Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich seit 2008 entfaltet. Seitdem gibt es verschiedene Versuche, ihre Folgen durch Rettungsschirme, Konjunkturprogramme und gesetzliche Regelungen in den Griff zu bekommen. Immer dringender stellt sich auch angesichts des jüngst vorgestellten Sparprogramms der Bundesregierung die Frage, wer tatsächlich von diesen Maßnahmen profitiert, wer sie bezahlen muss und ob die Verursacher der Krise angemessen an den Kosten der Schadensregulierung beteiligt werden.
Aktionismus schädigt Gemeinwohl
Bei der Frage, ob der Staat Krisengewinner oder Krisenverlierer sei, handelt es sich tatsächlich um drei Fragen. Die Antwort hängt davon ab, ob man mit Staat den selbstlosen Agenten des Gemeinwohls meint, den seinem Eigeninteresse frönenden Leviathan oder die politische Klasse. Diese Dreiteilung unterliegt dem folgenden Beitrag als Gliederungsprinzip.
Der Agent
Für den Agenten des Gemeinwohls – sofern er sich an etablierten Einsichten der Nationalökonomie und Staatslehre orientiert – sind die vergangenen Jahre ein wahres Desaster. Obwohl realwirtschaftlich, wie aufgrund der expansiven Geldpolitik zu erwarten, nichts Schlimmes passiert war (so blieb die Arbeitslosigkeit mit rund 3,5 Mio. deutlich hinter den 5 Mio. des Jahres 2005 zurück), sind etliche Leitideen und Eckpfeiler unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beiseite geschoben worden, als seien sie nichts wert:
- Entgegen der durch jahrzehntelange theoretische und empirische Forschung gestützten herrschenden Meinung, Konjunkturprogramme seien eher schädlich als nützlich, haben Deutschland und andere Staaten das größte „deficit spending“ aller Zeiten betrieben, ohne dass es irgendwelche neuen Erkenntnisse gegeben hätte, die dies rechtfertigten.
- Entgegen dem für die Marktwirtschaft konstitutiven Prinzip der Haftung (Eucken) wurden Banken und marode Unternehmen vom Steuerzahler gestützt, sobald sie in Schwierigkeiten gerieten. Rückforderungen, die einen vielleicht zweijährigen Verzicht auf Dividenden und Boni bedeuten würden, werden nicht einmal theoretisch diskutiert.
- Entgegen eindeutigen rechtlichen Vorgaben wurden die Unabhängigkeit der EZB (Art. 130 AEUV), das Verbot wechselseitigen Schuldenbeistands (Art. 125 AEUV) sowie die Reste des Stabilitäts- und Wachstumspakts (Art. 126 AEUV) annihiliert; der französische Staatspräsident Sarkozy tat das mit dem Hinweis ab, Märkte interessierten sich nicht für Rechtsgrundlagen. Inzwischen kauft die EZB unter Verstoß gegen Art. 123 AEUV sogar Schuldtitel notleidender Mitgliedstaaten auf.
Richtig wäre es gewesen, auf Konjunkturprogramme zu verzichten, Hypo Real Estate, Commerzbank & Co. in Insolvenz gehen zu lassen und für Griechenland eine Umschuldung zu arrangieren. Hätte man das getan, wären die öffentlichen Finanzen jetzt in besserer Verfassung, wäre die Rechtsordnung intakt und wäre die Bankenlandschaft um einige untaugliche Institutionen bereinigt.1 Außerdem wären Gläubiger, Manager und Anleger vermeintlich um einige Milliarden Euro ärmer – ein Scheinvermögen, das derzeit noch im System steckt und irgendwann aufgedeckt wird. Dieses Plädoyer für eine zurückhaltendere Politik, die den Aufschwung durch eine vorübergehende geldpolitische Expansion unterstützt und sich weiterer Eingriffe enthält, beruht freilich auf einer langfristigen Sicht, wie sie der traditionellen Volkswirtschaftslehre unterlag, verbunden mit einer Abwägung zwischen schnellen Erfolgen und dauerhaften Kosten alternativer Politikmaßnahmen. Solche Abwägungen wurden in der Hektik der vergangenen Jahre hintangestellt, und das ist der Punkt, der den Agenten des Gemeinwohls am stärksten bekümmert. Es liegt nämlich auf der Hand, dass die Kosten der Interventionen deren angeblichen Nutzen bei weitem übersteigen und Deutschland wie auch die Welt aus der Rezession nicht gestärkt hervorgehen, sondern angeschlagen.
- Konjunkturprogramme: Sinkende Auslandsbestellungen deutscher Werkzeugmaschinen oder abgeblasene Werbe- und Eventkampagnen lassen sich nicht durch überhastete Bauprojekte wie Feldwegasphaltierungen oder Schulsanierungen kompensieren, weil ganz andere Unternehmen betroffen sind. Zudem waren die Konjunkturprogramme zeitlich so gestaltet, als wolle man ein Kapitel für das Lehrbuch des Anti-Interventionismus beisteuern: Die Rezession begann in Deutschland im April 2008 und endete im März 2009, während die Programme schwerpunktmäßig im Jahre 2010 anlaufen und vor 2012 beendet sein sollen. Das Gros der Ausgaben fällt demnach in die Zeit des Aufschwungs. International betrachtet hat erst der Wettlauf der Konjunkturprogramme manche Staaten an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht.
- Bankenrettung: Die Errichtung des mit 500 Mrd. Euro dotierten Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung (Soffin) wurde von der Ankündigung begleitet, man werde binnen 100 Tagen eine neue Weltfinanzarchitektur schaffen. Bei diesem frommen Wunsch ist es dann auch geblieben. Als Zweckgesellschaft (SPV) belastet der Soffin den Bundeshaushalt zwar nicht sofort, doch wurden bereits erste Verluste gemeldet, die auf Dauer der Steuerzahler begleichen muss. Die Bankenrettung hat Fehlanreize geschaffen, denen keine wie immer geartete Regulierung wirksam begegnen kann; daher wird der Soffin auf Dauer ein Groschengrab bleiben. In manchen Fällen, insbesondere bei Arcandor und Opel, hat die Politik allerdings richtig reagiert, was bisher nicht genügend anerkannt wurde.
- Staatenrettung: Die Bankenrettung ließ erwarten, dass die Finanzwelt ihre Politik der Risikonahme mit anschließender Erpressung der Regierungen fortsetzen würde. Dass die Fortsetzung aber so schnell folgte, war nicht zu erwarten. Mit der European Financial Stability Facility (EFSF) haben die Euroländer nun ein weiteres Zweckvermögen errichtet und fürs Erste mit 440 Mrd. Euro ausgestattet. Weitere Unterstützungsleistungen wurden von der EU-Kommission (60 Mrd. Euro) und dem IWF (250 Mrd. Euro) zugesagt. Deutschland ist an allen drei Teilen der Gesamtzusage von 750 Mrd. Euro quotal beteiligt. Am ersten Börsentag nach dem Beschluss zur Errichtung der European Financial Stability Facility legten Credit Agricole, AXA und Societe General übrigens rund 20% zu, die Deutsche Bank immerhin 10%. Die Märkte trauen der Sache allerdings nicht ganz, wie die weiterhin hohen Renditen griechischer und anderer Staatspapiere zeigen. Ein Erfolg der Konsolidierungsbemühungen steht nämlich in Frage (so soll die griechische Schuldenstandsquote selbst nach dem Sparprogramm bis 2013 auf 150% steigen2), und der European Financial Stability Facility ist im Verhältnis zum Umschuldungsbedarf der Mittelmeeranrainer knapp dotiert.
Den Agenten des Gemeinwohls, der eigentlich andere Pläne hatte – Steuersenkungen oder Verbesserungen der Bildungspolitik – bekümmern die vorstehend beschriebenen Maßnahmen sehr, weil sie den Spielraum der öffentlichen Hand auf Jahre, vielleicht Jahrzehnte, in unumkehrbarer Weise beschneiden: Die Mittel der Konjunkturprogramme sind ausgegeben oder verplant, und aus den mit Soffin und European Financial Stability Facility freiwillig begründeten Rechtspflichten kommt Deutschland nicht heraus. Insofern wurden die anderweitig vorgesehenen Mittel durch den größten Bankraub aller Zeiten einfach abgezogen. Die Anreize sind auf eine Fortsetzung dieses Spiels gestellt.
