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Dieser Beitrag ist Teil von Wirtschaftspolitik gestern und heute

In den mehr als zwei Jahrzehnten deutscher Wirtschaftspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das wirtschaftspolitische Leitbild mehrfach spürbar gewandelt. Die junge Republik trat 1948/49 an mit dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das bis zu einer Phase des Stilverfalls Mitte der 60er Jahre nahezu unangefochten galt. Mit der Übernahme dieses Leitbildes, das „das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs“ verband (Müller-Armack), wurde in unserem Lande der „selbständige Mensch“ zum Ziel der wirtschaftlich, sozialen und kulturellen Ordnungspolitik des Staates.

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft setzt als Idee den freiheitlichen Rechtsstaat voraus; die marktwirtschaftliche Ordnung ermöglicht und sichert diesen aber zugleich auch. Dies ist der Kern dessen, was Eucken die Interdependenz der Ordnungen nannte. Die Soziale Marktwirtschaft beanspruchte mehr zu sein, als eine bloße Rezeptsammlung für die effiziente Organisation der Wirtschaft. Als charakteristische Grundelemente erscheinen mir heute vier Dinge:

  • die individuelle Freiheit des Menschen als ordnungspolitisches Grundprinzip, die durch die Wettbewerbsordnung als konstituierendes Element gesichert wird; Wettbewerb plus Marktwirtschaft als nicht autoritäres System sozialer Kontrolle.
  • eine Gesellschaftspolitik, die sich um die Schaffung und Sicherung von freiheitlichen und sozialen Lebensbedingungen bemüht.
  • eine kompensatorische Konjunkturpolitik mit quantitativ offenem Zielhorizont; die Konjunkturpolitik beschränkt sich neben ad-hoc-Maßnahmen im Bereich der handelspolitischen Liberalisierung im Prinzip auf Geld- und Kreditpolitik.
  • für jegliche Maßnahmen zur Ergänzung und Korrektur der Marktprozesse - nicht Lenkung der Wirtschaftsprozesse - gelten zwei Interventionskriterien: prozesspolitisch das Prinzip der Zielkonformität, ordnungspolitisch das der Marktkonformität.

Regeln der Konfliktaustragung

Die Soziale Marktwirtschaft, die uns in der Vergangenheit die solide ökonomische Basis verschafft hat, von der aus heute Reformen erst denkbar sind, war als ein politisches Programm konzipiert und wurde damals auch so verstanden. Es war keine auf einen eindimensionalen Interessengegensatz festgelegte Konzeption, die auf kollektive, von allen Gruppen gemeinsam zu verfolgende Ziele fixiert war. Vielmehr sollte die Soziale Marktwirtschaft dem Ausgleich der Interessenvielfalt dienen; dazu die gemeinsamen Regeln der Konfliktaustragung.

Realisierungsetappen waren die Schaffung der Wettbewerbsordnung mit dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (1957), die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes (1952), die Rentenreform von 1957 und die außenwirtschaftliche Liberalisierung und volle Konvertibilität der D-Mark 1958. Hinzu kam mit der Sparförderung und der versuchsweisen (Teil-)Reprivatisierung öffentlicher Unternehmen in den frühen 60er Jahren ein Anlauf zur Vermögensbildung breiter Schichten.

Begünstigende exogene Faktoren

Der Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft indessen war nicht denkbar ohne die Gunst einer Reihe exogener Faktoren, wie das anfänglich unbegrenzte Arbeitskräftepotential infolge des Flüchtlingszustroms, die grundlegende Modernisierung des Produktionsapparates nach der Totalzerstörung, die amerikanische Wirtschaftshilfe, die relativ schwachen konjunkturellen Ausschläge und die dem Investitionsklima sehr förderliche politische Stabilität im Innern. Einige Zusammenhänge kurz in Stichworten: Ohne Auslandshilfe kein Import von Rohstoffen und Nahrungsmitteln, kein rascher Abbau des Zahlungsbilanzdefizits; ohne Konvertibilitätsbeschränkungen im Festkurssystem von Bretton Woods keine volle Effizienz der Notenbankpolitik.

Vielleicht deshalb, weil der Konsens über das wirtschaftspolitische Leitbild sehr weitgehend war und die Erfolge für sich sprachen, wurde die damalige Transparenz der Wirtschaftspolitik als genügend empfunden.

Notwendigkeit eines neuen Leitbildes

Im Verständnis von Wissenschaft und Politik begann die Ära eines neuen Leitbildes im Jahre 1967 mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz. Damit wurde die Wirtschaftspolitik dazu verpflichtet, als gleichrangige Ziele anzustreben:

  • ein stetiges und angemessenes Wachstum,
  • einen hohen Beschäftigungsgrad,
  • die Stabilität des Preisniveaus sowie
  • das außenwirtschaftliche Gleichgewicht.

Diese „Neue Wirtschaftspolitik“ war der Versuch, die Wirtschaftspolitik transparenter zu machen und sie gesellschaftlichen Handlungszwängen zu unterwerfen, nachdem sich ausgangs der Ära Erhard mehr und mehr herausgestellt hatte, dass der konventionelle Ansatz den sich ändernden Verhältnissen nicht mehr gerecht wurde.

