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Der föderative Staatsaufbau der Bundesrepublik Deutschland erweist sich in der gegenwärtigen Ausprägung zunehmend als Hindernis für notwendige Reformen. Worauf ist dies zurückzuführen? Wo könnten Reformen ansetzen?

Warum ist unsere Politik so schwach?

Wir haben uns in letzter Zeit immer mehr daran gewöhnen müssen, dass man Deutschland als das „Schlusslicht“ des europäischen Wachstumszuges bezeichnet. Wir lesen von der Schieflage unseres Bildungssystems in der Pisa-Studie, von der Abwanderung kreativer Köpfe in die USA, und Professor Straubhaar nennt Deutschland einen „Sanierungsfall“.

Nach dieser weit verbreiteten Diagnose wird meist sehr schnell auf eine Therapie in einzelnen Politikfehlern geschlossen: Sie heißt natürlich: Flexibilität, Eigenverantwortung, Wettbewerb. Sicherlich geht es um mehr Eigenverantwortung, mehr Flexibilität, um mehr Markt in der deutschen Gesellschaft. Doch scheint mir die Diagnose der Probleme unseres Landes in zweifacher Hinsicht nicht scharf genug. Sie übersieht die hinter den Fehlentwicklungen wirkenden, besonderen strukturellen Ausgangsbedingungen der deutschen Lage.

Zum einen hat Deutschland seit zwölf Jahren wirtschaftlich und sozial eine mit anderen europäischen Nationen unvergleichbare, zusätzliche Last zu schleppen. Die „alte“ Bundesrepublik musste 1989 die DDR-Region finanziell auffangen, hatte die Westwanderung von über 1 Million Menschen im Arbeitsalter zu absorbieren und sie versorgt arbeitssuchende Pendler in Höhe von über einer halben Million Menschen mit Arbeitsplätzen im Westen. Mehr noch: Sie transferiert Jahr für Jahr netto rund 130 – 150 Mrd. DM in die „neuen“ Länder (d.h. rund 4% ihres – westlichen – Sozialprodukts). Und sie wird dies weiter tun müssen.

Nun wendet man ein: So schwer der Aufbau Ost wiegen mag - die meisten Reformen, die heute so dringend angemahnt werden, wurden schon seit Jahrzehnten auch in der „alten“ Bundesrepublik diskutiert. Und doch bewegte sich kaum etwas. Warum?

Folgenschwere Konstruktion des Bundesrats

Diejenigen Nationen in Europa, die uns heute so oft als Vorbilder für eine erfolgreichere Anpassungsstrategie vorgehalten werden, sind zentralstaatlich organisiert. Die „alte“ Bundesrepublik aber knüpfte 1949 einerseits an die historische deutsche Tradition von Staatenbund und später Bundesstaat an. Die Länder gründeten die Bundesrepublik 1949. Deutschland wurde darüber hinaus auch nach 1945 von den Alliierten bewusst als machtgebremste Föderation installiert, und schließlich entstand 1949 auch noch (in deutscher Entscheidung) die folgenschwere Konstruktion des Bundesrats - statt eines Senats als zweiter Kammer. Vielleicht historisch logisch, aber im damaligen Zeitpunkt nahezu zufällig, beim Frühstück am Rande des Parlamentarischen Rats.

So also ist unsere Lage in Westeuropa in zweifacher Weise besonders: Einmal als die einzige Nation, die einen kommunistisch regierten Staat integrieren musste und zum anderen als föderalistisch gestaltete politische Organisation. Wir sind neben der Schweiz der einzige föderalistisch organisierte Staat in Europa, und wir wissen, auch die Schweiz ist politisch eher „langsam“. Aber wir sind andererseits darüber hinaus auch nicht wirklich föderalistisch organisiert, im Gegensatz zur Schweiz. Unsere Verfassung, das Grundgesetz, schafft keine klaren Zuständigkeiten der verschiedenen politischen Ebenen. Und dies macht uns schwerfällig und entscheidungslahm.

Verfassungen verbürgen nicht nur Rechte und Pflichten, sie sind auch das Gerüst der politischen Entscheidungsprozesse eines Landes. Insofern war es intellektuell nicht nachvollziehbar, dass der ehemalige SPD-Vorsitzende Jochen Vogel 1998 die Forderung des BDI-Präsidenten Olaf Henkel, die föderalen Strukturen der Bundesrepublik zu überarbeiten, eine gefährliche „Ökonomisierung“ der Verfassung nannte. Angesichts sich schnell wandelnder Herausforderungen der Weltwirtschaft (wir nennen das verkürzt auch Globalisierung) wollte Henkel schon damals die föderalen Verfassungsstrukturen der Bundesrepublik Deutschland politisch entscheidungsfähiger gestalten. Dass dies eine Notwendigkeit ist, erfahren wir täglich. Auch heute, angesichts von Ereignissen wie der Abstimmung über das Zuwanderungsgesetz im Bundesrat, wird der Ruf nach einer Reform des Grundgesetzes wieder laut. Und diesmal ist es nicht nur der Präsident des BDI, Michael Rogowski.

Verfassung als organisatorisches System

Jede Verfassung beschreibt eben immer auch ein organisatorisches System. Als solches, als „Organisationsschema“, muss eine Verfassung mit den ökonomischen und sozialen Anforderungen an die Gesellschaft übereinstimmen. Sonst entstehen gefährliche, extrakonstitutionelle Spannungen, die wiederum zu erheblichen politischen Verwerfungen führen können. Anders ausgedrückt: Im Angesicht zunehmender, weltweiter Wirtschaftsverflechtungen muss eine Verfassung entweder elastisch genug sein, um den sich verändernden Bedingungen entsprechen zu können – oder sie muss geändert werden, will man Brüche vermeiden.

Ist nun der Föderalismus als konstitutionelle Organisationsform eine ungeeignete Organisationsstruktur für die sich beschleunigt europäisierende und internationalisierende Wirtschaftsgesellschaft? Sind uns zentralstaatlich organisierte Nationen im Anpassungstempo zwangsläufig überlegen? Es gibt Studien, die dies anzudeuten scheinen.1

Stärkung dezentraler Verantwortung notwendig

Doch hier ist es interessant, einen Blick auf andere Organisationen zu werfen und ihre Reaktionen auf wachsende Marktverflechtungen. Betrachtet man aus diesem Blickwinkel die Wirtschaft selbst, insbesondere die großen Unternehmen, so lässt sich hier eher eine Tendenz zur Föderalisierung erkennen. Die beschleunigte, evolutionäre Expansion von Kommunikationssystemen macht zunehmend die früher informationsbündelnden Zwischenebenen der Hierarchien überflüssig und führt damit zu immer mehr dezentralen Entscheidungsträgern. Gruppenarbeit im Automobilbau ist dafür nur ein Beispiel. Nur durch Dezentralisation der Führungsaufgaben – eben durch „Föderalismus“, wenn man so will – konnten die großen Konzerne die tiefgreifenden Veränderungen bewältigen.

Der ganze Strom der Managementtheorien der letzten Jahrzehnte, der gewiss auch viel überflüssig Modisches mit sich geführt hat, lässt sich in seiner Grundrichtung immer wieder auf diese eine Frage reduzieren: Wie kann ein Unternehmen als Ganzes die wissenschaftlich-technisch bedingte, wachsende Komplexität der Arbeitsprozesse bewältigen? Und die Antwort lautet: Durch immer weiter dezentral verlagerte Verantwortung verbunden mit zentraler Richtungsbestimmung. Das optimale Gleichgewicht zwischen zentraler und dezentraler Verantwortung ist das Organisationsproblem par excellence.

Die Stärkung dezentraler Verantwortung ist deswegen auch in einer größeren politischen Gemeinschaft nicht nur eine demokratische Forderung nach mehr Selbstbestimmung der Bürger vor Ort, ihrer Gemeinden und ortsnahen Länder, sondern – wägt man die Erfahrungen der Wirtschaft – darüber hinaus eine höchst pragmatische Notwendigkeit.

Dezentralisation, Eigenverantwortung kleinerer Einheiten und mehr Verantwortung der Menschen für ihr eigenes Leben sind also nicht nur ein emanzipatorisches Gebot, sondern angesichts einer zunehmend komplexer verflochtenen Welt auch eine ganz pragmatische Forderung der Führungstechnik. Dies ist auch der Grund, warum dem Prinzip des politischen Föderalismus wachsende Aufmerksamkeit zugewendet wird. Dies scheinen auch die politischen Bestrebungen zur Dezentralisation (devolution) in einigen Zentralstaaten - Frankreich, Großbritannien oder Italien - zu bestätigen. Man beginnt auch im politischen Raum zu erkennen, dass die Komplexität in größeren Einheiten zunimmt und bei unnötiger Zentralisation die Gefahr problemferner und damit fehlerhafter Entscheidungen wächst. Wirklicher Föderalismus, also dezentrale Verantwortung auch mit dem Ergebnis von Unterschieden und Wettbewerb, ist ein effektiveres Entscheidungs- und Lernsystem. In unserer Europa-Debatte sollten wir das beherzigen!

Allerdings verträgt eine dezentrale Organisation keine Halbheiten. Wo, wie in unserem deutschen Bund-Länder-Konsenssystem des sogenannten kooperativen „Föderalismus“, die eine Ebene der anderen ständig bis in die Einzelheiten hineinreden kann (und heute ist das fast überall der Fall), dort entstehen Unbeweglichkeit und Stagnation, Verantwortungslosigkeit und Chaos. Da wäre es besser gewesen, man hätte sich zentralistisch organisiert. Zentralisation ist besser als halbherzige Dezentralisation. Ein gut geführter Zentralstaat ist besser als ein unentschiedener Föderalismus.