Ein weiteres Unbehagen des Agenten entstammt der unzureichenden Begründung dieser tiefen Eingriffe in das Rechtssystem. So äußerte der Bundesminister der Finanzen am 21. Mai 2010 im Deutschen Bundestag, die vertragswidrige Stützung Griechenlands habe unter anderem deshalb im nationalen Interesse gelegen, weil zwei Drittel der deutschen Exporte in den Euroraum gingen. Über den Umstand, dass der Außenhandel mit Nicht-Euroländern kaum weniger floriert und Deutschland schon lange vor Einführung der Gemeinschaftswährung Exportweltmeister war, verlor der Minister kein Wort, beruhigte aber, die Stützungsmaßnahme sei unabhängig vom Haushalt.
Schließlich wird sich der benevolente Agent auch fragen, ob nicht staatliches Handeln selbst die Rezession verstärkt hat: Zwanzig Staatenlenker, die von Gordon Brown in schaurig-schöner Atmosphäre mit Handschlag begrüßt wurden, eine Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister, die den Bürgern dräuend eröffneten, sie hätten in „Abgründe“ geblickt, und sogenannte Experten, die sich in immer stärkere Superlative einer nie dagewesenen Krise steigerten – all dies hat unbefangene Unternehmer und Manager eminent verunsichert. Nur diese Verunsicherung erklärt das spontane Herunterfahren von Investitions-, Marketing- und Produktionsplänen, das hernach – als selbsterfüllende Prophezeiung – zu einem Koordinationsproblem und zur Rezession führte. Zudem wurden die für Unternehmen geltenden Kreditzinsen aufgrund der enormen staatlichen Kreditnachfrage künstlich hochgehalten; es kam zum bekannten Crowding out.
Warum hat die Politik so überreagiert? Meines Erachtens ist dies insbesondere durch die persönliche Nähe von Politik und Bankenwelt zu erklären; Arbeitslose haben eben keine Möglichkeit, ihre Geburtstage im Kanzleramt zu feiern. Aufgrund der sehr engen Beziehungen griff die Nervosität der Finanzwelt, die berechtigt war, auf die Politik über, obwohl sie dort unberechtigt war. Die besagte Nähe von Politik und Hochfinanz3 wird sehr schön durch den US-Präsidenten veranschaulicht, der seine Konkurrentin Hillary Clinton bekanntlich mittels eines überlegenen Wahlkampfbudgets ausstach. Obamas wichtigste Fundraiser waren Louis B. Susman (Citigroup) und Philip Murphy (Goldman Sachs). Beide sind inzwischen für ihr Engagement belohnt worden, nämlich durch die US-Botschafterposten in London (Susman) und Berlin (Murphy).
Der Leviathan
Der Leviathan, jenes Fabelwesen mit skalarer Zielfunktion, das Ressourcen vom Privatsektor zum Staat umverteilen will, ist mit der aktuellen Lage zufrieden. Seine wichtigsten Widersacher – die Herrschaft des Marktes und die Herrschaft des Rechts – liegen am Boden, und ein weiterer lästiger Gegner, das Parlament, wurde gleich viermal zur Staffage degradiert, als die Volksvertretung den „Rettungsgesetzen“ (Hypo Real Estate, Soffin, Griechenland und European Financial Stability Facility) jeweils binnen kürzester Frist zuzustimmen hatte. Dabei war der Bundespräsident gehalten, diese Gesetze ohne Wahrnehmung seines Prüfrechts sofort auszufertigen, was für ihn bitter gewesen sein muss, hatte er doch den Maastrichter Vertrag maßgeblich ausgehandelt und im Jahre 1992 öffentlich geäußert: „Es wird nicht so sein, dass der Süden bei den sogenannten reichen Ländern abkassiert. Dann nämlich würde Europa auseinanderfallen. Es gibt eine no bail out rule.“4
Dass die European Financial Stability Facility auf den 30. Juni 2013 befristet ist, sorgt den Leviathan nicht, denn derartige Befristungen werden nach seiner Lebenserfahrung irgendwann aufgehoben, so zuletzt auch beim Soffin. Die von den Regierungen eingegangenen immensen Verpflichtungen ließen sich nur durch weitere Rechtsbrüche revozieren, daher sind für die kommenden Jahre alle Zeichen auf Intervention gestellt, selbst wenn es nicht zu einer formalen europäischen Wirtschaftsregierung kommen sollte.
Besonders freut den Leviathan das sogenannte „Sparpaket“ der Bundesregierung, das neben Umschichtungen und Luftbuchungen (Bahndividende 2 Mrd. Euro, globale Minderausgabe 5,6 Mrd. Euro, Effizienzreserve Arbeitsmarkt 4,5 Mrd. Euro) insbesondere Steuererhöhungen (7,5 Mrd. Euro) und gleich drei neue Steuern (19,2 Mrd. Euro) enthält, nämlich eine Finanzmarktsteuer, eine Flugverkehrsteuer und eine Brennelementesteuer. Weil sich die aktuelle Diskussion darauf konzentriert, zum Ausgleich dieser herben sozialen Einschnitte Erhöhungen insbesondere der Einkommensteuer vorzunehmen, ist auch einnahmenseitig alles zum besten bestellt.
Schließlich scheint auch die letzte Gefahr gebannt, nämlich die Schuldenbremse nach Art. 109 und 115 GG in der seit 2009 geltenden Fassung. Das Bundesfinanzministerium lässt dieses ärgerliche Hindernis durch ein der mittelfristigen Finanzplanung entnommenes Treppchen ins Abseits laufen. Lesern, die mit dieser finanzpolitischen Routine nicht vertraut sind, sei die Rezeptur kurz verdeutlicht: Man nehme volkswirtschaftliche „Prognosen“, weise die darauf beruhenden Steuermehreinnahmen als unrealisierte Gewinne aus und blende denkbare Negativereignisse (Ölembargo, Wiedervereinigung, 9/11, Bankenrettung, Eurorettung, demnächst wohl: US-Rettung) aus. Auf diese Weise entsteht ein Treppchen mit sinkender Nettoneuverschuldung, an dessen Ende – im fünften Jahr – alles in Butter scheint. Das Eichel-Treppchen verhieß den Haushaltsausgleich 2006, das Steinbrück-Treppchen nannte 2011, und das Schäuble-Treppchen peilt jetzt die Einhaltung der Schuldenbremse für 2016 an. Erwartet hätte man von der neuen Bundesregierung ein glaubwürdiges Vorgehen, nämlich die Einhaltung eines Sicherheitsabstands zur verfassungsrechtlich gerade noch zulässigen Neuverschuldung, aber dazu fehlte wohl schon die Kraft.
Der Politiker
Dies leitet zum letzten Aspekt über, nämlich der Frage, ob die Politiker eher als Gewinner oder Verlierer der Ereignisse der letzten Jahre anzusehen sind. Aus Sicht der politischen Klasse ist die Lage zwiespältiger als für den Agenten des Gemeinwohls bzw. den Leviathan, die verzweifelt bzw. glücklich sind. Denn einerseits konnte sich die Politik so manchen Wunsch erfüllen, der ihr in normalen Zeiten versagt geblieben wäre. Dies wird deutlich, wenn man die Konjunkturpakete aufschnürt und darin Kleinode wie die „Infrastruktur-Krisenfazilität“ von 100 Mio. Euro findet; dabei handelt es sich um Zahlungen an die Weltbank, die bei künftigen Naturkatastrophen in Entwicklungsländern verausgabt werden dürfen (aber selbstverständlich sofort konjunkturbelebend wirken). Das Schnüren der Konjunkturpakete folgte eben der politischen Logik, wonach jedes Ressort bedient sein will, unabhängig von seiner Konjunkturrelevanz.
Andererseits aber hat die Politik mit zwei enormen Problemen zu kämpfen. Erstens erzwingt die überperiodische Budgetbeschränkung des Staates dort Einsparungen, wo in den letzten Jahren unter dem Deckmantel der Konjunkturbelebung geprasst wurde. Zweitens nehmen die Bürger die Notwendigkeit der Rettungsprogramme nicht für bare Münze, sondern die Tatsache übel, dass sie selbst dafür aufkommen sollen. Und die meisten spüren, dass das sogenannte „Sparpaket“ erst der Anfang eines langen Leidenswegs ist, auf dem Wohlhabende durch Steuererhöhungen und weniger Wohlhabende durch Leistungskürzungen geschröpft werden. Die versperrte Möglichkeit, Wähler durch gelegentliche Steuersenkungen oder Ausgabenerhöhungen für sich einzunehmen, ist meines Erachtens der tiefere Grund für die sonst kaum erklärlichen Zerfallserscheinungen der neuen Bundesregierung. Und sie ist ebenso Hauptursache der um sich greifenden Flucht- und Absetzbewegungen wichtiger Entscheidungsträger der Koalition. Politik ist derzeit nur als Opposition zu ertragen (die es übrigens nicht besser gemacht, sondern auch noch General Motors, Sal. Oppenheim und Schickedanz die Taschen mit Steuergeld gefüllt hätte).