Nach dem Übergang zur vollen Konvertibilität in den westlichen Industriestaaten wurde die monetäre Politik vom Ausland her mehr und mehr durchkreuzt. Für einen kombinierten Einsatz von Geld-, Finanz- und Außenwirtschaftspolitik war das damalige Instrumentarium zu beschränkt. Hinzu kam die merkliche Verringerung der Produktionselastizität der Wirtschaft seit 1960, als Wachstum im wesentlichen nur noch durch weiteren Produktivitätsfortschritt möglich wurde. Denn bei rückläufiger Arbeitszeit stagnierte das Arbeitspotential. Mit zunehmender Verknappung der Arbeitskräfte begann der Verteilungskampf, der zu einer entscheidenden Verhärtung des sozialen Klimas führte. Partikularinteressen konnten sich mehr und mehr durchsetzen.

Kern der neuen Wirtschaftspolitik, die damals als Übergang von der „naiven“ zur „aufgeklärten“ Wirtschaftspolitik gefeiert wurde, ist die Globalsteuerung. Die Idee ist, die gesamtwirtschaftlichen Kreislaufgrößen planvoll einer makroökonomischen Beeinflussung zu unterwerfen. Dazu bedarf es numerisch quantifizierter gesamtwirtschaftlicher Zielprojektionen, die verbindliche Orientierungen für alle sozialen Gruppen im Hinblick auf die kollektiv vorgegebenen vier gesamtwirtschaftlichen Ziele darstellen.

Für den Staat selbst steht an dieser Stelle die mittelfristige Finanzplanung. Mit dem Stabilitätsgesetz wurde das dazu benötigte konjunkturpolitische Instrumentarium geschaffen. Als Mittel zur Koordinierung des Gruppenverhaltens wurden Konsultationsgremien ins Leben gerufen wie die Konzertierte Aktion, der Finanzplanungsrat, der Konjunkturrat für die öffentliche Hand und der Konjunkturrat-Kredit. Die Zielprojektion der Regierung wird im Jahreswirtschaftsbericht, dem wirtschaftspolitischen Kursbuch der Regierung für das laufende Jahr, veröffentlicht, zusammen mit der Stellungnahme der Regierung zu dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates. Dieses unabhängige Gremium war 1963 gebildet worden und war ebenso wie die frühen Vorläufer des Jahreswirtschaftsberichtes im Verein mit anderen Versuchen, die Konjunkturpolitik auszubauen, ein Vorbote der 1967 versuchten Rationalisierung der Wirtschaftspolitik.

Ernüchterung und Besinnung

Dass dieser Versuch nach Anfangserfolgen nicht die erhofften Erfolge brachte, ist heute weitgehend unbestritten. Mit dem neuen Instrumentarium gelang es rasch, die Rezession 1967 zu überwinden, nicht jedoch den darauffolgenden Boom zu zügeln. Kritiker wie Befürworter der Globalsteuerung sind sich indessen uneins in den Ursachen des enttäuschend geringen Erfolges. Es hilft kaum weiter, auf überhöhte Erwartungen hinsichtlich der Machbarkeit der Wirtschaftspolitik hinzuweisen, die durch das Stabilitätsgesetz in der Öffentlichkeit damals geweckt worden waren.

Die gegenwärtige Ära der Wirtschaftspolitik kann man wohl zutreffend mit Ernüchterung und Besinnung umschreiben. Sieht man von jener in den Geisteswissenschaften verwurzelten Fundamentalkritik an der Neuen Wirtschaftspolitik einmal ab, die deren ursprüngliche Naivität bezüglich der Grenzen des Machbaren auf den rationalistischen Konstruktionismus zurückführt, dann kann es nicht darum gehen, die Globalsteuerung pauschal zu verwerfen. Was vor allem not tut, scheint mir ein neues Rollenverständnis für die beiden wichtigsten Politikbereiche zu sein. Dazu muss bei einer Ursachenanalyse der grundlegenden Probleme angefangen werden.

Ursachenanalyse der Probleme

Erstens: Die Lageanalyse ist überfordert, weil alle statistischen Methoden und ökonomischen Modelle keine so hinreichend genaue Diagnose und treffsichere Prognose erlauben, wie es für eine Konjunkturpolitik erforderlich ist, die vom Ansatz her für sich in Anspruch nimmt, nicht kompensatorisch, sondern antizyklisch zu wirken. Da die Globalsteuerung die zukünftige Entwicklung quantifizieren muss, will sie Globalziele fixieren, steht sie de facto unter einem permanenten Prognosezwang.

Zweitens: Die Probleme der Zielformulierung. Zwar sind die vier Globalziele berechenbar, aber von den Instrumenten her gesehen sind es alles andere als operationale Ziele. Die Ziele sind nur im theoretischen Modell auf makroökonomischer Ebene steuerbar. In der Realität hat es die Wirtschaftspolitik jedoch mit Millionen einzelner Wirtschaftseinheiten zu tun, die auf den Instrumenteneinsatz anders als modellhaft reagieren können.

