahrbüchern des Deutschen Reichs die Zunahme der Reichsschuld 1914–1918 richtig zu berechnen, da gerade für die beiden Endpunkte, 31. März 1914 und 31. März 1919, auch die Gesamtzahlen der Schuld irrig angegeben sind; nach den Berichten der Reichsschuldenkommission betrug die gesamte Reichsschuld ausschließlich der Darlehnskassenscheine
Ende März 1914 | 5.441.897.000 M |
---|---|
Ende März 1919 | 150.950.411.300 M |
Somit nahm die Schuld im Krieg um | 145.508.513.700 M zu. |
Was die Ziffern der Einnahmen und Ausgaben während des Kriegs betrifft, so haben sich Moulton und McGuire hauptsächlich auf die Berechnungen der Wirthschen Denkschrift vom 29. Juli 1920 (Nr. 254 der Reichstagsdrucksachen 1. Wahlperiode 1920) gestützt und zweckmäßigerweise die dort gegebene Summe der ordentlichen Ausgaben durch Hinzufügung der außerordentlichen ergänzt. Diese Ziffern der Wirthschen Denkschrift sind ein recht interessanter Versuch, übersichtlicher, als es in der herkömmlichen Etatrechnung geschieht, die Ergebnisse des Reichshaushalts festzustellen. Man hat jeweils die Ausgaben des ordentlichen Haushalts nach dem Nettoprinzip, d. h. mit Abzug der Verwaltungseinnahmen, berechnet – und zwar unter Weglassung der Ausgaben von Post, Reichsdruckerei und Bahn – und diesen Nettoausgaben die ordentlichen Nettoeinnahmen gegenübergestellt, d. h. die wiederkehrenden Einnahmen mit Abzug der Verwaltungskosten und unter Einrechnung des jeweiligen Überschusses oder Fehlbetrags der Betriebsverwaltungen. In allen Fällen sind die Restrechnungen weggelassen. Nach der Wirthschen Denkschrift ist für 1914–1918 das Ergebnis einer Gegenüberstellung der Nettogesamtausgaben und der Nettoeinnahmen, soweit sie nicht aus Anleihen oder Schulden gewonnen wurden, folgendes, dem ich aus eigener Berechnung den demgemäß durch Kreditaufnahme zu deckenden Fehlbetrag gegenüberstelle:
Tabelle:
Ergebnisse nach der Wirthschen Denkschrift
(in Millionen Papiermark)
Rechnungsjahr | Netto-ausgabe | Nettoeinnahme ohne Schuldaufnahme | Kreditbedarf für den Fehlbetrag |
---|---|---|---|
1914/15 | 8058,8 | 2350,8 | 6303,0 |
1915/16 | 25708,4 | 1735,2 | 23973,2 |
1916/17 | 27740,9 | 2029,4 | 25711,5 |
1917/18 | 52015,4 | 7830,3 | 44185,1 |
1918/19 | 44030,7 | 6795,0 | 37235,7 |
Zusammen | 158140,2 | 20740,7 | 137408,5 |
Die selbständig aus verschiedenen Materialien – unter Verwertung vor allem der Wirthschen Ziffern – von den amerikanischen Bearbeitern berechneten Summen weichen infolge der Abrundung auf Milliarden und aus anderen Gründen im Einzelnen etwas von diesen Regierungszusammenstellungen ab, kommen aber im Großen und Ganzen zu einem ähnlichen Resultat. So interessant und übersichtlich die Methode der Wirthschen Denkschrift ist, alles in Nettoetatziffern umzurechnen, und so dankenswert im Einzelnen die Versuche sind, darin nach den einzelnen Staatsbedürfnissen die Ausgaben übersichtlicher als im offiziellen Etat zu ordnen (z. B. die Militärpensionen bei den Heeresausgaben einzurechnen usw.), so sind natürlich andererseits mit jeder solchen Umrechnung Gefahren von Rechenfehlern verbunden. Ich vermochte nicht genau nachzuprüfen, ob im Einzelnen alle Fehlerquellen vermieden sind, und habe die Kontrolle nach einer anderen Methode versucht. Ich stelle nach den Reichshaushaltsrechnungen die Bruttoausgaben des ordentlichen und außerordentlichen Haushalts 1914–1918 – ohne Abzug der Verwaltungsausgaben sowie der Betriebsausgaben von Post, Reichsdruckerei, Eisenbahn – den Einnahmen aus Matrikularbeiträgen, Steuern, Verwaltung und Erwerbsunternehmungen, also der Gesamtheit der ordentlichen Einnahmen, gegenüber und berechne danach, was durch außerordentliche Deckungsmittel, d. i. Vermögensveräußerung und Schuldaufnahme, zur Deckung des Fehlenden aufzubringen war. Die Ausgabe- und Einnahmereste sind dabei außer Betracht gelassen. Im Übrigen weichen die Einnahmeziffern von den Summen in den Reichshaushaltsrechnungen dadurch ab, dass die dort einbezogenen Bestände aus dem Vorjahr hier weggelassen wurden. Dieses Prinzip dürfte das korrekteste sein, um bei Zusammenstellungen der Rechnungsergebnisse verschiedener Jahre Doppelzählungen zu vermeiden. Es wird auch für solche Übersichten von der Reichsstatistik angewendet. Mit den Ziffern der Statistischen Jahrbücher für das Reich 1919, S. 247, und 1921/22, S. 359 ff., stimmen die folgenden Angaben durchweg überein. Danach waren die Ergebnisse des Reichshaushalts (in Mill. Papiermark):