Auch auf internationaler Ebene gibt die Politik ein jämmerliches Bild ab, über das die pompösen Gipfel nicht hinwegzutäuschen vermögen. So haben im Juni 2010 mehrere Mitglieder des Europäischen Parlaments einen, man kann es nicht anders nennen, Hilferuf abgesetzt, in dem sie öffentlich zur Gründung einer Nichtregierungsorganisation aufrufen, die – ähnlich wie Greenpeace in der Umweltpolitik – als Gegenmacht zur Finanzbranche fungieren soll.5 Und in Deuschland erhält der faktisch erste Mann im Staat, der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank, Gelegenheit, seine Ansichten als Einzelgast von Maybritt Illner zu verbreiten und die Zuschauer mit folgenden Paralogismen zu umnebeln: Griechenland sei ökonomisch unbedeutend – eine Umschuldung seiner Anleihen werde aber zur „Kernschmelze“ führen; die Rückzahlung griechischer Anleihen sei fraglich – für den deutschen Steuerzahler werde aber hoffentlich keine Belastung entstehen; ein schwacher Euro müsse unbedingt verhindert werden – sei aber für die Exportwirtschaft höchst nützlich. Repräsentanten des deutschen Staates hatten offenbar nichts mitzuteilen, oder sie wurden jedenfalls nicht eingeladen.
Diese Entwicklungen sind misslich, lassen sie doch befürchten, dass künftig noch weniger befähigte Menschen in die Politik streben. Das Wahlverhalten von Studierenden mag ein Frühindikator sein: Sie sehen zunehmend „Finance“ als Welt der intelligenten Macher und „Public Finance“ als Welt der Volltrottel, die sich – egal ob Politiker, Beamter oder Berater – wieder und wieder zu Lasten des Gemeinwesens erpressen lassen und am Ende noch eine Finanzmarktsteuer einführen, deren Inzidenz so sicher beim Sparer liegt wie die Inzidenz der Mehrwertsteuer beim Verbraucher; „high frequency trader“ werden ihr Tätigkeitsfeld einfach verlagern, der Riesterrentner kann das nicht.
Schlussbemerkung
Vor über einem Jahr bin ich in dieser Zeitschrift der Ansicht entgegengetreten, wir seien Zeugen einer Wiederholung der Weltwirtschaftskrise, und habe dies eingehend begründet.6 Weil die Fehler der 1930er Jahre gottlob vermieden wurden, dazu zählten vor allem der protektionistische Wettlauf und eine bis zum Exzess getriebene restriktive Geldpolitik, in deren Verlauf die Reichsbank den Diskontsatz noch am 1. August 1931 auf 15% anhob, bestand keinerlei Parallele zur Großen Depression. Vielmehr war eine rasche Erholung der Weltwirtschaft absehbar und das Krisengerede übertrieben.
Nachdem nun aber wiederholt essentielle Grundsätze des Rechts und der Marktwirtschaft über Bord gegangen sind, ist ein pessimistischerer Ausblick angebracht und man muss sich darauf einstellen, sowohl als Staatsbürger als auch als Anleger, das Undenkbare zu denken. Die Ursachen dieser Entwicklung sind nicht leicht zu ergründen. Neben dem immensen politischen Einfluss der Finanzwelt dürften der kurzfristige Horizont der Politik, die es entgegen einem verbreiteten Vorurteil selten schafft, bis zur nächsten Wahl zu denken, sowie ein ausgreifender Kulturpessimismus bzw. Alarmismus die Hauptursachen sein. Dabei ist der letzte Punkt vielleicht der wichtigste, man denke nur an Alarme wie den Millenium Bug 2000 (angeblich weltweiter Netzausfall), die Vogelgrippe 2005 (Uno: bis zu 150 Mio. Tote), die Schweinegrippe 2009 (WHO: Bedrohung der gesamten Menschheit), außerdem natürlich Sars, die Klimakatastrophe oder eben die Griechenlandpleite.
All diesen Trommelwirbeln unterliegt ein Sieg des Possibilismus über den Probabilismus: Die schiere Möglichkeit, es könnte Schlimmes passieren, versperrt jede rationale Abwägung und erlaubt cleveren Interessenten, ihr eigenes Süppchen zu kochen. Dieser Kulturpessimismus hat inzwischen selbst Teile der Politikberatung erfasst. So rechtfertigte der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen den Ankauf griechischer Schuldtitel durch die EZB mit folgenden Worten: „Die Situation spitzte sich immer weiter zu. Niemand weiß, was die Konsequenz gewesen wäre, wenn die EZB ihre Zusage nicht gemacht hätte. Sie musste zu allen verfügbaren Instrumenten greifen. Zudem reichte die Zeit nicht mehr aus, um eine andere, ausgereiftere Lösung zu finden. Es musste schnell gehen, sonst wären womöglich alle Stricke gerissen.“7
Eine derartige Haltung markiert nicht nur den Abschied von rationalem Ordnungsdenken, sondern bedeutet die Hinwendung zu einem Maximal-Interventionismus, bei dem rein hypothetische Gefahren jedes, aber auch wirklich jedes Mittel heiligen. Umspielt von dieser Begleitmusik hetzen die Mächtigen der Welt von Gipfel zu Gipfel und erwecken den Eindruck eines permenten Ausnahmezustands8 und dies, obwohl wir historisch betrachtet in einer ziemlich komfortablen Zeit leben, während früher Krieg auf Krieg folgte und viele Kriege mit Staatskonkursen endeten. Neu und beunruhigend ist nur, dass erstmals Staatskonkurse in Friedenszeiten um sich greifen.
- 1 W. Bagehot: Lombard Street, New York 1920, S. 100 f.: „Any aid to a present bad Bank is the surest mode of preventing the establishment of a future good Bank.“
- 2 International Monetary Fund: Staff Report on Request for Stand-By Arrangement, Report Nr. 10/110, Mai 2010.
- 3 Vgl. hierzu auch S. Johnson: The Quiet Group, in: The Atlantic Online, Mai 2009. Laut Johnson, dem früheren IWF-Chefvolkswirt, hat die Finanzindustrie praktisch die US-Regierung übernommen.
- 4 Anders Lord Dahrendorfs hellsichtiges Diktum aus dem Jahr 1995: „Der Euro wird Europa nicht einigen, sondern spalten.“ Ähnlich S. Homburg: Why Democracy is Essential to Monetary Stability – and why EMU will have neither, in: The European Journal, 4, Nr. 9, S. 13.
- 5 Siehe den Aufruftext unter www.finance-watch.org sowie Financial Times Deutschland vom 21. Juni 2010, „EU sorgt sich um Demokratie“.
- 6 S. Homburg: Finanzkrise – Nicht verstaatlichen, sondern entflechten, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 4, S. 223-228.
- 7 C. Fuest: Interview auf FOCUS-Online vom 11. Mai 2010, S. 1.
- 8 Siehe hierzu den klugen Aufsatz von M. Wohlgemuth: Die politische Ökonomie des Ausnahmezustands, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 4, S. 219-223.
Vielfältiges Bankensystem besteht die Krise
Sind die Banken die großen Verlierer der Krise? Eine breite Öffentlichkeit sieht das so. Es ist die Krise der Banken. Sie haben hohe Verluste erlitten, und auch ihre Reputation hat schweren Schaden genommen. Banken sind die Sündenböcke schlechthin, und wer immer etwas gegen sie sagt, kann mit breiter Zustimmung rechnen. Sie werden unter der zukünftigen, noch intensiveren Regulierung zu leiden haben, müssen Bankenabgaben und Transaktionssteuern berappen. Der Bankensektor, so ein gängiges Diktum, wird danach nie mehr so sein wie er einmal war.