Drittens: Die Schwächen des Instrumentariums selbst; sie sind ebenso – wie die Zielproblematik – oft diskutiert worden. Vor allem, es genügt nicht, Hammer und Säge im Kasten zu haben, Stiel und Griff müssen auch handlich sein. Mit anderen Worten: Wer die potentiellen ökonomischen, gesellschaftspolitischen und institutionellen Bedingungen, unter denen die Instrumente gegebenenfalls eingesetzt werden müssen, bei deren Konzipierung nicht genügend berücksichtigt, dann greift der Politiker im Zugzwang lieber nicht in diesen Instrumentenkasten. Auch über die Schwächen der Konzertierten Aktion gibt es haufenweise Untersuchungen. Hervorzuheben ist daneben auch die mangelhafte Koordination der verschiedenen staatlichen Entscheidungsinstanzen, die ohne eine grundlegende Reform im institutionellen Aufbau der Wirtschaftspolitik wohl nicht zu beheben ist.

Lehren aus der Entwicklung

Reflex aller dieser Mängel, so könnte man es zusammenfassen, ist die Malaise, die wir mit der monetären Politik infolge der fehlenden oder zu spät, für zu kurze Zeit erfolgten außenwirtschaftlichen Absicherung erlebt haben. Zwar war in der Theorie nicht unbekannt, dass alle anderen konjunkturpolitischen Instrumente schlecht oder gar nicht greifen, wenn die Geldmenge ungehindert kräftig expandiert. Doch die Politik hat daraus nicht rechtzeitig die richtigen Konsequenzen gezogen.

Zum anderen haben wir erfahren, dass die Finanzpolitik im Konflikt zwischen dem, was antizyklische Globalsteuerung an Zurückhaltung gebot, und den hochgespannten Erwartungen in der Öffentlichkeit, dass die Versorgung mit öffentlichen Gütern nachhaltig verbessert werde, nicht den zentralen Beitrag zur Lösung des Stabilisierungsproblems leisten konnte. Nicht zuletzt lag dies daran, dass die gesellschaftlichen Gruppen nur sehr begrenzt „mitgezogen“ haben und dadurch dem Staat mehr und mehr Verantwortung aufgebürdet wurde, ohne dass dies den Verteilungskampf entschärfen konnte.

Die Wirtschaftspolitik hat mit dem Stabilitätsprogramm vom Mai 1973 jedoch den Beweis erbracht, dass sie auch heute zu scharfem Zugriff befähigt bleibt. Die Ölkrise im Herbst 1973 ließ die Stabilisierungschancen, die inzwischen am Horizont sichtbar geworden waren, dahinwelken. Immerhin gelang es mit der erzwungenen Kursrevision im Dezember 1973, zusehends größer werdenden Beschäftigungsrisiken erfolgreich vorzubeugen. Die gegenwärtige Politik der mittleren Linie – finanzpolitisch stützend, im monetären Bereich nachhaltig restriktiv – bemüht sich wieder mehr um die Konstanz der Daten und ist nicht zuletzt auch Ausweis dafür, dass die Wirtschaftspolitik besonnener reagiert.

Stärker akzentuiert worden sind aber auch einige Problemstellungen der Wirtschaftspolitik, die in den Jahren zuvor hinter der Dominanz der Globalsteuerung allzu sehr in den Schatten gedrängt wurden. Ich meine damit eine umfassende und planmäßige Energiepolitik, die schon vor dem Ausbruch der Nahostkrise im Bundeswirtschaftsministerium konzipiert und formuliert wurde und nun, im Lichte der Erfahrungen des vergangenen halben Jahres, fortgeschrieben und ergänzt wird. Ober die Energiepolitik hinaus haben sich neue Problemstellungen in der Sicherung unserer gesamten Rohstoffversorgung ergeben, die entsprechende Anstrengungen der Wirtschaftspolitik erforderlich machen. Neben der Globalsteuerung nimmt im binnenwirtschaftlichen Bereich die regionale Strukturpolitik schärfere Konturen an; wir werden in den kommenden Jahren hier zusätzliche Initiativen ergreifen müssen. Schließlich, um auch dies anzudeuten, verlangt die wachsende Zusammenarbeit mit Staatshandelsländern – nicht nur des Ostens – ein neues Verhältnis zwischen Privatwirtschaft und Regierungseinfluss in unserer Außenwirtschaftspolitik. Die jüngste Investitionskonferenz in Teheran ist ein besonders hervorstechendes Beispiel dafür.

Alle diese zusätzlichen Elemente in unserer Wirtschaftspolitik dürfen die Substanz unserer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht antasten, obwohl sie – falsch verstanden – dazu durchaus in der Lage wären. Die ordnungspolitische Aufgabe der kommenden Jahre wird daher in erster Linie sein, zwar flexibel die sich ändernden weltwirtschaftlichen Einflüsse in unsere eigene Wirtschaftspolitik einzubeziehen, aber gleichzeitig das marktwirtschaftliche Prinzip unverletzt zu lassen, es vielmehr noch schärfer als bisher herauszuarbeiten. Denn nur so wird es gelingen, sozialen Fortschritt mit individueller und politischer Freiheit zu verbinden.

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