Ein weit verbreitetes Vorurteil sagt, die gegenwärtige Wirtschaftspolitik sei mit neuen und besonders schwierigen Problemen befaßt und habe sich mühevoll ein modernes Instrumentarium zu deren Bewältigung geschaffen. Diese Ansicht gründet sich auf die nahezu natürliche menschliche Neigung, die Bedeutung von Gegenwartsfragen und der eigenen Beiträge zu deren Lösung zu überschätzen. Unter weniger subjektiven Gesichtspunkten stellt sich die gegenwärtige Wirtschaftspolitik anders dar: Teils ist sie mit Problemen befaßt, die in der sozialen Welt der Jahrhundertwende einen wichtigen Platz hatten; teils sucht sie ideologisch befriedigende Antworten auf sachlich längst ausreichend gelöste Probleme.
Blinde Reformeuphorie
Es ist ganz erstaunlich, zu welcher realitätsfremden Versteigung es moderne progressive Wirtschaftspolitiker haben bringen können. Schulbuchweisheit ist, daß Wirtschaftspolitik die jeweils gegebenen aktuellen Probleme zu lösen habe und daß die Probleme von gestern in einer dynamischen Welt nur höchstens Scheinprobleme sein können. Peinlicherweise ist gerade das große Reformpaket der sozial-liberalen Koalition nichts anderes als ein Zeugnis tiefer Verwurzelung in lange dahingedämmerten alten Tagen. In blinder Reformeuphorie werden die rapiden Wandlungen der sozialen Welt seit damals völlig übersehen.
Der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau wird doch niemandem sagen können, heutigen Gegebenheiten Rechnung zu tragen, wenn er etwa die Forderungen der deutschen Bodenreformbewegung und Alfred Damaschkes von 1898 zu erfüllen sich anschickt. Und es ist für unsere Tage bestimmt nicht angemessen, wenn der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung seine Vermögensbildungspläne aus den Vorstellungen und Vorschlägen ableitet, die in den Briefen des Sozialreformers Carl Rodbertus 1873 formuliert worden sind. Daß die Überlegungen Gustav Schmollers von 1890 noch 1974 für zukunftsweisende Mitbestimmungsmodelle taugen sollen, fällt ebenfalls schwer zu glauben.
Ganz frappierend ist übrigens auch, mit welch geringer Zahl großer Fragen die gegenwärtige Wirtschaftspolitik beschäftigt ist. Der Eindruck ist nicht absurd, daß sich hier einige Wirtschaftspolitiker zusammengetan haben, um einige interessante, aus ideologischen Neigungen selbstgebastelte Aufgaben zu lösen. Die wirklich wichtigen und akuten wirtschaftspolitischen Probleme werden dagegen doch längst bei untergeordneten Referaten und neu geschaffenen Kommissionen regelrecht verschlafen.
Selbst provozierte Probleme
Was geschieht heute etwa hinsichtlich des Umweltschutzes von wirtschaftspolitischer Seite? Das Problem ist bei einem für wirtschaftspolitische Maßnahmen nicht zuständigen Minister gelandet. Die ordnungspolitisch so wichtige Frage der Konzentration ist einer neu errichteten Monopolkommission übertragen worden, die keinerlei wirtschaftspolitische Kompetenz hat. Beschäftigt sich regierungsseitig etwa noch wer mit der Erarbeitung und Durchführung von Konzepten zur Wiedergewinnung der Geldwertstabilität? Vom eigentlich zuständigen Minister war dieses Problem zu einem Modewort herabgestuft worden, obwohl fast alle Welt inzwischen die katastrophalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Inflation spürt.
Bei einer solch weltfremden Auffassung braucht es dann auch gar nicht zu verwundern, wenn immer wieder absolut Falsches getan wird: Wenn der Bundesetat gegen jede stabilitätspolitische Vernunft 1974 vermutlich mit 20 Mrd. DM Defizit abschließen wird; wenn trotz hoher Exportüberschüsse den Sowjets ein Stahlwerk gegen pures Gold, dessen überhöhter Preis bestimmt bald rapide sinkt, aufgedrängt wird; wenn ohne klare Linie einmal gebremst, dann gleich wieder angekurbelt wird. Diese Beispiele sind täglich vielfach zu verzeichnen.
Die legere neue Art, Wirtschaftspolitik zu treiben, hat aber nicht nur die Auswirkung, daß heute wirklich wichtige Maßnahmen unterbleiben und daß einige recht negative Entwicklungen nicht aufgehalten werden. Besonders übel ist, daß viele der heute bestehenden Probleme auf diese Weise erst provoziert worden sind. Wo aus sozialreformerischem Utopismus in den Wirtschaftsablauf eingegriffen wird, werden eben neue Daten gesetzt, denen sich die Wirtschaft anpaßt. Ist es eigentlich noch niemandem aufgefallen, daß in all jenen Bereichen, in denen in den letzten Jahren Reformer angeblich ordnend und gestaltend eingreifen zu müssen glaubten, heute gar nichts mehr befriedigend funktioniert?