Verantwortungen erkennbar ansiedeln

Ziel einer dezentralen Organisation muss immer sein, Verantwortungen erkennbar anzusiedeln, und zwar dort, wo sie am sachgerechtesten getragen werden kann. Um diese Verantwortungen dann dort aber auch tragen zu können, bedarf derjenige, dem sie zugeordnet werden, auch einer gewissen Freiheit der Entscheidung. Einer „gewissen“ Freiheit der Entscheidung nur, weil in einem Gesamtsystem auch eine dezentrale Verantwortung an übergeordnete Regeln der Systemzentrale gebunden sein muss. In einer politischen Föderation kann ja nur so die übergeordnete Gemeinschaft (Nation) bestehen bleiben. In diesen, möglichst klar abgesteckten Grenzen bedürfen die dezentralen Einheiten dann allerdings nicht nur einer deutlichen Freiheit zur Entscheidung: Die Gesamtheit muss als Ergebnis auch zwangsläufig mit regionalen Unterschieden rechnen. Und das muss eine föderalistisch organisierte Nation ertragen wollen. „Gleiche Lebensverhältnisse“ müssten dann in diesem Sinne interpretiert werden.

Eine selbstverantwortliche Gebietskörperschaft müsste also in der Lage sein, einen entsprechenden Teil ihrer Ressourcen (Steuern) selbst zu bestimmen und damit auch die Folgen finanzpolitischer Entscheidungen sichtbar tragen. Es geht hier um den angelsächsischen Begriff der „accountability“, in der Tat nur schwer übersetzbar; er beinhaltet nämlich nicht nur das Recht, eine Entscheidung zu treffen und die Notwendigkeit auch die Folgen zu tragen, sondern auch die Pflicht zur Rechenschaftslegung.

„Accountability“ der Gliedstaaten erforderlich

Damit ein politischer Föderalismus funktioniert, müssten also nicht nur klar abgegrenzte Aufgaben an die Gliedstaaten übertragen werden, die Gliedstaaten müssten auch über ihre Ressourcen – und differenziert! – entscheiden können und dann die Folgen von sowohl unrichtigen als auch von falschen Entscheidungen sichtbar tragen. Ohne klare Verantwortung keine verantwortlichen Entscheidungen, sondern Unübersichtlichkeit und faule Kompromisse. Ohne klare Eigenverantwortung der Länder politische Verantwortungslosigkeit in weiten Bereichen. Ohne „accountability“ der Gliedstaaten kein Föderalismus. In dieser Beziehung sind einige föderalistische Vorbilder – z.B. die USA und die Schweiz – eindeutig konsequenter und effizienter organisiert als wir.

In Deutschland haben Länder keine eigenen Einnahmen; sie sind dennoch verpflichtet, in erheblichem Umfang die Einnahmen anderer Länder auszugleichen. Sie sind zuständig für das Bildungswesen, aber dürfen nicht einmal den Zugang zu ihren Hochschulen regeln. Ihre Gemeinden müssen für die Kosten der Sozialhilfe aufkommen, aber sie haben kaum die Möglichkeit, Einfluss darauf zu nehmen, wer welche Arbeit annehmen muss oder wie das Verhältnis von Sozialhilfeleistungen zu den unteren Lohngruppen geregelt ist. Die Länder sind bei fast allen Entscheidungen des Bundes als Bundesrat gefragt, und einzelne Länder feilschen deswegen dort bei Abstimmungen oft über andere sachfremde Themen, um günstige Ergebnisse in anderen Feldern zu erzielen. Der für die Bürger unüberschaubare Vermittlungsausschuss wird dadurch gelegentlich wichtiger als Bundesregierung und Bundestag.

Komplizierte Konsensmaschinerie

Unsere Verfassung praktiziert keinen eigenverantwortlichen Föderalismus, sondern eher eine komplizierte Konsensmaschinerie. Hat man die Grundprinzipien von Organisation und Verantwortung einmal verstanden, dann wird man also von der sogenannten „Reformunfähigkeit“ Deutschlands kaum noch überrascht sein: Sie liegt weder an überstarken Verbänden – die gibt es heute in allen ausgereiften Demokratien gleichermaßen; sie liegt auch nicht an einer besonderen Schwäche deutscher Politiker - deren Durchsetzungskraft in unpopulären, außenpolitisch bestimmten Fragen (von der Wiederbewaffnung bis zum Euro) spricht eher gegen eine besondere Schwäche. Vielmehr macht jene, von unserer Verfassung vorgegebene bzw. praktizierte Organisation der politischen Entscheidungsprozesse unser Land immer handlungsschwächer. Angesichts der uns von außen immer dringlicher gestellten Herausforderungen innenpolitischer Natur eine große Gefahr.

Zugegeben: Es sind häufig nicht die Verfassungsartikel selbst, die den heutigen Zustand herbeigeführt haben, obwohl schon der Bundesrat als solcher eine Fehlkonstruktion darstellt. Auch die Gesetzgebungspraxis hat Bund und Länder in immer größere gegenseitige Abhängigkeit geführt; immer mehr zustimmungspflichtige Gesetze wurden geschaffen. Bund und Länder haben gemeinsam diese Entwicklung begünstigt. Eine Entflechtung auch im Rahmen des Grundgesetzes würde deswegen schon erheblich helfen.

Eine oft übersehene Folge unserer heutigen Verfassungspraxis ist im Übrigen auch der immense Zeitaufwand, der für den innenpolitischen Abstimmungsprozess von den Politikern gefordert wird. Dieser Aufwand erlaubt es verantwortlichen Politikern kaum noch, den Kopf frei zu halten für wirklich strategisches Denken. Sie haben zu wenig Zeit für auswärtige und kulturelle Kontakte. Was die bestehende Verflechtung der Entscheidungsprozesse von Bund und Ländern an Gesprächs- und Abstimmungsbedarf bedeutet, was sie mit sich bringt an Kompromissen, an Zeitaufwand und Rücksichten des Bundes auf lokale Wahlen, das muss man wohl selbst erlebt haben, um es zu begreifen: Hier hat die Selbstlähmung des Systems eine weitere, wesentliche Ursache.

Reformstau – eine Organisationsfrage

Je weiter nun Europäisierung bzw. die Globalisierung fortschreiten, desto bedeutsamer werden für die Bundesrepublik Fragen der Effizienz unserer eigenen politischen Entscheidungsprozesse. „Reformstau“ in Deutschland muss deswegen endlich als Frage der Organisation unserer bundesrepublikanischen Entscheidungsprozesse verstanden werden. Der Patient Deutschland lamentiert über seine schmerzhaften Symptome, aber er begreift nicht die wesentlichen Ursachen für seine erlahmende Entscheidungskraft.

Die heutige deutsche Föderalismuskonzeption schafft keine kreativen Vorteile mehr, es überwiegen die lähmenden Nachteile. Schon die Unterscheidung zwischen „kooperativem Föderalismus“ und „Wettbewerbsföderalismus“, die im Zusammenhang mit Fragen des Finanzausgleichs immer wieder angeführt wird, ist intellektuell ein Unding: Jeder Föderalismus bedeutet Wettbewerb der Gliedstaaten, sonst ist das Gebilde eben kein Föderalismus. Verantwortung will Freiheit, aber Freiheit von Menschen schafft auch Ungleichheiten, sonst ist es eben keine Freiheit. Doch nur wer frei ist, kann auch verantworten! Im heutigen Zustand aber wird Politik in Deutschland nicht mehr wirklich verantwortet: Jeder zeigt auf den anderen als Verursacher der Blockade - der Bund auf die Länder im Bundesrat, die Länder auf den Bund, die Gemeinden auf beide. Wir erleben eine Selbstfesselung des politischen Systems. Wir müssen begreifen: Nicht Deutschlands Wirtschaft, sondern Deutschlands politische Organisation ist nicht mehr wettbewerbsfähig.

Gibt es eine Therapie? Das Problem liegt nicht in einem Mangel an Ideen – ich verweise nur auf Fritz Scharpfs große Studien, auf die Arbeiten der Bertelsmann Stiftung „Entflechtung 2005“ und der Naumann Stiftung usw. Das Problem liegt vielmehr in der mangelnden Erkenntnis der politischen Öffentlichkeit und der Politiker selbst. Politik und politische Medien müssen erst einmal verstehen, dass die Organisation von Entscheidungsprozessen das Schicksal von Organisationen bestimmt – und dass dies auch für Staaten gilt. Dass eben auch eine Verfassung nicht nur Rechte sichert, sondern als Organisationsschema die politischen Entscheidungsprozesse maßgeblich bestimmt.

Wir werden Deutschland im internationalen und inner-europäischen Wettbewerb erst wieder handlungsfähig machen können, wenn es gelingt, der Öffentlichkeit zu vermitteln, dass Föderalismus zwar eine Zukunft haben kann, dass aber die praktische Ausgestaltung des Föderalismus in Deutschland die Hauptursache der deutschen Misere ist. Und, dass die notwendigen und dringenden Reformen der Verfassung nicht länger nur eine intellektuelle Beschäftigung einzelner Stiftungen, Wissenschaftler oder Politiker sein dürfen: Eine grundlegende Reform des deutschen Föderalismus muss endlich als Lebensfrage unseres Landes begriffen werden.

  • 1 Vgl. Ulrich Thießen: Fiscal Decentralization & Economic Growth in HighIncome OECD Countries, ENEPRI Working Paper Nr. 1, Januar 2001, Centre for European Policy Studies (CEPS), Brüssel.