Internationale Marktführer
Die Realität ist natürlich vielschichtiger. Betrachtet man die unmittelbare Betroffenheit von der Krise, lassen sich die deutschen Kreditinstitute grob in drei sehr unterschiedliche Gruppen einteilen. Da ist mit der Deutschen Bank zunächst eine große, internationale Geschäftsbank. Sie setzt gemeinsam mit einigen wenigen ausländischen Konkurrenten die Marktstandards. Auf den teilweise selbst geschaffenen Märkten verfügt sie meist über einen Technologie- und Informationsvorsprung. Geht alles gut, reicht dieser Vorsprung aus, um sich rechtzeitig aus problematischen Märkten zu verabschieden. Eine Bad Bank braucht man dann nicht mehr. Die Krise hat auch für diese Bank eine zeitweise Eintrübung der Gewinnsituation bewirkt. Sie bietet aber auch große Chancen. Heftige Marktbewegungen sind ja nur dann verderblich, wenn man auf der falschen Seite des Marktes steht. Hat man die Gegenposition, lässt sich entsprechend prächtig verdienen. Kritisch hätte es nur werden können, wenn dann die Gegenpartei angesichts ihrer hohen Verluste tatsächlich ausfällt. Dies wurde jedoch durch die Intervention des Staates verhindert.
Eine weitere Chance für diese Bank und vergleichbare ausländische Konkurrenten liegt in den von der Krise ausgelösten wettbewerblichen Veränderungen. Einige Marktteilnehmer scheiden aus oder können übernommen werden. Die verbleibenden Akteure gewinnen angesichts der Konzentration an Marktmacht. Der Druck hin zu einer weiteren Konsolidierung der Bankenmärkte wird erhöht, soweit es gegenüber der Politik gelingt, die bestehende Marktstruktur als verantwortlich für die Krise zu brandmarken. Dabei sind die großen Institute vor allem mit Blick auf den gestiegenen Refinanzierungsbedarf der Staaten aufgrund ihrer überlegenen Platzierungskraft besonders gefragt. Daneben erhöht das gestiegene Risikobewusstsein aller Kreditinstitute die Margen. Und schließlich haben die Zentralbanken und Regulierungsbehörden ein großes Interesse daran, den Banken einen Ausgleich ihrer hohen Verluste zu ermöglichen, und dies geht am reibungslosesten aus Gewinnen. Daher sorgen die Zentralbanken für niedrige Refinanzierungssätze. Dieser Vorteil kommt aber allen Kreditinstituten zu Gute, auch denen, die gar keine hohen Verluste ausgleichen müssen. All dies sind Argumente dafür, dass man von dieser Positionierung aus auch in Krisenzeiten sehr erfolgreich sein kann.
Mittelgroße Institute
Ganz anders stellt sich die Situation der zweiten Gruppe von Banken dar: Mittelgroße Institute mit internationalen Ambitionen und oft intensivem Kapitalmarktgeschäft. In dieser Gruppe ist die Krisenbetroffenheit ein unmittelbarer Reflex der vor der Krise ausgelebten Ambitionen. Der oben angesprochene Technologie- und Informationsvorsprung der kleinen Gruppe der internationalen Marktführer wirkt sich vor allem gegenüber diesen Instituten aus. In guten Zeiten wagen sie sich auf die internationalen Kapitalmärkte und versuchen, an den Innovationsrenten neuer Produkte zu partizipieren. Viele dieser Geschäfte laufen aber auf ein Nullsummenspiel hinaus, und auch in anderen Marktsegmenten ist nicht zu erwarten, dass die Marktführer diesen Instituten die besten Geschäfte überlassen. Trübt sich die Marktsituation ein, erleiden diese Institute daher hohe Verluste. Teilweise ist es den führenden Instituten wohl auch noch gelungen, im unmittelbaren Vorfeld der Krise große Risikopositionen an diese Kreditinstitute weiterzureichen. Das Ergebnis waren eine Reihe spektakulärer Bankkrisen und ein Beinahe-Zusammenbruch des deutschen Bankensystems.
Was hat die mittelgroßen Institute in eine solch prekäre Situation gebracht? Neben psychologischen Momenten wie dem am Stammtisch gerne angeführten Größenwahn und dem Ehrgeiz, mit den ganz Großen auf Augenhöhe agieren zu wollen, gab es durchaus auch rationale Argumente für eine solche Geschäftspolitik. So sind die meisten dieser Institute auf eine Refinanzierung am Kapitalmarkt angewiesen. Eine positive Bewertung ihrer Schuldtitel hängt vom Urteil der Ratingagenturen ab. Diese haben vor allem auf höhere Gewinne und eine gesteigerte Eigenkapitalrentabilität gedrängt und Sicherheitsaspekte vernachlässigt. So wurden hochriskante amerikanische Investmentbanken mit guten Ratings versehen, solange der Gewinnausweis stimmte. Für seriöse Kreditinstitute dagegen wurde die Latte immer höher gehängt. Die natürliche Reaktion auf diesen Druck ist es, durch riskantere Geschäfte die Gewinne nach oben zu treiben und zugleich zu versuchen, dass für diese Geschäfte gemäß regulatorischer Vorgabe benötigte Eigenkapital zu minimieren. Tatsächlich boten die Verbriefungskonstruktionen, deren Risiken bei diesen Instituten letztlich schlagend wurden, beides: Hohes Risiko bei gleichzeitiger Umgehung der regulatorischen Kapitalanforderungen.
In der Gruppe dieser mittelgroßen Institute findet sich eine Reihe von Landesbanken. Mit Blick auf die besondere Struktur des deutschen Bankensystems wird häufig angeführt, dass die Landesbanken von der Krise besonders betroffen seien, weil es sich um öffentliche Banken handele, die ihr Geschäft nicht verstünden. Diese Institute hätten kein Geschäftsmodell und müssten daher ihr Geld mit riskanten Kapitalmarkttransaktionen verdienen. Gelegentlich versteigen sich Lobbyisten auch zu der These, die Finanzkrise habe Deutschland überhaupt nur wegen dieser Institute getroffen und die Privatisierung des öffentlichen Bankensektors sei daher die erste und dringlichste Maßnahme, um zukünftigen Krisen vorzubeugen. Tatsächlich sind einige Landesbanken sehr tief in den Krisenstrudel geraten. Andere aber gehen bisher recht schadlos aus, während auch einige private Banken dieser Größenklasse tief gefallen sind. Offenbar ist eine differenzierte Sichtweise erforderlich.
Die Geschäftsbedingungen für die Landesbanken haben sich mit dem Wegfall der Gewährträgerhaftung 2005 grundlegend gewandelt. Allerdings bestand auch vorher Handlungsbedarf. Die Landesbanken als Spitzeninstitute der Sparkassengruppe haben eine sinnvolle Aufgabe und ein daran anknüpfendes Geschäftsmodell. Allerdings weiteten ehrgeizige Vorstände dieses Aufgabenfeld immer weiter aus, sodass schließlich das auf die Sparkassengruppe bezogene Geschäft als nicht mehr belangvoll erschien. Die zu schwachen Kontrollgremien konnten oder wollten solchen Entwicklungen keinen Einhalt gebieten. Sie ließen zu, dass sich die Landesbanken mit hohen Volumina auf Märkten engagierten, die wenig mit ihren originären Aufgaben und Geschäften sowie traditionellen Kompetenzfeldern zu tun hatten. Damit wurden die Landesbanken zum Fremdkörper in der eigenen Institutsgruppe. Die Ministerpräsidenten der Länder fanden es offenbar reizvoll, eine international aufgestellte Großbank zu „besitzen“, bis ihnen diese zu groß geratenen Spielzeuge im Zuge der Finanzkrise, teilweise aber auch schon vorher und auch unabhängig von der Krise außer Kontrolle gerieten. Die Aufstellung der Landesbanken im Spannungsfeld zwischen den Landesregierungen und den Sparkassen führte zu einer Blockade, die auch heute noch eine sachgerechte Lösung verhindert.
Der Wegfall der Gewährträgerhaftung verschlimmerte diese Situation in doppelter Hinsicht. Einige Landesbanken nutzten eine Übergangsphase vor 2005, um in großem Umfang Finanzierungsmittel aufzunehmen, für die bei Laufzeiten bis 2015 noch eine staatliche Haftung gewährt wurde. Die Suche nach geeigneten Anlagen für diese Mittel gestaltete sich angesichts des dauerhaft niedrigen Zinsniveaus schwierig. Es besteht der Verdacht, dass man daher zu leichtfertig in nur vermeintlich risikoarme Projekte investierte. Und andererseits wurde den Landesbanken bewusst, dass sie in Zukunft höhere Renditen zu erwirtschaften hätten, um den nach 2005 durch den Wegfall der Staatshaftung sich erhöhenden Refinanzierungssatz verdienen zu können. Dies erschien aber nur möglich, indem sie die von den Investmentbanken angebotenen innovativen Verbriefungsprodukte nutzten und dabei bewusst oder unbewusst deutlich höhere Risiken eingingen als in der Vergangenheit.