Rechnungsjahr | Ordentl. u. außerordentliche Ausgaben brutto | Ordentliche Einnahmen brutto | Kreditbedarf für den Fehlbetrag |
---|---|---|---|
1914/15 | 9650,6 | 3343,9 | 6306,7 |
1915/16 | 26689,0 | 2711,5 | 23997,5 |
1916/17 | 28779,5 | 3063,4 | 25716,1 |
1917/18 | 53261,3 | 9076,3 | 44185,0 |
1918/19 | 45513,7 | 8478,6 | 37035,1 |
Zusammen | 163894,1 | 26673,7 | 137220,4 |
Demgegenüber betrug die Gesamtsumme der durch Schulden usw. zu deckenden Fehlbeträge
bei Moulton und Mc Guire | 137,1 Milliarden M. |
---|---|
nach der Wirtschen Denkschrift | 137,4 Milliarden M. |
Solche kleinen Abweichungen sind infolge der verschiedenen Abkürzungsgrundsätze und infolge der Umrechnung von Bruttoetat in Nettoetat begreiflich. Wie groß war nun nach den korrektesten Angaben, nämlich den Ziffern der Reichsschuldenkommission, der Zuwachs der Reichsschuld von Ende März 1914 bis Ende März 1919? Zieht man die Abgänge durch Tilgung usw. ab, so betrug der
Nettozuwachs der verzinslichen Schuld | 87.478.513.700 M |
---|---|
Nettozuwachs der unverzinslichen Schuld | 58.030.000.000 M |
Gesamtnettozuwachs der Reichsschuld | 145.508.513.700 M |
Dafür, dass der Schuldzuwachs im Ganzen wie in den einzelnen Jahren nicht ganz genau der Differenz der Gesamtausgaben und der ordentlichen Einnahmen entspricht, gibt die Wirthsche Denkschrift auf S. 6 die Erklärung, dass für schwebende Verpflichtungen Mittel durch Schuldaufnahme jeweils im Voraus beschafft werden mussten.
Moulton und McGuire untersuchen, welche Einbuße an Steuerfähigkeit Deutschland seit Kriegsausbruch erlitten habe und kommen zu folgendem Ergebnis:
Verluste (in Milliarden GM) | |
---|---|
Verlust eines Sechstels der Produktionsfähigkeit durch Gebietseinbußen | 50 |
Wertminderung der Maschinen und der sonstigen Ausrüstung der Produktion | 25 |
Schädigung durch die Russeninvasion | 2 |
Verlust an auswärt. Kapitalanlagen unter dem Friedensvertrag | 24 |
Andere Verluste bei Erfüllung des Friedensvertrages | 14 |
Verlust an Vorräten und Waren | 20 |
Gesamteinbuße ungefähr | 135 |
Indem die Verfasser von der meines Erachtens angesichts der Wehrbeitragsstatistik zu hohen Helfferichschen Schätzung des deutschen Nationalvermögens von 300 Milliarden Goldmark für 1913 ausgehen, berechnen sie, dass dieses Vermögen sich auf 165 Milliarden Goldmark verringert habe. Dies dürfte heute kaum mehr aufrechterhalten werden können, da die Verluste der Besitzer der Kriegsanleihen und sonstiger in Papiermark verzinslicher Werte seitdem das deutsche Vermögen, insbesondere des Mittelstandes, nahezu ruiniert haben. Ob die übrigbleibenden Sachwerte und Devisen noch 165 Milliarden darstellen, dürfte recht zweifelhaft sein.
Die Verfasser der amerikanischen Schrift haben sich auch mit der berühmten Kontroverse beschäftigt, wie viel Deutschland bereits an Reparationen erfüllt habe. Die Schwierigkeit liegt darin, dass Deutschland viel größere Lasten erwachsen sind, als in den Rechnungen der Reparationskommission als Leistungen anerkannt wird. Moulton und McGuire berechnen die Deutschland erwachsenen Opfer bis zur Zeit des Abschlusses ihrer Untersuchung auf 25 bis 26 Milliarden Goldmark. Inzwischen hat L. Brentano in der Schrift „Was Deutschland gezahlt hat“ (Berlin und Leipzig 1923) diesen Gegenstand übersichtlich und mit neueren Ziffern behandelt.
Das Lehrreichste sind die Ausführungen von Moulton und McGuire zum Nachweis, dass die Leistung der französischen Kriegsentschädigung nach 1871, wenn man die verschiedene Position der Länder vergleicht, gegenüber den heute Deutschland auferlegten Leistungen eine verhältnismäßig einfache Aufgabe war; und weiter, wie ohne Atempause und gründliche Revision des Versailler Friedens und des Londoner Ultimatums nicht erreicht werden kann, dass finanziell die Alliierten auf ihre Rechnung kommen und dass der auf der Weltwirtschaft heute lastende Druck, unter dem nicht nur Deutschland, sondern auch die Gläubigerländer und Neutralen zu leiden haben, weggenommen wird.
Es wäre wünschenswert, dass die sehr lehrreiche Schrift, mit der wir uns zu beschäftigen hatten, aufmerksamste Leser – wie in der angelsächsischen Welt und in Deutschland – auch in Frankreich und anderwärts finde. Denn selten ist ein Buch geschrieben worden, aus dem so viel zu lernen wäre, wenn die Völker wirklich lernen wollen, ohne durch Schaden erst klug zu werden.
- [1] Vgl. "W.D" Nr. 16 vom 18. April, S. 456.