Reformstau durch ein Zuwenig an Föderalismus

Spätestens seit F. W. Scharpf1 das Wort von der „Politikverflechtungsfalle“ geprägt hat, wird in der Bundesrepublik Deutschland der Föderalismus für den bestehenden Reformstau (mit-)verantwortlich gemacht. Als wesentliches Problem gelten die unterschiedlichen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat, die seit den sechziger Jahren fast durchgängig zu beobachten sind: Wenn die Regierung in Bonn wechselt, dauert es nicht sehr lange, bis die im Bund regierenden Parteien ihre Mehrheit in der Länderkammer verlieren und im Bundesrat wieder Kompromisse gesucht werden müssen. Um diese Situation zu ändern, wird das Heil in einem Ausbau des Zentralismus gesucht, welcher dem Bund weitere Kompetenzen zuordnen soll, so dass durch die Länderkammer keine Blockade der Bundespolitik mehr erfolgen kann.

Es ist nicht zu bezweifeln, dass es solche Blockaden gibt bzw. dass, wie gerade diese Legislaturperiode wieder gezeigt hat, die Opposition im Bundestag in bestimmten Situationen (insbesondere im Vorfeld von Bundestagswahlen) der Versuchung nicht widerstehen kann, durch die Blockade von Gesetzen im Bundesrat die Regierung „vorzuführen“, um damit die eigene Ausgangssituation vor den Wahlen zu verbessern, und dass eine Regierung, die sich nicht erpressen lassen will, darauf entsprechend reagiert. Dadurch werden neue Regelungen blockiert, für die prinzipiell breite Mehrheiten vorhanden wären.

Dieses Spiel wurde Ende der letzten Legislaturperiode in Zusammenhang mit der Steuerreform und jetzt wieder beim Zuwanderungsgesetz gespielt.

Weitgehend ausgeschalteter Wettbewerb

Wenn eine bestimmte föderale Struktur derartige „Spiele“ ermöglicht, ist es sicher sinnvoll darüber nachzudenken, welche institutionellen Reformen solchem Verhalten einen Riegel vorschieben könnten. Ein zentralistisches System wie z.B. im Vereinigten Königreich lässt solches nicht zu. Andererseits zeigt ein Vergleich der Entwicklungen der europäischen Länder nach dem zweiten Weltkrieg, dass das Vereinigte Königreich gerade in wirtschaftlicher Hinsicht nicht sonderlich erfolgreich war. Heute liegt sein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf immer noch unter jenem Deutschlands (trotz der Probleme mit der deutschen Vereinigung), aber auch unter jenem Österreichs, von der Schweiz ganz zu schweigen2. Ein wesentlicher Grund dafür sind die vergleichsweise extremen Politikwechsel, die häufig nach einem Regierungswechsel erfolgten. In einer weiteren Zentralisierung das Heil zu suchen, könnte daher zu einer wirtschaftlich noch ungünstigeren Situation führen.

Vieles spricht dafür, dass das Problem der Bundesrepublik Deutschland eher in zu wenig als in zu viel Föderalismus besteht. Föderalismus sollte Wettbewerb zwischen den politischen Einheiten beinhalten. In Deutschland wurde – unter dem Eindruck der Doktrin der (vom Grundgesetz geforderten) Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse – dieser Wettbewerb zwischen den einzelnen Bundesländern weitgehend ausgeschaltet. Genau er aber ermöglicht, dass föderale Staaten sehr viel reformfreudiger sein können als zentralistische Staaten. Wenn es in Deutschland einen Reformstau durch Föderalismus geben sollte, dann allenfalls durch einen schlecht konstruierten Föderalismus. Außerdem sind unterschiedliche Mehrheiten in den beiden Kammern, indem sie den Volkswillen nach „mittleren“ Lösungen zum Ausdruck bringen, zumindest aus demokratietheoretischer Perspektive eher zu befürworten.

Gespaltene Regierung als Ausdruck des Volkswillens

Die seit den sechziger Jahren in Deutschland bestehende Situation unterschiedlicher Mehrheiten in den beiden Kammern ist weder eine Besonderheit Deutschlands noch ein „Betriebsunfall“, sondern sie ist zum einen Ausdruck des Volkswillens und zweitens auch in anderen Ländern zu beobachten. Voraussetzung dafür ist, dass die Bevölkerung die Möglichkeit hat, über die ideologische Ausrichtung politischer Entscheidungsträger auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlichen Wahlen unabhängig voneinander zu entscheiden. So spricht man in den Vereinigten Staaten von einer „gespaltenen Regierung“ (divided government): Für einen großen Teil der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sah sich der amerikanische Präsident einem Kongress mit einer anderen parteipolitischen Ausrichtung gegenüber, und für die wichtigen Entscheidungen musste dann ein Kompromiss zwischen Präsident und Kongress (bzw. zwischen den beiden großen Parteien) gefunden werden. Und selbst in Frankreich, wo das politische System so konstruiert ist, dass der Präsident und die von ihm abhängige Regierung einen weiten Entscheidungsspielraum haben, beobachten wir inzwischen längere Perioden der „Cohabitation“ und damit faktisch einer Koalition zwischen den beiden großen Blöcken.

Dies zeigt, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wollen, dass wichtige Entscheidungen im Konsens zwischen den wesentlichen politischen Kräften getroffen werden und dass keine „extremen“ Beschlüsse gefällt werden. Dies entspricht der Aussage der ökonomischen Theorie der Demokratie, wonach sich im demokratischen Wettbewerb die Position des Medianwählers durchsetzt.

Offensichtlich gilt dies nicht nur in der direkten Demokratie, für die dieses Modell entwickelt wurde, sondern auch in rein repräsentativen Systemen, sofern die Wählerinnen und Wähler die Möglichkeit haben, ihre Entscheidungen für verschiedene Ebenen unabhängig voneinander zu treffen. (In der Schweiz wird der gleiche Zwang zur Einigung durch die Existenz des Referendums erzeugt: Da knappe Entscheidungen des Parlaments kaum Chancen haben, ein Referendum zu überstehen, werden in aller Regel Lösungen gesucht, hinter denen eine große parlamentarische Mehrheit steht.) Dies aber lässt institutionelle Vorschläge, mit denen versucht wird, solche Kompromisse generell zu vermeiden, (zumindest aus demokratietheoretischer Perspektive) als problematisch erscheinen.3

Dazu kommt, dass die Erfahrung vieler Länder zeigt, dass große Reformen eher in der Zusammenarbeit zwischen den entscheidenden politischen Kräften zustande kommen als mittels einer polarisierenden Politik. Gerade deutliche Kurswechsel erfordern, wenn sie erfolgreich sein sollen, zumeist einen solchen Konsens. Dies gilt für die Arbeitsmarktreformen in den Niederlanden nicht anders als für die Reformpolitik in Neuseeland oder auch für die (erfolgreichen) Bemühungen der Schweiz Ende der neunziger Jahre, das ausufernde Budgetdefizit des Bundes in den Griff zu bekommen. (Dass jetzt durch das Verhalten des Parlaments sowie durch die Ausgaben für die neue Airline Swiss nach dem Überschuss im Jahr 2001 für die nächsten Jahre wieder erhebliche Defizite zu erwarten sind, ändert daran nichts.) Insofern haben sich korporatistische Verfahren in vielen Fällen als sehr erfolgreich erwiesen. Und auch theoretisch ist unbestritten, dass grundlegende Änderungen von Regeln, die (zumindest prinzipiell) der Verfassungsebene zuzuordnen sind, von einer breiten Mehrheit abgestützt werden sollten.

Ein spezifisch deutsches Problem

Typischerweise erfordert fiskalischer Föderalismus, dass die mittlere und die untere Ebene des Staates nicht nur über ihnen zugewiesene Mittel (im Rahmen der verfassungsmäßigen Vorgaben) frei entscheiden können, sondern dass sie auch eigene Quellen haben, aus denen ihnen diese Mittel zufließen. Genau dies aber ist bei den deutschen Bundesländern nicht gegeben: Sie besitzen keine eigene Steuerhoheit. Aber auch der Bund hat nur eine sehr eingeschränkte Steuerhoheit: Sieht man von einigen speziellen Verbrauchssteuern ab, so finanziert er sich genauso wie die Länder im Wesentlichen über die Gemeinschaftssteuern. Damit können die Länder zwar für sich selbst nur sehr wenig entscheiden, sie aber haben im Ausgleich dafür gemeinsam sehr viel Einfluss im Bund.

Diese Vermischung von Kompetenzen auf der Finanzierungsseite ist jedoch nicht eine notwendige Folge des Föderalismus, sondern ein spezifisch deutsches Problem.4 Ihr entspricht auf der Ausgabenseite eine unzureichende Trennung der Aufgabenbereiche. Dazu kommen ein System des Finanzausgleichs, welches (unter Verweis auf die geforderte Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse) die Steueraufkommensunterschiede weitestgehend einebnet, und die (durch das Bundesverfassungsgericht sanktionierte) Pflicht des „Bail-outs“ konkursreifer Bundesländer wie Bremen und das Saarland durch den Bund und die übrigen Bundesländer. All dies zusammen kann, so wie die deutschen Parteien sich verhalten (und unter dem Druck, wiedergewählt werden zu müssen, sich teilweise vielleicht auch verhalten müssen), tatsächlich zu einer Reformblockade führen.

Stärkung des Föderalismus sinnvoll

Man könnte dieses Problem mit einer stärkeren Zentralisierung angehen. Allerdings sind die Aussichten dafür, dass dies längerfristig zu einer besseren Politik führen würde, eher gering. Sinnvoller wäre eine Stärkung des Föderalismus. Hierzu müssten die Aufgaben zwischen Bund und Ländern strikter getrennt und zudem den Ländern eigene Steuerquellen zugewiesen werden. Damit ergäben sich zunächst erhebliche Unterschiede in der Finanzausstattung der einzelnen Länder. Sieht man einmal von den neuen Bundesländern ab, die ohne Zweifel noch über längere Zeit auf erhebliche zusätzliche Zuweisungen vom Bund und/oder den westdeutschen Bundesländern angewiesen sind, so könnte ein Teil dieser Unterschiede durch einen (maßvollen) Finanzausgleich ausgeglichen werden. Ansonsten aber wären die Bundesländer (z.B. durch entsprechende verfassungsrechtliche Regeln) auf einen weitgehenden Budgetausgleich zu verpflichten, was im Fall erheblicher Defizite auch Steuererhöhungen nach sich ziehen könnte.