In dieser Hinsicht glich sich jedoch die Situation der Landesbanken durch den Wegfall der Gewährträgerhaftung nur der anderer mittelgroßer Bankinstitute an. Ambitionierte, die kurzfristigen Gewinne maximierende Bankvorstände gab es auch bei diesen. So stürmten privatisierte und von den Fesseln des Hypothekenbankgesetzes befreite Realkreditinstute auf die internationalen Märkte, um sich alsbald eine blutige Nase zu holen. Und auch die Fusion der Commerzbank mit der Dresdner Bank wird vielfach als zu ambitioniert und als eine Krisenursache gewertet. Die Rechtsform scheint also nicht ausschlaggebend für die Betroffenheit durch die Finanzkrise zu sein. Private Banken haben es in einer Hinsicht allerdings leichter: Sie können zur Rekapitalisierung auf den Kapitalmarkt zurückgreifen, während die Landesbanken in einem komplizierten politischen Prozess ihre Eigentümer davon überzeugen müssen, dass eine solche Maßnahme sinnvoll und nicht zu riskant für die Kapitalgeber ist. Auf dem Höhepunkt der Krise war allerdings auch dieser Vorteil nichts wert, da die Eigenkapitalmärkte für Banken verschlossen waren.
Regionale Kreditinstitute
Die dritte Gruppe sind die zahlreichen regionalen Kreditinstitute Deutschlands, überwiegend Sparkassen oder genossenschaftliche Banken. Die in der Anfangsphase der Krise gelegentlich geäußerte Befürchtung, auch diese Institute könnten in erheblichem Umfang Subprime-Risiken erworben haben, hat sich nicht bestätigt. Die unmittelbare Betroffenheit durch die Finanzkrise ist gering. Sparkassen und Volksbanken begreifen sich als Stabilitätsanker in der Krise. Sie sind nicht auf eine Refinanzierung am Kapitalmarkt angewiesen, sondern haben eine eigene, regionale Einlagenbasis. Investitionen tätigen sie überwiegend in der jeweiligen Region. Nachdem die ersten Turbulenzen des Lehman-Schocks vorbei waren, wurde dies auch von vielen Einlegern so gesehen, die ihre Einlagen bei einem der regionalen Kreditinstitute für sicherer ansahen als bei den Großbanken. Die aus dieser Beobachtung folgende Verlagerung von Einlagen auf diese Institute wurde allerdings durch die Garantien der europäischen Regierungen für große, systemrelevante Institute gedämpft. Dennoch dürfte die Stabilität dieser Institute nicht unwesentlich dazu beitragen, dass sich die Krise im deutschen Bankensystem nicht weiter vertieft hat und keine Kreditklemme aufgetreten ist, die dann auch gravierende realwirtschaftliche Folgen gehabt hätte. Die aktuellen Erholungstendenzen in der Wirtschaft lassen erhoffen, dass auch die Abschreibungsbedarfe auf die umfänglichen Kreditportefeuilles dieser Institute im Rahmen bleiben.
Sind Sparkassen und genossenschaftliche Kreditinstitute demnach die Gewinner der Finanzkrise? Ihre Achillesferse sind ihre Spitzeninstitute, bei den Sparkassen die Landesbanken und die Deka-Bank sowie bei den Genossenschaften die DZ- und WGZ-Bank. Mit diesen bestehen vielfältige geschäftliche Verflechtungen und vor allem ein Haftungsverbund. Die erforderlichen Kapital- und Garantiemaßnahmen zur Unterstützung der Spitzeninstitute belasten die regionalen Kreditinstitute. Dabei sind die Kreditgenossenschaften noch relativ gut davongekommen, auch wenn die Krise den von langer Hand geplanten letzten Konsolidierungsschritt, die Fusion von DZ- und WGZ-Bank, verhindert hat. Eine existentielle Bedrohung erwächst vor allem den Sparkassen aus ihren Beteiligungen an Landesbanken. Für sie besteht einerseits die Notwendigkeit, die Risiken zu begrenzen, die sich in keinem guten Verhältnis zur Größe der betroffenen Institute bewegen. Anderseits sollte die Neuaufstellung des Landesbankenbereichs im Kontext der Sparkassengruppe und damit unter deren Einfluss und nicht dem Einfluss alternativer Beteiligungsgeber erfolgen, seien dies nun private Investoren oder Landesregierungen. Die Gruppe sieht sich hier einem Dilemma gegenüber, und mehrere Anläufe auch der Politik, den gordischen Knoten zu durchschlagen, sind bisher gescheitert.
Bankensystem insgesamt
Wie stellt sich das deutsche Bankensystem insgesamt der Krise? Es profitiert offenkundig von der Vielfalt der Institutionen, die ihm gegenüber homogeneren Systemen ein deutlich größeres Maß an Stabilität vermittelt. Einige Typen von Banken sind stark betroffen, andere dagegen nur sehr wenig. Aus Sicht der Wirtschaft bleibt das Bankensystem, bei aller gestiegenen Risikowahrnehmung und daraus folgender größerer Vorsicht, leistungsfähig und leistungsbereit. Ein Versagen des Bankensystems hätten wir uns allerdings auch sehr viel weniger leisten können als andere Länder, da die Unternehmensfinanzierung unverändert auf die Banken baut und der Kapitalmarkt nur für wenige Unternehmen eine echte Alternative bietet.
Diese Erkenntnis ist auch deshalb von großem Belang, weil das deutsche Bankensystem mit seinen drei Säulen (Private Banken, Sparkassen und Kreditgenossenschaften) sich auf internationaler Ebene einer steten und heftigen Kritik ausgesetzt sieht. Gerade die Europäischen Institutionen drängen auf eine Zerstörung der überkommenen Strukturen. Das deutsche Drei-Säulen-Modell sei veraltet, müsse dringend modernisiert und der Bankenmarkt konsolidiert werden. Deutschland müsse weitere weltweite aktive Finanzgiganten hervorbringen. Mit der Erfahrung der Finanzkrise vor Augen hätte diese Kritik eigentlich verstummen müssen.
Dies ist nicht der Fall, da die hinter dieser Kritik stehenden Lobbyinteressen keineswegs befriedigt sind. Vorgeschoben werden Wettbewerbsargumente: Die meisten deutschen Kreditinstitute können nicht von Dritten übernommen werden. Damit sei der Druck des Marktes auf die Unternehmensleitungen zu gering, um die Institute zu effizientem Verhalten zu veranlassen. Hinter dieser Argumentation verbergen sich jedoch noch ganz andere Gründe, die ebenfalls sehr viel mit Wettbewerb zu tun haben: Das Drei-Säulen-Modell gewährleistet einen intensiven Wettbewerb auch in der Fläche, für kleine Unternehmen und für private Kunden. Könnten sich die Finanzkonzerne mehr Marktmacht zusammenkaufen, ließen sich in diesen Bereichen wesentlich höhere Gewinne erzielen. Mit Blick auf mögliche Krisen der Zukunft erscheint dies verführerisch, haben doch Institute mit hohen Gewinnen ein viel größeres Verlustabsorptionspotenzial. Aus Sicht der Konsumenten sind dies allerdings unerfreuliche Aussichten, zahlen sie doch quasi im Voraus für die Stabilität des Bankensystems. Dabei können sie nicht einmal sicher sein, dass die Banken diese Gewinne nicht einfach ausschütten und sich über eine massive Erhöhung des Verschuldungsgrades nicht doch den gleichen Anreizen zum Zocken aussetzen wie zuvor. Gerade dafür finden sich in der Finanzkrise einige Beispiele.