Faule Kompromisse
Können wir die manchmal recht handfesten Unmutsäußerungen so vieler neuer Bürgeraktionen wirklich als eine bloß moderne Zeiterscheinung herunterspielen? Muß nicht viel eher zugegeben werden, daß die heutige Wirtschaftspolitik sich kaum noch am Willen der Bürger, sondern vielmehr an grauen Luftschlössern orientiert? Der früheren Wirtschaftspolitik sind doch die Probleme im Verkehrsbereich, im Städtebau, in der Landwirtschaft, im Bodenverkehr und im Wohnungsbau, in der Währungspolitik, in der Bildungspolitik, in der Sozialversicherung, im Außenhandel, bei den öffentlichen Dienstleistungen, und wie all die Probleme heute heißen, nicht deshalb erspart geblieben, weil es diese Probleme damals noch nicht hat geben können, sondern darum, weil eine analytische Wirtschaftspolitik es verstanden hat, diese Probleme zu vermeiden. Was soll es denn z. B., wenn der Bundesminister der Finanzen immer wieder vor seine Parteigenossen trat und ihnen sagte, daß er eine kluge Wahl zwischen den beiden Erzübeln Arbeitslosigkeit hie und Inflation da träfe. In früheren Tagen zielte die Wirtschaftspolitik darauf, es gar nicht erst bis zum Eingehen so fauler Kompromisse kommen zu lassen. Arbeitslosigkeit und Inflation sind beides Übel und müssen beide vermieden werden.
Aber — und da rückt eine weitere Eigenart heutiger Wirtschaftspolitik in das Blickfeld — wenn Mittel nicht nach ihrer Zweckmäßigkeit für die Erreichung wirtschaftspolitischer Ziele ergriffen werden, sondern vor allem, um imaginäre Figuren, Spekulanten und Ausbeuter zu bestrafen, wenn angeblich manipulierte Kleinbürger mit fehlendem klassenkämpferischen und solidarischen Bewußtsein zum Dreh- und Angelpunkt der Wirtschaftspolitik avancieren, dann ist es eben um den rationalen Einsatz des gegebenen wirtschaftspolitischen Instrumentariums einfach geschehen.
Umdeutung von Mißerfolgen
Dann ist der Tag der Pharisäer gekommen, die mit ideologischen Kniffen Mißerfolge in die unabänderlichen Schwierigkeiten und Mängel des marktwirtschaftlichen Systems umzudeuten imstande sind. Daß Studieren dem Probieren vorzuziehen sei und daß wirtschaftspolitische ad-hoc-Experimente weitgehend überflüssig sind, wenn zuvor etwas nachgedacht wird, ist dann das provozierende Gegenteil der neuen Orthodoxie. Daß Wirtschaftspolitik nicht jedem naiven „natürlichen Menschenverstand“ und jedem unbefangenen ehrlichen Bemühen folgen sollte, wird dann zur überholten Ansicht. Daß es vor allem Denkfehler und unzureichende Konstruktionen wirtschaftspolitischer Maßnahmen sind und daß nicht böswillige personale Subjekte die wirtschaftspolitische Malaise der Gegenwart verursacht haben, darf nicht mehr wahr sein.
Sicher wird es heute schwieriger als früher sein, vernünftige wirtschaftspolitische Maßnahmen zu ergreifen. Das wirtschaftliche Wachstum ist verteufelt worden, anstatt es in die erwünschten Bahnen zu kanalisieren und etwa für die Herstellung umweltfreundlicher Güter und zur Schaffung ökologisch unbedenklicher Produktionsanlagen zu nutzen. Symbolische Einzelaktionen und administrativ verordnete Palliativmittelchen ersetzen nicht ein fehlendes geschlossenes Konzept.
Vor einer konsequenten Geldwertstabilisierungspolitik ist ein panischer Schrecken verbreitet worden, anstatt erst einmal das Mögliche zu tun. Aber wozu auch? Überall scheint man die wenigen Störenfriede auf dem Weg in ein intaktes kollektivistisches Paradies bereits zu kennen. Was für ein Denken, das sich erhaben über die dunkelsten Erscheinungen des Mittelalters und der jüngsten Geschichte glaubt und seine eigenen Hexenverfolgungen zu veranstalten sich anschickt. Arbeit wird als Lohnknechtschaft verschrieen, und wer tatsächlich noch arbeitet, wird mit massiven Abgaben an ein in seiner Verschwendungssucht jeden feudalen Fürsten erreichendes Kollektiv ausgebeutet. Fleiß, Wohlstand und Sparen im allgemeinen gelten — wie eine leistungsfähige und leistende Gesellschaft überhaupt - als überholte bürgerliche Ideologien.
Zeitgenössische Unvernunft
Das Verantwortungsbewußtsein heutiger Wirtschaftspolitiker ist wahrlich wenig entwickelt. Nicht, daß sie resignierend vor den Zeitströmungen die Entwicklung laufen lassen, weil es ihnen zu schwer ist, gegen den Zeitgeist anzukämpfen, noch dazu etwa mit bloßer Vernunft. Nein, sie selbst haben die Vernunft fahren lassen und sind in der sich epidemisch verbreitenden zeitgenössischen Unvernunft zum besonders kritischen Krankheitsherd geworden. Zu vernünftiger Wirtschaftspolitik - und das ist das besonders Schlimme - und zur objektiven Aufklärung der Bevölkerung ist vor allem auch kaum noch ein Wirtschaftspolitiker bereit.
Wenn es auch Zeitalter gab, in denen die positiven wie negativen Erfahrungen der unmittelbaren Vergangenheit etwas länger nachwirkten als heute, die Erfolge und auch der Schrecken der Vergangenheit waren, niemals Garantie, daß in der Zukunft nicht bald wieder Fehler gemacht würden. Und wenn auf jede humanitäre Epoche auch stets eine Epoche folgte, in der ein neu entdecktes Dogma eine fragwürdige Aufklärung begann, so ist doch das Ausmaß an Intoleranz und Fanatismus, das sich heute allein schon an den Hochschulen und der „geistigen Elite“ in diesem Land durchgesetzt hat, und das sture Beharren der Wirtschaftspolitiker auf eindeutig falschen Rezepturen ganz besonders erschreckend und läßt eine Bewältigung der Gegenwart leider noch lange nicht hoffen.