Auch könnte man sich beim Finanzausgleich Regeln vorstellen, die stärker äquivalenzorientiert sind. So zahlt z.B. in der Schweiz der Heimatkanton für jeden Studenten, der in einem anderen Kanton studiert, diesem Kanton einen Ausgleich, dessen Höhe abhängig vom Studienfach ist und der in etwa die Studienkosten abdeckt. Damit ergibt sich nicht nur ein Ausgleich zwischen Hochschul- und Nicht-Hochschulkantonen, sondern, sofern diese Beiträge den Universitäten zugute kommen, lässt sich damit (bei freier Studienplatzwahl) auch in einem staatlichen System ein Wettbewerb um Studierende entwickeln.

Je unabhängiger die einzelnen Bundesländer sind, desto eher sind sie in der Lage, bei sich Reformen durchzuführen. Diese können, sofern sie erfolgreich sind, in anderen Bundesländern und möglicherweise auch auf der nationalen Ebene nachvollzogen werden. Erweisen sich diese Reformen dagegen als Fehlschläge, so sind die Kosten erheblich geringer, als wenn man entsprechende „Experimente“ auf nationaler Ebene durchgeführt hätte. Insofern stellen Staaten mit föderaler Struktur ein Labor für Reformen dar. Dies gilt freilich nur dann, wenn der Spielraum der einzelnen Gliedstaaten nicht gleichzeitig durch nationale Regelungen zu stark eingeschränkt wird, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland leider in weiten Bereichen der Fall ist.

So wäre z.B. eine Ausbildung in den Wirtschaftswissenschaften wie an der Universität St. Gallen in Deutschland kaum denkbar, weil sie nicht den entsprechenden Rahmenordnungen entspricht. Dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) haben unsere Absolventen hervorragende Berufschancen in Deutschland. Dies ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass viele jener in Deutschland existierenden zentralen Regelungen, die den Föderalismus behindern, nicht nur überflüssig sind, sondern schädlich sein können.

Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass der in der Bundesrepublik Deutschland existierende Reformstau weder eine notwendige Folge des Föderalismus ist noch sich daraus ergibt, dass sich zentrale staatliche Regelungen auf eine breite Mehrheit (auch in der Bevölkerung) abstützen müssen. Das Problem ist vielmehr ein Zuwenig an Föderalismus, welches dadurch nur scheinbar ausgeglichen wird, dass die Länder in (reinen) Bundesangelegenheiten weitgehende Mitspracherechte haben. Eine Lösung sollte daher nicht in einer weiteren Zentralisierung gesucht werden, sondern in einer Stärkung der Position der einzelnen Länder, insbesondere auch durch Gewährung einer eigenen Steuerhoheit, sowie in einer weitgehenden Entflechtung der entsprechenden Aufgabenbereiche zwischen Bund und Ländern. Wie das Beispiel der Schweiz zeigt, ist der damit (vermeintlich oder auch tatsächlich) verbundene Verlust an Einheitlichkeit (der Lebensverhältnisse) ein geringer, freilich zu zahlender Preis im Vergleich zu dem, was man damit an Handlungsspielraum (und damit an Möglichkeiten, auf die Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger besser eingehen zu können) gewinnen kann.

    • 1F.W. Scharpf: Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 26 (1985), S. 323 – 356.
    • 2Siehe http://www1.oecd.org/std/gdpperca.htm. Dies gilt auch kaufkraftbereinigt.
    • 3 Siehe hierzu ausführlicher G. Kirchgässner, L.P. Feld, M. Savioz: Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel, München 1999, S. 169 ff.
    • 4 Siehe hierzu auch G. Kirchgässner, W.W. Pommerehne: Zwischen Parteien und Bundesstaat: Staatshandeln in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, in: H. Abromeit , W.W. Pommerehne (Hrsg.): Staatstätigkeit in der Schweiz, Bern, Stuttgart, Wien 1992, S. 221 – 245.

Reformstau durch deformierten Föderalismus

Der Föderalismus befindet sich in einer ausgesprochenen Sinnkrise. Repräsentative Demokratie bedeutet nach der sogenannten Lincolnschen Formel Regierung durch das Volk und für das Volk. Der Sinn des Bundesstaats besteht darin, von beidem mehr zu erreichen: Durch Aufteilung der Kompetenzen auf Bund und Länder sollen mehr Bürgernähe und mehr politische Handlungsfähigkeit ermöglicht werden. Doch die Idee verkehrt sich in der bundesrepublikanischen Realität in ihr Gegenteil. Bei uns entmachtet der Föderalismus Parlamente und Bürger und führt zu immer größerer Bürgerferne. Die Handlungsfähigkeit der Politik wird vermindert, gelegentlich bis hin zur Lähmung.1

Dabei geht es um Probleme des Systems. Seine Deformation und die Auflösung zurechenbarer Verantwortung sind – von der Europäischen Union abgesehen – kaum irgendwo derart ausgeprägt wie in dem auf Bismarck zurückgehenden deutschen Exekutivföderalismus. Dies soll – beispielhaft – an zwei Schüsselthemen illustriert werden, dem Wirken des Bundesrats und der Kultusministerkonferenz.

Blockadeinstrument Bundesrat

Die Blockademacht des Bundesrats ist seit dem Scheitern der Steuerreform in der vergangenen Wahlperiode in die öffentliche Diskussion geraten. Im Bundesrat sollen eigentlich Länderinteressen in die Bundespolitik eingebracht werden. Doch wird er zunehmend parteipolitisch instrumentalisiert und hat dadurch eine neue, ihm von den Verfassungsvätern gar nicht zugedachte Rolle erhalten. Eine abweichende parteipolitische Mehrheit im Bundesrat, wie sie allmählich fast zur Regel geworden ist, ist aus machtpolitischen Gründen leicht versucht, mit ihrem Veto die Regierungsmehrheit im Bundestag zu blockieren. Und dies ist bei immer mehr Angelegenheiten möglich. Ursprünglich waren nur etwa 10% der Bundesgesetze „Zustimmungsgesetze“, inzwischen sind es über 50% – und darunter regelmäßig die wichtigsten.

Kennzeichnend für diese Entwicklung ist ein für den deutschen Föderalismus typischer Mechanismus von Verhandlungen zulasten Dritter: Der Bund erhielt im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Gesetzgebungskompetenzen, was sein Gewicht erhöhte, die Ministerpräsidenten stimmten der dafür erforderlichen Grundgesetzänderung im Bundesrat zwar zu, aber nur unter der Voraussetzung, dass ebendieser Bundesrat ein Vetorecht bei der Bundesgesetzgebung erhielt, und gewannen dadurch Profilierungsmöglichkeiten auf der Bundesebene.2 All das ging auf Kosten der Landesparlamente und der diese wählenden Bürger.

Lähmung der Bundesländer

Zu ähnlichen Blockaden kommt es in den Bundesländern. Diese tendieren in den ihnen verbliebenen Gesetzgebungsbereichen zu Einheitsregelungen. In dem wichtigsten Länderbereich, der Schul- und Hochschulpolitik, haben sie ihre Kompetenzen praktisch an die Kultusministerkonferenz abgetreten. Deren Beschlüsse sind rechtlich zwar nicht bindend, haben faktisch aber ein großes präjudizierendes Gewicht. Da die Kultusministerkonferenz nur einstimmig entscheidet, kann das kleinste der sechzehn Bundesländer alles blockieren. Das langsamste Schiff bestimmt die Geschwindigkeit des ganzen Geschwaders. Verkrustung und Innovationsmangel sind die Folgen.

Welche Konsequenzen dies für die Schulpolitik zeitigt, hat eine internationale Vergleichsuntersuchung in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften schon 1997 gezeigt. Die Leistungen deutscher Schüler sind vergleichsweise niederschmetternd, und die Reaktion der Kultusministerkonferenz war typisch. Statt öffentlich Alarm zu schlagen, hat sie versucht, die Ergebnisse unter der Decke zu halten. Die Ende 2001 vorgelegte Pisa-Studie hat nun die dürftigen Ergebnisse der deutschen Schulausbildung bestätigt – auch für andere Schulfächer.

Auch sonst wird in fast tausend interföderalen Gremien beinahe alles zwischen den Ländern sowie zwischen Bund und Ländern koordiniert und abgestimmt – mit ähnlich lähmenden Folgen. Da in diesen Gremien fast durchweg Vertreter der Regierungen sitzen und Absprachen treffen, degenerieren die Landesparlamente häufig zu bloßen Vollstreckern der Entscheidungen irgendwelcher Minister- und Beamtenzirkel. Die ins Kraut geschossenen Koordinierungsgremien führen zu einem verschleierten Zentralismus, obwohl meist kein Gesetz und keine Verfassungsvorschrift dazu zwingt.

An sich hätte man vermutet, dass sich die Landesparlamente gegen die Zentralisierung und die damit verbundene schrittweise Austrocknung ihrer eigenen Kompetenzen zur Wehr setzen. Dabei wird aber übersehen, dass die Landesparlamentarier sich durch Aufblähung ihrer Bezahlung und Versorgung schadlos gehalten haben. Zudem schaltet die Zentralisierung den Leistungswettbewerb zwischen den Ländern aus, und dies entspricht durchaus den Eigeninteressen von Berufspolitikern. Denn dann können sie für politische Fehlleistungen nicht mehr verantwortlich gemacht werden.