Für viele Beobachter hat sich in der Krise ein neues Ideal für ein sinnvolles Bankensystem herausgebildet, das den Menschen dienen und den Staat nicht als Geisel nehmen sollte. Eine intensive Diskussion um die Ziele des Wirtschaftens im Bankwesen hat eingesetzt, zu der gerade das deutsche Bankensystem mit seinen Sparkassen und Genossenschaften, aber auch Bausparkassen oder Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit Konzepte liefern kann, die in einigen anderen Ländern bestenfalls als historische Erinnerung vorhanden sind. Es ist eben ein Ausdruck der menschlichen Freiheit und nicht gesellschaftlicher Retardierung, wenn sich Menschen unterschiedliche und sehr individuelle Ziele des Wirtschaftens setzen und nicht immer dem Diktat der Marktwertmaximierung folgen. Ein Bankensystem, das dies zulässt, ist aber beliebig weit von den seitens der EU-Kommission propagierten Vorstellungen entfernt, die hier die positiven Konzepte der neoklassischen Wirtschaftswissenschaften als normative Vorgaben begreift. Zukünftige Konflikte sind also vorprogrammiert.
Eine besonders wichtige Rolle in diesem „Bank-Arkadien“ spielt die Größe der Kreditinstitute. Kein Kreditinstitut sollte so groß sein, dass man es nicht scheitern lassen kann. Die vom Phänomen des „Too-big-to-fail“ ausgehenden Zwänge werden von Politikern wie Bürgern als eine große Zumutung empfunden. Der Staat muss gewaltige Summen zur Stützung des Systems aufbringen, die an anderer Stelle besser und gerechter eingesetzt wären. Kleine Institute könne man dagegen einfach pleite gehen lassen. Dieses Bild ist naiv. Auch in einem System mit vielen kleinen Instituten kann eine Bankenkrise eine sehr verderbliche Dynamik entwickeln. Ein historisches Beispiel dafür ist die amerikanische Savings & Loans-Krise in den achtziger Jahren, die letztlich auch mit dem Geld der Steuerzahler ausgestanden werden musste und diese wohl einen dreistelligen Milliardenbetrag kostete. Der Vorteil kleiner Institute ist vielmehr, dass man sie innerhalb einer Bankengruppe eher retten und so eine Krise aufhalten kann, ehe sie epidemisch wird. Aber dieser Vorteil ist Grund genug, die Zahl der großen Institute nicht durch wettbewerbliche Eingriffe künstlich in die Höhe zu treiben. Voraussetzung dafür, dass dieses Konzept funktioniert, ist aber die Existenz solcher Gruppenstrukturen, in Deutschland mithin des Drei-Säulen-Modells.
Das deutsche Bankensystem kann also ein Gewinner der Krise sein. Dies aber nur, wenn wir tatsächlich notwendige Strukturreformen insbesondere im Bereich der Landesbanken endlich durchsetzen und wenn es uns gelingt, die Vorteile dieses Systems auch im internationalen Rahmen zu kommunizieren. Andernfalls droht, trotz aller Erkenntnisse aus der Krise, der Systemwechsel.
Kapital gewinnt – Arbeit verliert
Wie aus dem Global Wealth Report 2010 der Bosten Consulting Group hervorgeht, hat der weltweite Reichtum 2009 wieder stark zugenommen, nachdem es 2008 noch einen starken Einbruch gegeben hat. Erstaunlich dabei ist, dass der weltweite Reichtum bereits 2009 wieder über dem Niveau vor Ausbruch der Wirtschaftskrise lag.1 Diese Entwicklung wird auch von den Ergebnissen einer aktuellen Studie des DIW zur Polarisierung der Einkommen in Deutschland bestätigt.2 Die DIW-Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Dieser Trend, der bereits im Jahr 2000 begonnen hatte,3 setzte sich auch von 2008 auf 2009 fort, in dem „der absolute Vorsprung der oberen zur mittleren Einkommensgruppe nochmals spürbar“ gestiegen ist. Zwar nahm „der Anteil der Haushalte mit hohem Einkommen ab“, dafür konnten aber die Haushalte, „die 2009 dieser Einkommensgruppe zugeordnet“ wurden „im Durchschnitt weit höhere Einkommen erzielen als in den Jahren zuvor“4. Auf der anderen Seite hat aber nicht nur der Anteil der Haushalte mit niedrigem Einkommen von 2008 auf 2009 spürbar zugenommen, sondern gleichzeitig ist der absolute Rückstand zur mittleren Einkommensgruppe erneut deutlich gestiegen. Beide Entwicklungen zusammengenommen unterstreichen, dass auch 2009 „die Einkommensschere zwischen den Beziehern von niedrigen und hohen Einkommen … sich in Deutschland weiter geöffnet“5 hat. Die Ergebnisse dieser beiden Studien verdeutlichen, dass die These, dass vor allem Vermögende zu den Verlierern der Krise gehören, zu verwerfen ist. Das Gegenteil ist der Fall. Den Vermögenden geht es bereits wieder besser als vor der Krise. Die globale Finanzkrise hat bislang im Prinzip nichts verändert, sondern stellt im Hinblick auf die Einkommensverteilung nur ein kurzes Intermezzo dar. Nur vorübergehend, unmittelbar während des Absturzes der Weltwirtschaft Ende 2008 und Anfang 2009, mussten die Vermögenden Einkommenseinbußen hinnehmen, die stärker waren als jene der weniger Begüterten. All dies wurde inzwischen aber wieder wettgemacht. Wenn die Vermögenden und Reichen aber nicht zu den Verlierern, sondern am Ende sogar zu den Gewinnern in der Krise gehören, wer sind dann die Verlierer?
Arbeit lohnt sich immer weniger – Kapital immer mehr
Als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach Gewinnern und Verlierern bietet sich das Volkseinkommen an. Dieses ist die Summe der in einem bestimmten Zeitraum erwirtschafteten Erwerbs- und Vermögenseinkommen. Es setzt sich aus den beiden Bestandteilen Arbeitnehmerentgelt und Unternehmens- und Vermögenseinkommen zusammen und kann somit herangezogen werden, um die Einkommensverteilung auf die beiden Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital (funktionale Einkommensverteilung) abzubilden. In der Regel werden hierzu die Lohn- und Gewinnquote verwendet. Betrachtet man deren Entwicklung seit der Wiedervereinigung, so zeigt sich, dass die Lohnquote über viele Jahre hinweg mit leichten Schwankungen immer über 70% des Volkseinkommens lag.6 Umso erstaunlicher ist die Entwicklung seit dem Jahr 2003. Ab da fing die Gewinnquote an, signifikant zu steigen, so dass die Lohnquote 2006 unter 65% fiel. Auch im ersten Krisenjahr 2008 liegt die Lohnquote noch unter 66%. Lediglich 2009 steigt sie auf 67,7%, weil die Gewinne der Unternehmen in der Krise stark zurückgingen, während die Lohneinkommen immerhin noch schwach stiegen und die Beschäftigung relativ hoch blieb. Dieser kurzfristige deutliche Anstieg der Lohnquote ist aber keine Trendumkehr, sondern ein statistischer Effekt, und zwar ein Ausdruck der Krise. Er kann auf keinen Fall als Umverteilung von Kapital zu Arbeit interpretiert werden. Vielmehr hängt er damit zusammen, „dass die Lohnquote im Konjunkturverlauf schwankt. Löhne, Gehälter, Gewinne und Beschäftigung folgen dem Konjunkturzyklus zeitlich verzögert in unterschiedlicher Intensität. Folge: Im Abschwung steigt die Lohnquote, im Aufschwung sinkt sie.“7
Dass der Anstieg der Lohnquote nur von sehr kurzer Dauer war, wird ersichtlich, wenn man die aktuelle Entwicklung der Lohnquote mit Hilfe von saisonbereinigten Quartalsdaten betrachtet.8 So stieg die Lohnquote krisenbedingt zwar kurzfristig deutlich an, ging aber ebenso schnell wieder zurück und war bereits im vierten Quartal 2009 wieder auf 66% gefallen. An dieser Analyse ändert sich auch nicht viel, wenn man anstelle der Lohnquote die Arbeitseinkommensquote nimmt, die eine Art bereinigte Lohnquote ist, da sie auch um das Arbeitseinkommen der Selbständigen korrigiert wird. Der Verlauf beider Lohnquoten ist ähnlich, und unterscheidet sich hauptsächlich im Niveau.