Reformbedarf anerkannt

Diese Mängel zu beheben verlangt eine grundlegende Reform. Der Reformbedarf wird inzwischen fast durchgehend erkannt – nicht nur von Wissenschaftlern, sondern auch von Politikern selbst. Während früher gewisse Mängel des politischen Entscheidungsverfahrens hingenommen werden konnten – angesichts der Produktivität und des Wachstums blieb immer noch genug für das Notwendige übrig –, hat sich die Situation heute grundlegend geändert. Das hängt mit dem nachlassenden Wirtschaftswachstum, den größeren Lasten infolge der deutschen Vereinigung und der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit, aber auch mit den demographischen Umschichtungen zusammen. Hinzu kommen der stärkere Wettbewerbsdruck durch Europäisierung und Globalisierung und – seit dem 11. September 2001 – ganz neue Anforderungen an die öffentliche Sicherheit. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass die Mängel der politischen Willensbildung, die inzwischen geradezu eine Art Standortnachteil der Bundesrepublik Deutschland begründen, immer empfindlicher registriert werden.

      • Die Reformvorschläge betreffen vor allem fünf Aspekte:
      • den Abbau der sogenannten Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern,
      • die Reform der Finanzverfassung, insbesondere den Abbau der Mischfinanzierung und die Neuaufteilung der Steuerhoheit zugunsten der Länder,
      • die Ausweitung der im Laufe der Zeit immer dürftiger gewordenen Gesetzgebungskompetenzen der Länder,
      • die Stärkung der an Bedeutungsverlust leidenden Landtage und
      • die Verbesserung des bundespolitischen Entscheidungsverfahrens, etwa durch Verringerung der Kompetenzen des Bundesrats.

Wir finden also eine weitgehende Übereinstimmung in zwei Themenbereichen vor: Fehlfunktionen des Föderalismus und – daraus resultierend – dringender Reformbedarf.

Eigeninteresse der politischen Klasse

Gleichzeitig werden zwei weitere, besonders heikle, aber auch wichtige Themenbereiche ignoriert oder unterdrückt. Im „Mainstream“ der politischen und wissenschaftlichen Äußerungen bleiben sie jedenfalls regelmäßig ungenannt. Der eine betrifft die Frage, wodurch die Fehlentwicklung der föderalistischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland eigentlich entstanden ist, welches also die wirklichen Triebkräfte und die Motive der Politiker waren und sind. Geht man dieser Frage unvoreingenommen nach, so gelangt man zu den schon erwähnten Eigeninteressen der politischen Akteure. Die Verteilung der Verantwortung auf möglichst viele Schultern ist für alle beteiligten Politiker nun einmal sehr bequem, weil sie ihre Stellung sichert und sie gegen mögliche Vorwürfe und Angriffe immunisiert.

Doch Hinweise auf die Eigeninteressen der politischen Klasse als eigentlicher Motor für die Fehlentwicklungen findet man in fast keiner der großen bundesdeutschen Untersuchungen, und wenn dieses Motiv doch einmal genannt wird, dann eher von Außenseitern.3 Das dürfte wiederum zwei Gründe haben, die sich gegenseitig verstärken: eine gewisse Naivität des Menschenbildes mancher Autoren, gepaart mit methodenbedingter Analyseschwäche, und die in Deutschland unter vielen Gesellschafts- und Rechtswissenschaftlern verbreitete Abneigung, Politikern zu nahe zu treten.

Es gilt immer noch als „politisch inkorrekt“, die Eigeninteressen der politischen Klasse und ihren Einfluss auf deren Verhalten beim Namen zu nennen. Man nimmt die Gemeinwohlorientierung, welche die Amtsträger regelmäßig für sich reklamieren, für bare Münze und traut sich nicht zu sagen, dass des Kaisers neue Kleider gar keine sind und er in Wahrheit nackt dasteht. Symptomatisch sind Studien der Bertelsmann Stiftung4 und der Friedrich-Naumann-Stiftung.5 Obwohl die Autoren beider Studien ansonsten kein Blatt vor den Mund nehmen und viele Mängel deutlich herausstellen, fehlt die Frage nach den inneren Gründen für die bisherigen Fehlentwicklungen völlig (und die Antwort natürlich erst recht).

Die Eigeninteressen sind auch die eigentliche Ursache für den Widerspruch zwischen der ausgeprägten Reformrhetorik und der dürftigen Reformpraxis. Die Politik reagiert durch Reden statt durch Tun. Man gibt sich – auch hier – gemeinwohlorientiert, handelt mehrheitlich aber ganz anders. Das wird bei den schon erwähnten Landesparlamenten deutlich.6 Man vergießt Krokodilstränen über die eigene Entmachtung. In Wahrheit fühlt sich das Gros offenbar ganz wohl dabei, dass man keine oder wenig politische Verantwortung zu übernehmen braucht.

Beispiel Reform des Finanzausgleichs

Ein weiteres Beispiel, wie Reformbemühungen und Reform ansätze in der Praxis leicht versanden, ist die Reform des Finanzausgleichs, die das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil von 1999 anstoßen wollte. Das Urteil hatte manche Hoffnung auf eine umfassende Reform genährt. Doch was ist daraus geworden? Die dann zwei Jahre später beschlossene „Reform“ verdient diesen Namen nicht. Sie wurde im Übrigen dadurch noch zusätzlich erschwert, dass Bundeskanzler Schröder und Bundesfi nanzminister Eichel Ländern wie Berlin, Brandenburg, Bremen und Hamburg vorab den Fortbestand überholter Privilegien zugesagt hatten, um diese Länder dazu zu bewegen, ihrer Steuerreform im Bundesrat zuzustimmen.

Hier wird deutlich, wie sich Reformdefizite immer weiter aufschaukeln. Mit jeder Bewegung sinkt das Gemeinwesen tiefer in den Sumpf: Die unterbliebene Neugliederung des Bundesgebiets lässt etwa die Stadtstaaten als selbständige Bundesländer fortbestehen, obwohl keines der verschiedenen Neugliederungskonzepte sie für erhaltenswert erklärt hat. Dieser „Anachronismus“ (Ingo von Münch) steht nun einer wirklichen Reform des Finanzausgleichs im Wege; über ihre Vetoposition im Bundesrat verschaffen jene Länder selbst ihren überholtesten Belangen Geltung.

Die zweite in den Analysen regelmäßig unterdrückte Frage ist, ob die Länder nach einer Rückübertragung von Kompetenzen überhaupt in der Lage sind, davon sinnvollen Gebrauch zu machen. Die Kompetenzen waren früher ja auch aus dem Grund auf den Bund übertragen worden, weil die Länder versagt hatten. Was zuallererst nötig wäre, ist deshalb eine grundlegende Verfassungsreform der Bundesländer, welche deren Handlungsfähigkeit wieder herstellt und ihre Bürgernähe er höht. Dadurch würden die Länder erst in die Lage versetzt, von den auf sie zurückzuübertragenden Kompetenzen sinnvoll Gebrauch zu machen.

Vordringlich: Reform der Landesverfassungen

Man sollte mit der erforderlichen Systemreform auch deshalb auf Landesebene beginnen, weil dort mit Hilfe von Volksbegehren und Volksentscheid auch solche Änderungen möglich sind, welche die politische Klasse auf Grund ihrer Eigeninteressen sonst leicht hintertreibt. Inzwischen sehen alle sechzehn Länder die Möglichkeit unmittelbarer Volksgesetzgebung vor, und in den meisten Ländern kann man auf diesem Wege auch die Verfassung ändern.

Das von mir vorgestellte Reformmodell für Landesverfassungen zur Herstellung von politischer Handlungsfähigkeit und Bürgernähe7 erhält denn auch immer mehr Zustimmung seitens der Wissenschaft8 und teilweise auch von Spitzenpolitikern.9 Dieses Modell beinhaltet:

      • die Direktwahl des Ministerpräsidenten durch das Volk,
      • Verbesserungen des Wahlrechts zum Landesparlament und
      • einige weitere aus dem Systemwechsel folgende Änderungen.

Das Erfolgsmodell der Direktwahl der Exekutivspitze sollte von den Gemeinden, Städten und Landkreisen auf die Länder übertragen werden. Der Unterschied zwischen einem Stadtstaat wie Hamburg und anderen deutschen Großstädten wie Hannover, Köln, München oder Stuttgart ist ohnehin so groß nicht.

Dass die ganz große Mehrheit der Menschen eine solche Reform wünscht, steht ohnehin fest: Die TED-Umfrage einer rheinland-pfälzischen Zeitung ergab eine Zustimmungsrate zur Direktwahl des Ministerpräsidenten von 89%, eine Mehrheit also, die an die 82% erinnert, die sich im hessischen Referendum von 1991 für die Direktwahl der Bürgermeister und Landräte aussprachen.

Stärkere Stellung des Regierungschefs

Man stelle sich einmal vor, das Reformmodell hätte es bereits in Hamburg und Berlin gegeben, als dort im September und im Oktober 2001 Wahlen stattfanden. Dann wäre uns die Peinlichkeit erspart geblieben, dass der Hamburger CDU-Spitzenkandidat, Ole von Beust, nun die dortige, höchst wackelige Regierung führt, obwohl seine Partei nur 26% der Stimmen bekam. Auch in Berlin würde ein direkt gewählter Regierender Bürgermeister eine ganz andere demokratische Legitimation besitzen als Klaus Wowereit mit seiner SPD/ PDS-Koalition. Und in Sachsen würde der neue Ministerpräsident Milbrath als Nachfolger von Biedenkopf nicht allein von seiner Partei, der CDU, bestimmt, sondern vom Volk, wie es sich in einer Demokratie gehört.

Ein direkt gewählter Regierungschef hätte gegenüber seiner Partei eine stärkere Stellung. Er ließe sich auch im Bundesrat nicht mehr so leicht parteilich einbinden, und das Problem der gespaltenen Stimmenabgabe eines Landes im Bundesrat entfi ele dann ohnehin.

Gelänge es, eine solche Reform auch nur in einem Lande durchzusetzen, könnte dies eine Aufbruchstimmung erzeugen, die leicht auf andere Länder und den Bund überschwappen und auch dort die Reformbereitschaft sprunghaft erhöhen würde.10

Von allein kommen solche Reformen gegen den Widerstand der politischen Klasse allerdings nicht zustande. Es gilt deshalb, aus der Bürgerperspektive eine Strategie zur Durchsetzung der Reform zu entwickeln. Wir kommen an der Erkenntnis nicht mehr vorbei, dass dies „unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, dass auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde“ (Karl Raimund Popper). Politik ist zu wichtig, als dass man sie allein den Berufspolitikern überlassen könnte.

      • 1 Dies ist das Fazit meines Buchs „Vom schönen Schein der Demokratie“, auf das dieser Beitrag auch sonst vielfach zurückgreift; Hans Herbert von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie, München 2000. Siehe auch die Taschenbuchausgabe von 2002 mit einem aktuellem Nachwort und Hans Herbert von Arnim, Gisela Färber, Stefan Fisch (Hrsg.): Föderalismus. Hält er noch, was er verspricht?, Berlin 2000.
      • 2 Dies ist allerdings nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Grund für die Zunahme der Zustimmungsgesetze. Siehe Hans Herbert von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie, a.a.O., S. 86 ff., 110f.
      • 3So zum Beispiel von Roland Vaubel: The Political Economy of Centralization and the European Community, in: Public Choice 1994, S. 151 ff., hier S. 153 ff.; Reiner Eichenberger: Der Zentralisierung Zähmung. Die Föderalismusdiskussion aus politisch ökonomischer Perspektive, in: Christoph Engel, Martin Morlok (Hrsg.): Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 157 ff., hier S. 159ff.; Charles B. Blankart : Politische Ökonomie der Zentralisierung der Staatstätigkeit, Humboldt Universität zu Berlin, Discussion Paper – Economic Series – Nr. 108, 1998, S. 6f.; Hans Meyer (Diskussionsbeitrag), Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 58 (1999), S. 114 ff., hier S. 115.
      • 4 Hans-Wolfgang Arndt, Ernst Benda u.a.: Zehn Vorschläge zur Reform des deutschen Föderalismus, in: Zeitschrift für Rechtspolitik, 2000, S. 201; siehe auch Bertelsmann Kommission „Verfassungspolitik und Regierungsfähigkeit“ (Hrsg.): Neuordnung der Kompetenzen zwischen Bund und Gliedstaaten, Gütersloh 2001. Man beschränkt sich vielmehr auf Appelle und vage Hoffnungen: „Die Autoren gehen davon aus, dass der Mut zu Reformen in weiten Kreisen und in der Bevölkerung zunimmt.“ (Zehn Vorschläge, a.a.O., S. 206).
      • 5Für einen reformfähigen Bundesstaat: Die Landtage stärken, den Bundesrat erneuern. Ein Manifest der Föderalismus-Kommission der Friedrich-Naumann-Stiftung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.1.2002.
      • 6Ursula Münch, Tanja Zinterer: Reform der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern, Zeitschrift für Parlamentsfragen 2000, S. 657 ff., hier S. 667, beschreiben dies unter der Überschrift „Lethargische Landtage“. Auch Albert Janssen bestätigt, dass von Seiten der Landesparlamente „kein wirkliches Interesse an entsprechenden Reformen“ besteht; Albert Janssen: Die Reformbedürftigkeit des deutschen Bundesstaates aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Hans-Günter Henneke (Hrsg.): Verantwortungsteilung zwischen Kommunen, Ländern, Bund und EU, 2001, S. 59 ff., hier S. 87. Das zeigt sich besonders in der laschen Behandlung des von den Direktoren der Landesparlamente erarbeiteten Reformentwurfs durch die Landtagspräsidenten; siehe Sonderheft der Zeitschrift für Gesetzgebung 2000 zum Thema „Stärkung des Föderalismus. Text und Kommentierung des am 23. Mai 2000 von den Präsidenten der deutschen Landesparlamente beschlossenen Diskussionspapiers“
      • 7 Hans Herbert von Arnim: Staat ohne Diener, Taschenbuchausgabe, München 1995 (1993), S. 344 ff.; d e r s .: Ein demokratischer Urknall, in: Der Spiegel vom 20.12.1993, S. 35 ff.; d e r s .: Das System, München 2001, S. 336 ff., S. 367 ff. Dort und bei den in der folgenden Anmerkung Genannten fi ndet sich auch eine ausführliche Darstellung der vielfältigen voraussichtlichen Auswirkungen eines derartigen Systemwechsels, die im vorliegenden Beitrag nicht möglich ist.
      • 8 Zum Beispiel Hans Heinrich Rupp: Politische Teilhabe – Politische Kultur, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1993/2, S. 111 ff., hier S. 118; Hans Meyer in: Broschüre der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag „Parlamentarische Reformen“, 1996; Frankfurter Intervention, Wege aus der Krise des Parteienstaats, in: Recht und Politik 1995, S. 16; Klaus Escher: Für Teilzeit-Landtage und Direktwahlen, in: Focus 1997/32, S. 50; Hans-Horst Giesing: Kritische Fragen zum Föderalismus, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.): Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik?, Berlin 1999, S. 75; Fried E s t e rbauer: Volkswahl der Regierung?, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.): Direkte Demokratie, Berlin 2000, S. 161; Brun-Otto Bryde: Die Reform der Landesverfassungen, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.): Direkte Demokratie, a.a.O., S. 147; Frank Decker: Direktwahl des Ministerpräsidenten?, in: Recht und Politik, 2001, S. 51; Albert Janssen, a.a.O., S. 74ff. Die Vorgenannten setzen sich auch mit den Einwänden etwa von Hans Hugo Klein: Direktwahl der Ministerpräsidenten?, in Burkhardt Ziemske, Theo Langenscheid, Heinrich Wilms , Görg Haverkate (Hrsg.): Festschrift für Martin Kriele, München 1997, S. 573 ff., auseinander.
      • 9Zustimmung zur Direktwahl von Ministerpräsidenten haben zum Beispiel geäußert: der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe, der thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel (mit Einschränkungen) und der frühere Hamburger Erste Bürgermeister Henning Voscherau. Ablehnend dagegen zum Beispiel der rheinlandpfälzische Ministerpräsident Kurt Beck, der frühere hessische Ministerpräsident und jetzige Bundesfinanzminister Hans Eichel und der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident und jetzige Bundes präsident Johannes Rau.
      • 10 Föderalismusforscher wie Gerhard Lehmbruch und Fritz Scharpf gehen allerdings davon aus, es sei ohnehin nicht viel an Reformen möglich und schon gar keine Systemreformen. Insofern nehmen wir einen optimistischeren Standpunkt ein.

Restriktionen und Spielräume einer Reform des Bundesstaates

Die Folgen der deutschen Vereinigung werfen auf den Bundesstaat ein ambivalentes Licht. Daß diese Staatsform auch an der Schweööe zum 21. Jahrhundert noch immer vorzüglich geeignet ist, regionale Disparitäten und kulturelle Unterschiede zu akkommodieren, hat sich seither erneut erwiesen. Andererseits haben Disparitäten auch die Interessengegensätze zwischen Ländern wieder belebt, die man durch das föderale Verbundsystem der Finanz reform von 1969 weitgehend bewältigt glaubte.

Schon seit den achtziger Jahren war bei der Bundesregierung wie in den Bundesländern die Skepsis gegenüber der damals perfektionierten „Politikverfl echtung“ gewachsen.1 Nun wird der Idee des „kooperativen“ Solidarföderalismus zunehmend das neue Leitbild eines „Wettbewerbsföderalismus“ gegen übergestellt, das seit den frühen siebziger Jahren von der ökonomischen Föderalismustheorie entwickelt wurde und gegenüber der etablierten Kompetenzverfl echtung die Vorteile einer dezentralisierten Kompetenzwahrnehmung herausstreicht. Das hierarchische Steuerungsmodell vergangener Zeiten, das sowohl der Idee des Einheitsstaates als auch der des „unitarischen Bundesstaates“ zugrunde lag, wurde dadurch wirkungsvoll in Frage gestellt. Und weil mittlerweile kaum noch ernsthaft bestritten wird, daß der Föderalismus dringend reform bedürftig ist, liegt die Frage nahe, warum Reformbemühungen so ungemein schleppend vorankommen.

An dieser Stelle sei zunächst darauf hingewiesen, daß die Reformvorschläge, wie sie insbesondere aus dem Lager der ökonomischen Föderalismustheorie kommen, in der Regel an einer eigentümlichen Schwäche leiden: Es fehlt ihnen eine überzeugende Transformationsstrategie, die mit ihren theoretischen Prämissen konsistent wäre. Wenn man ein Verfl echtungssystem so radikal umbauen will, wie es heute – mit guten Argumenten– vorgeschlagen wird, dann ist von entscheidender Bedeutung, wie die Konsensbildungsprozesse organisiert werden sollen, die in einem demokratischen Staat einen solchen Umbau ermöglichen müssen. In der Literatur wird diese Frage nur zu oft vernachlässigt.