Arbeitseinkommensquote sinkt weiter
Verwendet man die Arbeitseinkommensquote9 (AEQ), so kann man diese in zwei Komponenten zerlegen, zum einen in das Arbeitsentgelt je Arbeitnehmer und zum anderen in das durchschnittliche Volkseinkommen je Erwerbstätigen. Dazu wird zunächst das durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer mit der Anzahl der Erwerbstätigen multipliziert, um nicht nur das Arbeitseinkommen der Arbeitnehmer, sondern auch das Arbeitseinkommen der Selbständigen zu berücksichtigen und so eine Approximation für das gesamtwirtschaftliche Arbeitseinkommen zu erhalten. Die AEQ entspricht dann dem Anteil des Arbeitseinkommens am Volkseinkommen:
Dieser Ausdruck verdeutlicht, dass die AEQ fällt, wenn das Volkseinkommen je Erwerbstätigen schneller steigt als das durchschnittliche Arbeitnehmerentgelt und umgekehrt. Eine sinkende AEQ signalisiert, wie später gezeigt wird, damit auch eine Lohnzurückhaltung, da die Arbeitnehmereinkommen hinter dem Produktivitätszuwachs zurückbleiben; die Arbeitnehmer werden dann nicht entsprechend ihrem Zuwachs an Leistungsfähigkeit entlohnt.
In Abbildung 1 ist die Entwicklung dieser beiden Größen für die letzten beiden Konjunkturzyklen mit Hilfe von saisonbereinigten Quartalsdaten dargestellt.10 Bis 2003 sind sowohl die Arbeitnehmerentgelte je Arbeitnehmer als auch das Volkseinkommen pro Erwerbstätigen ähnlich stark gestiegen. Es fällt auf, dass ab 2003 ein Auseinanderdriften in der Entwicklung dieser beiden Größen festzustellen ist. Im ersten Zyklus von 1999 bis 2005 ist das Volkseinkommen je Erwerbstätigen mit 16% doppelt so stark gestiegen wie das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer, das im gleichen Zeitraum nur um 8% gewachsen ist. Diese Spreizung ist zeitgleich mit dem Höhepunkt des zweiten betrachteten Zyklus 2008 vorübergehend am größten. Im Krisenjahr 2009 findet dann scheinbar eine Umkehrung statt. Betrachtet man die Entwicklung dieser beiden Größen aber am aktuellen Rand, wird schnell deutlich, dass die scheinbare Trendwende nichts anderes war als ein kurzfristiges Phänomen der aktuellen Wirtschaftskrise. Das Volkseinkommen je Erwerbstätigen wächst wieder deutlich stärker als die durchschnittlichen Arbeitnehmerentgelte. Dies liegt an der deutlichen Rückführung der Kurzarbeit seit dem Beginn der Erholung und ist daher zumindest teilweise eine technische Reaktion auf den Rückgang der Produktivität, als die Kurzarbeit ausgeweitet wurde. Die Quartalszahlen seit Ende 2009 sprechen allerdings dafür, dass es wieder zu einem Auseinanderdriften dieser beiden Größen kommt.
Abbildung 1
Komponenten der Arbeitseinkommensquote
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 18, Reihe 1.2, Tabellen 1.3 und 1.10, Wiesbaden 2010, eigene Berechnungen.
Was steckt aber hinter diesen unterschiedlichen Entwicklungen? Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, in welchem Umfang die Lohneinkommen am Produktivitätsfortschritt teilhaben. Um adäquate Aussagen über Lohnentwicklung und Produktivitätssteigerungen treffen zu können, muss die Entwicklung der Arbeitsproduktivität und der Lohnzuwächse auf Stundenbasis analysiert werden. Hierzu bietet es sich an, die Lohnentwicklung im Verhältnis zum Verteilungsspielraum zu betrachten.
Abbildung 2 zeigt den Verteilungsspielraum und die Lohnzuwächse von 1995 bis 2009. Der Verteilungsspielraum setzt sich zusammen aus der Zunahme der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde11 – berechnet als gleitender Durchschnitt der letzten vier Jahre, um ihn um zyklische Schwankungen zu bereinigen – und der Zielinflationsrate der EZB in Höhe von 1,9%. Letzteres implementiert das Ziel der Preisstabilität in die Lohnfindung, da weder Inflation treibende Lohnerhöhungen noch Deflation erzeugende Lohnmoderation nachhaltig sein können. Bei den Lohnzuwächsen handelt es sich um die Veränderung der Lohnkosten je Arbeitnehmerstunde.12 Dabei fällt auf, dass schon bereits seit Mitte der 1990er Jahre der Verteilungsspielraum nicht mehr voll ausgeschöpft wurde. Erst im Krisenjahr 2009 stiegen zum ersten Mal seit 1995 die Stundenlöhne wieder stärker als der Verteilungsspielraum. Allerdings ist auch dies nur ein temporärer Effekt. Bei Verwendung von Quartalszahlen für den aktuellen Rand wird man sicher feststellen können, dass es auch hier bereits wieder zu einer Umkehr gekommen ist.
Abbildung 2
Ausnutzung des Verteilungsspielraums
Berechnungen: Der Verteilungsspielraum ist die Summe der Veränderungsrate der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde und der Zielinflationsrate der EZB (1,9%). Bei der Veränderungsrate der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde handelt es sich um die durchschnittliche Zunahme der letzten vier Jahre. Der Lohnzuwachs ist die jährliche Veränderungsrate der Lohnkosten je Arbeitnehmerstunde.
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 18, Reihe 1.4, Tabelle 1.12, Wiesbaden 2010, eigene Berechnungen.
Betrachtet man die Zunahme der Arbeitsproduktivität und den Lohnkostenzuwachs über den gesamten Zeitraum, sticht besonders die Entwicklung in den Jahren ab 2004 heraus. Selbst während des vergangenen Aufschwungs, der zudem recht kräftig war, blieben die Lohnkostenzuwächse deutlich hinter den Produktivitätsfortschritten zurück. Dadurch wurde der Verteilungsspielraum nicht voll ausgeschöpft und es zeigt sich, dass dieses starke Zurückbleiben der Lohnentwicklung hinter der Arbeitsproduktivität die Ursache für den starken Fall der Lohnquote ab 2003 ist. Somit ist es auch klar, warum die seit der Mitte der 1990er Jahre zunächst schleichend begonnene Umverteilung nun als eine offensichtliche starke Umverteilung zu erkennen ist.
Arbeitnehmerentgelt: Immer weniger Netto vom Brutto
Auch die einzelnen Komponenten des Arbeitnehmerentgelts werden in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung (VGR) ausgewiesen. Laut der VGR ist das Arbeitnehmerentgelt die Summe der Nettolöhne und -gehälter, der jeweiligen Sozialbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, und der von den Arbeitnehmern gezahlten Lohnsteuer. Jede dieser vier Komponenten ist in Abbildung 3 dargestellt. Als erstes fällt auf, dass die Nettolöhne und -gehälter signifikant geringer gestiegen sind als das Arbeitnehmerentgelt. Dieses liegt vor allem daran, dass die Sozialbeiträge und die Lohnsteuer kräftiger gestiegen sind als das Arbeitnehmerentgelt. Des weiteren fällt auf, dass seit 2003 die Entwicklung der Sozialbeiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer deutlich auseinander läuft. Während die Sozialbeiträge, die von den Arbeitnehmern bezahlt werden, um 27% zugenommen haben, nahmen die Sozialbeiträge der Arbeitgeber im gleichen Zeitraum lediglich um 5% zu. Selbst das Lohnsteueraufkommen, das krisenbedingt von 2008 auf 2009 um 4% eingebrochen ist, ist im gesamten Zeitraum 2003 bis 2009 um 6% gestiegen. Vergleicht man den Anstieg der Sozialbeiträge von 2008 auf 2009, dann stellt man einen Anstieg der Sozialbeiträge bei den Arbeitnehmern um 5% und lediglich um 1% bei den Arbeitgebern fest.
Abbildung 3
Komponenten des Arbeitnehmerentgeltes
Index 1999 = 1,00
Quelle: Statistisches Bundesamt: Fachserie 18, Reihe 1.2, Tabelle 1.8, Wiesbaden 2010, eigene Berechnungen.
Für die unterschiedliche Entwicklung der Sozialbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern spielen viele Faktoren eine Rolle. Es kann nicht nur ein Grund dafür verantwortlich gemacht werden, dass sich in einem speziellen Jahr die Sozialbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern unterschiedlich entwickelt haben. Wesentlich dafür ist, dass im Zuge der Sozialreformen die Arbeitgeberbeiträge gedeckelt wurden. Ferner kann die Zunahme von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, die Neuregelung der Minijobs seit 2003, die Übernahme von Sozialbeiträgen während der Kurzarbeit, die veränderte Struktur der Erwerbstätigen, die Zunahme der Selbständigkeit in Form von Ich-AGs, Änderungen in der Bemessungsgrundlage für die einzelnen Sozialversicherungen oder Änderungen in der Datenerfassung, so wie zum Beispiel die Beiträge an die privaten Krankenversicherungen, die seit 2009 erfasst werden, dazu führen, dass die Summe der Sozialbeiträge in einem Jahr stärker oder schwächer steigt als zuvor.