Schwächen der Reformvorschläge

An dieser Stelle sei zunächst darauf hingewiesen, daß die Reformvorschläge, wie sie insbesondere aus dem Lager der ökonomischen Föderalismustheorie kommen, in der Regel an einer eigentümlichen Schwäche leiden: Es fehlt ihnen eine überzeugende Transformationsstrategie, die mit ihren theoretischen Prämissen konsistent wäre. Wenn man ein Verfl echtungssystem so radikal umbauen will, wie es heute – mit guten Argumenten– vorgeschlagen wird, dann ist von entscheidender Bedeutung, wie die Konsensbildungsprozesse organisiert werden sollen, die in einem demokratischen Staat einen solchen Umbau ermöglichen müssen. In der Literatur wird diese Frage nur zu oft vernachlässigt.

Prämisse des Wettbewerbsmodells ist ja die fruchtbare Modellvorstellung der Neuen Politischen Ökonomie, daß politische Prozesse vom Eigeninteresse der beteiligten Akteure gesteuert werden und daß man Institutionen so konstruieren müsse, daß sie die interagierenden Eigeninteressen in kollektiv optimale Ergebnisse transformieren. Allzu oft bleibt aber offen, wie man in einer pluralistischen Demokratie die erforderliche institutionelle Transformation bewältigen kann, wenn man nicht auch dafür dem Eigeninteresse der beteiligten Akteure so Rechnung trägt, daß sie dem institutionellen Wandel keinen Widerstand in den Weg stellen.

Änderungen nur bei Systemkrisen

Wer sich die Entwicklungsgeschichte des deutschen Föderalismus vor Augen führt, den müßte es eigentlich nachdenklich stimmen, daß größere Veränderungen der bündischen Organisation Deutschlands immer nur im Zusammenhang von Systemkrisen durchgesetzt werden konnten, nachdem die etablierte Machtverteilung vor allem durch kriegerische Auseinandersetzungen massiv erschüttert worden war. Das gilt schon für die Reorganisation des Alten Reiches durch den Westfälischen Frieden von 1648 und dann für den Übergang zum Deutschen Bunde auf dem Wiener Kongreß von 1815. 1848 reichten die revolutionären Energien nicht aus, um dem bundesstaatlichen Konzept der Paulskirchenversammlung gegen den Widerstand der großen Einzelstaaten zum Durchbruch zu verhelfen. Ein solches Programm konnte erst Bismarck nach den Kriegen von 1866 und 1870/71 durchsetzen, zuerst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes (1867), und dann 1871 mit dessen Erweiterung zum Deutschen Reich. Die nächsten großen Reorganisationen erfolgten dann 1919, nach dem verlorenen ersten Weltkrieg, und 1949, als der durch Nazidiktatur und zweiten Weltkrieg verwüstete deutsche Staat auf dem westlichen Teilgebiet seines bisherigen Territoriums wiedererstand.Widerstand der großen Einzelstaaten zum Durchbruch zu verhelfen. Ein solches Programm konnte erst Bismarck nach den Kriegen von 1866 und 1870/71 durchsetzen, zuerst mit der Gründung des Norddeutschen Bundes (1867), und dann 1871 mit dessen Erweiterung zum Deutschen Reich. Die nächsten großen Reorganisationen erfolgten dann 1919, nach dem verlorenen ersten Weltkrieg, und 1949, als der durch Nazidiktatur und zweiten Weltkrieg verwüstete deutsche Staat auf dem westlichen Teilgebiet seines bisherigen Territoriums wiedererstand.

Seither hat sich der deutsche Föderalismus trotz zahlreicher Detailkorrekturen als ungemein stabil und auch reformresistent erwiesen. Noch einmal hätte sich vielleicht 1990 ein „window of opportunity“ öffnen können, wenn man den Weg der Wiedervereinigung über eine Konstituante gegangen wäre, die mit einfacher Mehrheit den deutschen Bundesstaat – und vor allem den Finanzausgleich – hätte neu ordnen können. Daß man den Beitritt der DDR nach dem damaligen Art. 23 GG vorzog, hatte viele verständliche Gründe, aber war doch zugleich eine Entscheidung für den verfassungspolitischen Immobilismus, der heute so beklagt wird.

Entwicklungsgeschichte des Bundesstaates

Wie ist dieser historische Befund einer Reformresistenz zu erklären, die nur in fundamentalen Systemkrisen partiell durchbrochen werden konnte? Es lohnt sich, einen Blick auf die Entwicklungsgeschichte der zentralen institutionellen Elemente des deutschen Bundesstaates zu werfen.2 Denn hier hat sich über eineinhalb Jahrhunderte stufenweise immer stärker jenes Modell des verfl ochtenen „unitarischen Bundesstaates“ durchgesetzt, das in so deutlichem Kontrast zum amerikanischen Föderalismusmodell der getrennten Jurisdiktionen steht.

Wesentliche Antriebskraft dieses Prozesses war das Verlangen des deutschen Bürgertums nach nationaler Rechts und Wirtschaftseinheit, damit Deutschland in der Welt der großen europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts seinen legitimen Platz fi nde. Das institutionelle Dilemma der bürgerlichen Nationalbewegung bestand aber darin, daß sich hier – anders als in den jungen föderativen Demokratien der USA und auch der Schweiz – auf der subnationalen Ebene seit den Reformen der napoleonischen Ära schon moderne, starke und gut verwaltete Staatswesen ausgebildet hatten vor allem in den größeren deutschen Staaten (nicht nur Preußen, sondern auch in Bayern, Württemberg und Baden). Diese einzelstaatlichen Bürokratien ließen sich nicht einfach hinwegschieben, sondern mußten in einen Bundesstaat eingebunden werden. Die Basisformel dafür, den „Exekutivföderalismus“, fand schon die Paulskirchenverfassung von 1849, indem sie einen starken Reichsgesetzgeber und den Vorrang der Reichsgesetze vorsah, aber die Ausführung der Reichsgesetzgebung weitgehend den Ländern überlassen wollte.

Erbe der Bismarckzeit

Bismarck übernahm bei der Gründung des Norddeutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches diese Konstruktion, und sie ist dann bis zum Grundgesetz mit seinem Artikel 83 (dem „Grundsatz der Länderexekutive“) das institutiinstitutionelle Kernelement des deutschen Bundesstaates geblieben und bei keiner der späteren Reorganisationen in Frage gestellt worden. Die Nationalliberalen haben zugleich in einem durchaus einvernehmlichen Zusammenspiel mit dem Kanzler die starke Stellung des Reichsgesetzgebers gegenüber den Ländern ausgenutzt, um mit dem Instrument der (von der Staatsrechtslehre bald so genannten) konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 4 der Reichsverfassung) die Länderautonomie durch einen massiven Zentralisierungsschub zurückzudrängen. (Die berühmten Kodifi kationen, wie das Strafgesetzbuch, die Prozeßordnungen, das Gerichtsverfassungsgesetz und schließlich das BGB gehören zu den großen und dauerhaften Leistungen dieser Unitarisierungswelle, wie es sie weder in den USA noch in der Schweiz gegeben hat.) Seither sind die Postulate der Rechts und Wirtschaftseinheit grundlegende Antriebskraft der Unitarisierung geblieben und haben vor allem im 20. Jahrhundert ihre expansive Dynamik weiter entfaltet.

Wenn die Länder sich damit fast widerstandslos abfanden, dann deshalb, weil Bismarck geglückt war, was die Paulskirche nicht überzeugend zu bewältigen vermochte, nämlich die institutionelle Einbindung der Einzelstaaten in den Willensbildung des Gesamtstaates. Von Haus aus vor allem Außenpolitiker mit langen Erfahrungen als Diplomat, konstruierte er den Bundesstaat als ein Verhandlungssystem, in dem die Regierungen der Einzelstaaten nach dem Modell des Gesandtenkongresses und des diplomatischen Verhandlungsstiles in die Willensbildung einbezogen wurden. Kernstück war der Bundesrat, dessen Prozeduren und „sachlicher“ Verhandlungsstil sich bis zur Gegenwart gehalten haben.

Gewiß wurde diese Institution damals von Preußen dank seiner überlegenen Hegemonialstellung dominiert, aber schon Bismarck hat immer den größten Wert darauf gelegt, zumindest die mittleren Einzelstaaten nicht zu überfahren. Informelle Vorabstimmungen vor allem zwischen Preußen und Bayern (als dem „Mithegemon“, wie man damals gelegentlich sagte) waren die Regel, und größere Veränderungen des Finanzausgleichs und der Steuergesetzgebung wurden schon seit Bismarcks Zeiten in der Regel in der Konferenz der Länderfi nanzminister vorweg abgesprochen. Daß die Landtage durch solche Absprachen der Exekutiven oft genug präjudiziert wurden, nahm man hin. All dies ist ein Erbe der Bismarckzeit, die bis heute stilbildend gewirkt hat für die Beziehungen zwischen dem Reich und den Gliedstaaten.

In der Krise nach dem verlorenen ersten Weltkrieg wurde dieses System dann komplettiert durch eine Finanzverfassung, deren Kernelemente ein weitgehender Steuerverbund und eine einheitlich organisierte Finanzverwaltung waren. Es war Bismarck nicht geglückt, eine dauerhafte bundesstaatliche Finanzordnung zu schaffen, vielmehr blieb es damals bei einem verfassungspolitischen Provisorium, aus dem sich ein ungemein kompliziertes Mischsystem mit einem irrationalen fi nanzpolitischen Verschiebebahnhof zwischen Reich und Einzelstaaten entwickelte. Der chronischen Unterfi nanzierung des Reiches begegnete man mit der Flucht in zunehmende Staatsverschuldung, und in der Krise des ersten Weltkrieges wurde der fi nanzpolitische Bankrott dieses Systems offenkundig. Vor diesem Hintergrund setzte der württembergische Zentrumspolitiker Matthias Erzberger in der tiefen Krise des verlorenen Krieges die radikale Reichsfinanzreform von 1919 durch, die dem fi nanzpolitischen Spielraum der Länder deutliche Fesseln anlegte.

Wiederherstellung des Exekutivföderalismus

Im Parlamentarischen Rat neigte 1949 eine deutliche Mehrheit dazu, dieses System – von dessen Überlegenheit sie überzeugt war – in den Grundzügen wiederherzustellen.3 Das verhinderten die westlichen Besatzungsmächte, doch ihnen war längerfristig nur ein begrenzter Erfolg beschieden, weil sie den Exekutivföderalismus nicht in Frage stellten, dessen institutionelle Dynamik sie offenbar nicht durchschauten. Das von ihnen durchgesetzte steuerpolitische Trennsystem, dem die Väter des Grundgesetzes widerwillig zugestimmt hatten, wurde in der Folgezeit schrittweise abgebaut, bis 1969 der Steuerverbund, jenes Kernstück der Erzbergerschen Finanzreform von 1919, nicht nur wiederhergestellt, sondern sogar erweitert war.

Dauerhaft vermochten die Alliierten nur – beginnend mit der Auflösung Preußens 1946 – eine stärkere Dezentralisierung durchzusetzen. Aber da das Verhandlungssystem Bismarckscher Provenienz 1949 ebenso wie zuvor schon 1919 wiederhergestellt wurde und es zudem bei der Dominanz der unitarischen Orientierung blieb, war das Ergebnis jene „gegenseitige Kontrolle mächtig gewordener Bürokratien“, die Bundespräsident Herzog noch 1996 in seiner „Föderalismusrede“ als „eine der gelungensten Hervorbringungen des Parlamentarischen Rates“ pries.4

Man konstatiert somit eine erstaunliche institutionelle Kontinuität in der Entwicklung des deutschen Bundesstaates, seit die Paulskirchenverfassung 1849 mit dem Prinzip des Exekutivföderalismus und dem Vorrang der Reichsgesetzgebung den Grundstein legte. Die folgende, hier kurz skizzierte Entwicklung führte zu immer engeren und komplexeren institutionellen Verfl echtungen, und das erzeugte zunehmende „Netzwerkeffekte“: Veränderungen waren nun in zunehmendem Maße für ein komplexes Netz von Beteiligten mit unterschiedlichen, aber jeweils beträchtlichen Umstellungskosten verbunden. Wir kennen solche Effekte vor allem aus der neueren Entwicklung bestimmter Technologien, und in der wirtschaftshistorischen Forschung hat man dafür den Begriff der „Pfadabhängigkeit“ eingeführt.5

Pfadabhängige Reform resistenz

Ein jüngstes Beispiel für pfadabhängige Reformresistenz bei Technologien ist das Scheitern des Projektes, die EDV des Bundestages insgesamt auf das nach verbreiteter Auffassung überlegene Betriebssystem „Linux“ umzustellen. Das war offenbar vor allem dadurch bedingt, daß die Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten sich sträubten, die ihnen vertraute Plattform „Windows“ aufzugeben, auf der natürlich auch ein großer Teil der von ihnen verwendeten Programme aufsaß. Nicht an bösem Willen oder mangelnder Einsicht scheiterte die Umstellung, sondern zum einen an dem Umstand, daß eine Vielzahl von Einzelnutzer gelernt hatten, mit Windows umzugehen, und die Umstellungskosten scheuten, zum andern aber auch an den Koordinierungseffekten, die sich ergeben können, wenn eine unter anderem der Kommunikation dienende Technologie auch von zahlreichen anderen Akteuren genutzt wird. Die daraus resultierende Pfadabhängigkeit engt den Rahmen möglicher Veränderungen auf einen schmalen Korridor ein und kann unter Umständen auch ineffi ziente Lösungen am Leben erhalten.6

In Analogie dazu kann man nun den Exekutivföderalismus als das Betriebssystem des deutschen Bundesstaates bezeichnen, und die Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat, den Steuerverbund und die „Selbstkoordinierung“ der Länder als Programme, die für dieses Betriebssystem geschrieben sind und in deren Beherrschung eine Vielzahl von Beteiligten eine Menge investiert haben.

Die versunkenen Kosten eines solchen netzwerkartigen Systems sind so enorm, seine Koordinierungseffekte so bedeutend, daß der Übergang zu einem alternativen Betriebssystem keine realistische Alternative sein kann. Das Trennsystem eines idealtypischen dualen Föderalismus mag überlegen sein – gleichsam das Linux unter den bundesstaatlichen Betriebssystemen, mit einem transparenten Quellcode , und man kann den Enthusiasmus der vielen Programmierer verstehen, die an seiner Perfektionierung arbeiten. Aber die harten Fakten der Pfadabhängigkeit, die das Grundmuster der Machtverteilung zwischen territorialen Einheiten in einem Gemeinwesen langfristig prägen, werden es weiterhin dazu verurteilen, daß es eine Angelegenheit des akademischen Elfenbeinturms bleibt.

Strategie der kleinen Schritte

Das heißt nicht, daß man sich resignierend in den bundesstaatlichen Immobilismus fügen müßte. Der Unitarismus, die mehr als hundertjährige kulturelle Basisorientierung der deutschen politischen und gesellschaftlichen Eliten, muß an Überzeugungskraft verlieren, je stärker sich das überkommene Programm einer nationalen Rechts und Wirtschaftseinheit im Zeichen von Globalisierung und Europäisierung als anachronistisch erweist.

Zwar wird man die verfl ochtenen Kernelemente unseres bundesstaatlichen Systems, etwa die Finanzverfassung, nur an den Rändern und in geduldiger Kleinarbeit, verbessern können. Doch wenn beispielsweise die Sätze der KfzHaftpfl ichtversicherung schon längst regional variieren, dann ist nicht einzusehen, warum die einzelnen Länder nicht die Freiheit haben sollen, auch die ihnen zustehende KfzSteuer nach eigenem Ermessen autonom festzusetzen. Daß die Bürger eine Abwanderungsoption haben, wird ein weites Auseinanderlaufen der Regelungen schon automatisch verhindern.

Eine begrenzte steuerpolitische Autonomie der Länder mag also kein ganz unrealistisches Ziel sein, wo keine gravierende Netzwerkeffekte zu erwarten sind. Vergleichbares gilt für die Auswüchse einer unitarisierenden konkurrierenden Gesetzgebung. Warum nicht die Zuständigkeit für die Ladenschlußregelung den Ländern oder– noch besser – den Gemeinden übertragen (wenn man schon das Gesetz nicht gleich ersatzlos abschaffen möchte)? Gewiß, man weiß, daß die geltende Regelung von einfl ußreichen Interessen verteidigt wird. Aber solche Koalitionen lassen sich – anders als institutionelle vernetzte Strukturen – durch eine entschlossene und kluge politische Führung durchaus neutralisieren. Der Wahlkalkül ist eine viel schwächere Reformschranke als die Pfadabhängigkeit von Institutionen.

Schrittweise Dezentralisierung als lohnendes Ziel

Eine Politik bundesstaatlicher Reformen wird sich also notwendig auf eine Strategie der kleinen Schritte einrichten und das bundesstaatliche Verflechtungssystem in seinen Grundzügen weiterhin hinnehmen müssen. Aber das rechtfertigt keine übertriebene Ängstlichkeit. Die Rückkopplungs effekte, die eine Dezentralisierung von Regelungskompetenzen haben könnte, dürften deutlich geringer sein als die einer Reform der Verteilung von Aufgaben und Finanzierungszuständigkeiten auf Bund und Länder.

Zu den nächsten Schritten sollte deshalb eine Reform des Art. 72 GG über die konkurrierende Gesetzgebung gehören, die mutiger ist als das, was 1994 erreicht wurde (und auch die CDUBundestagsfraktion, die damals den Bremser machte, mag da ja in Zukunft besserer Einsicht zugänglich werden). Insbesondere sollte es eine effektive „Rückholklausel“ geben, die einzelnen Ländern die Möglichkeit einräumt, vom Bund besetzte Materien der konkurrierenden Gesetzgebung nach eigenem Ermessen zu regeln, solange nicht der Bundesgesetzgeber ein explizites Veto einlegt. Die Entfl echtung des Bundesstaates ist eine politische Chimäre, aber schrittweise Dezentralisierung ein lohnendes Ziel.

    • 1 Vgl. F. Scharpf u.a.: Politikverflechtung: Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/ Taunus 1976.
    • 2 Für eine ausführlichere Analyse vgl. G. Lehmbruch: Der unitarische Bundesstaat in Deutschland: Pfadabhängigkeit und Wandel, in: A. Benz, G. Lehmbruch (Hrsg.): Föderalismus. Analysen in entwicklungsgeschichtlicher und vergleichender Perspektive, Wiesbaden 2002 (im Druck).
    • 3 Vgl. zum folgenden: W. Renzsch: Finanzverfassung und Finanzausgleich: die Auseinandersetzungen um ihre politische Gestaltung in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Währungsreform und deutscher Vereinigung, Bonn 1991.
    • 4 Rede zum 50. Jahrestag der Konstituierung des Landtages von Nordrhein-Westfalen. <http://195.145.53.84/reden/de/nrw.htm>
    • 5 Vgl. W.B. Arthur: Competing technologies, increasing returns and lock-in by historical events, in: The Economic Journal, 99 (1989), S. 116 - 131; P. Pierson: Increasing returns, path dependence and the study of politics, in: American Political Science Review, 94 (2000), S. 251 – 267.
    • 6 Vgl. D. North: Institutions, institutional change and economic performance, Cambridge 1990, S. 99 - 100.

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