Das entscheidende Argument, das durch Abbildung 3 bekräftigt wird, ist, dass die Beitragsparität der Sozialversicherungssysteme seit 2001 langsam aber stetig ausgehöhlt wurde. Dieses zeigt sich in Abbildung 3 dadurch, dass sich die Sozialbeiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zunächt langsam von 2001 bis 2003 und ab 2003 stark auseinanderbewegt haben. Deutlich ausgeprägt sind hier die Jahre 2005 und 2007. 2005 wurde ein alleiniger Beitrag der Arbeitnehmer in Höhe von 0,9% zur Krankenversicherung eingeführt. 2007 wurde die Beitragsparität in der Pflegeversicherung, mit dem 0,25%igen Zuschlag für Kinderlose, gekippt. Dabei werden nicht einmal alle Auswirkungen der Maßnahmen, die zu einer Abkehr von der paritätischen Finanzierung der Sozialbeiträge geführt haben und zu Lasten der Arbeitnehmer gingen, in den Komponenten in Abbildung 3 erfasst. So gab es z.B. seit 2000 mehrere Rentenreformen, die auf eine verstärkte private Vorsorge (Riesterrente) abzielten.13 Durch die Einführung einer kapitalgedeckten Komponente in der Rentenversicherung, die alleine von den Arbeitnehmern zu tragen ist, wurde die paritätische Finanzierung in der Rentenversicherung aufgehoben. Ebenso wurde im Zuge dieser Reformen das Rentenalter angehoben, bei gleichzeitiger Absenkung des Rentenniveaus. Auch in der Krankenversicherung gibt es seit Jahren immer wieder gesetzliche Veränderungen, die die Arbeitnehmer in stärkerem Maße treffen als die Arbeitgeber. So kam es zur Ausgliederung von Leistungen, zu der Einführung einer Praxisgebühr und steigenden Medikamentenzuzahlungen, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Auflösung der Beitragsparität bei den Sozialversicherungssystemen geht auch 2010 weiter. Seit diesem Jahr erheben etliche Krankenkassen entweder einen einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag von 8 Euro oder einen höheren Zusatzbeitrag, der mit Einkommensprüfung bis zu 1% des Bruttoeinkommens ausmachen kann. Werden die momentan diskutierten Vorschläge der Regierung zur Sanierung des Krankenversicherungssystems in die Tat umgesetzt, die eine Verdoppelung der einseitig getragenen Zusatzbeiträge vorsehen, dann wird die Aushöhlung der Beitragsparität auch im Jahr 2011 weiter an Fahrt gewinnen.
Die Ära der Umverteilung ist vorerst noch nicht zu Ende
Seit Mitte der neunziger Jahre hat in Deutschland eine massive Umverteilung zu Lasten des Faktors Arbeit und zu Gunsten des Faktors Kapital eingesetzt. Seit der vorletzten Rezession 2000/2001 hat sich zudem eine mittlerweile dramatisch zu nennende Umverteilung von niedrigen und mittleren Einkommen zu den höheren Einkommen eingestellt. Die jüngste Krise hat diesen Trend nur kurzzeitig unterbrochen, als die Gewinneinkommen mit dem wirtschaftlichen Einbruch gleichfalls stark zurückgingen, während die Arbeitseinkommen wegen längerer Laufzeiten der Tarifverträge und dank wirtschaftspolitischer Maßnahmen wie der Kurzarbeiterregelung noch relativ stabil blieben. Seit die deutsche Wirtschaft aber wieder auf Erholungskurs ist, setzen sich die alten Trends ungebrochen fort.
Aus diesem Befund ergibt sich die Antwort auf die Frage nach den Verlieren und Gewinnern der Krise. Kurzfristig haben Kapital und höhere Einkommen verloren, mittelfristig setzt sich jedoch die schon vor der Krise bestehende Tendenz fort, dass niedrige und mittlere Einkommen sowie der Faktor Arbeit insgesamt weiter verlieren. Der Verlust dürfte sich zunächst sogar noch verschärfen, wenn die Bundesregierung ihre Sparpläne wie vorgesehen durchsetzt. Dann wird die Konsolidierung primär über erhöhte Sozialbeiträge, Abbau von Leistungen bei der Bundesagentur für Arbeit und dem Abbau von Sozialleistungen angestrebt. Dagegen sind jene Maßnahmen, die die höheren Einkommen bzw. den Faktor Kapital belasten noch sehr vage gehalten bzw. wie die Einführung einer Finanzmarkttransaktionssteuer an Bedingungen geknüpft, die derzeit ungewiss sind.
Gleichzeitig ist aber auch offenkundig, dass dieser Trend nicht auf Dauer anhalten wird und auch nicht anhalten kann. Zum einen führen die demographischen Tendenzen, die sich in der bereits spürbaren Abnahme des Arbeitsangebots in Deutschland zeigen, zu einer verstärkten Konkurrenz um Arbeitskräfte. Daran werden auch liberalisierte Zuwanderungsregeln nichts ändern. Dies dürfte in der weiteren Zukunft – gemessen am Produktivitätstrend – beschleunigte Lohnzuwächse zur Folge haben. Auf diese Weise könnte sich eine Trendwende bei der funktionalen Verteilung einstellen, die dazu führen dürfte, dass die Lohnquote bzw. die Arbeitnehmereinkommensquote wieder steigt.
Im Hinblick auf die personelle Einkommensverteilung dürfte auf längere Sicht ebenfalls eine Trendwende anstehen. Sie ergibt sich zum einen aus der Trendwende bei der funktionalen Verteilung, weil mit der demographischen Tendenz gerade Menschen, die derzeit arbeitslos sind oder in eher prekären Beschäftigungsverhältnissen arbeiten, ihre Lage verbessern dürften. Hinzu kommt, dass eine präventive Krisenbekämpfung genau dies erfordert. Denn die klaffende Spreizung der Einkommensverteilung hat dazu beigetragen, dass die Bezieher hoher Einkommen wachsenden Appetit auf riskante Finanzanlagen entwickelten, die mit zum Aufbau der Blasen an den Finanzmärkten beigetragen haben. Ferner hat die Einkommensschwäche der Konsum orientierten Mittel- und Unterschichten zur schwachen Binnennachfrage geführt, die die Wurzel des außenwirtschaftlichen Ungleichgewichts Deutschlands ist und die zu den Instabilitäten im Euroraum beigetragen hat.14 Damit ist die Trendwende in der personellen Einkommensverteilung auch ein Gebot der gesamtwirtschaftlichen Stabilität.
- 1 Vgl. J. Becerra, P. Damisch, B. Holley, M. Kumar, M. Naumann, T. Tang, A. Zakrzewski: Regaining Lost Ground – Resurgent Markets and New Opportunities, Report Global Wealth 2010, Boston Consulting Group, Boston 2010, S. 5.
- 2 J. Goebel, M. Gornig, H. Häußermann: Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert, in: DIW Wochenbericht, 24/2010, Berlin 2010.
- 3 Vgl. M. M. Grabka, J. R. Frick: The Shrinking German Middle Class: Signs of Long-Term Polarization in Disposable Income?, DIW Report 4/2008, Berlin 2008, S. 21-27.
- 4 J. Goebel, M. Gornig, H. Häußermann 2010, a.a.O., S. 5.
- 5 Ebenda, S. 5.
- 6 Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 18, Reihe 1.2, Tabelle 1.3, Wiesbaden Mai 2010, eigene Berechnungen.
- 7 Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: Einkommensverteilung, BDA-kompakt, Berlin April 2010, S. 2.
- 8 Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 18, Reihe 1.3, Tabelle 2.1.2, Wiesbaden Mai 2010, eigene Berechnungen.
- 9 Die Definition der AEQ wurde vom Sachverständigenrat übernommen. Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, Jahresgutachten 2008/2009, Wiesbaden 2008, S. 459 ff.
- 10 Die Datierung der Wirtschaftszyklen erfolgt in Anlehnung an A. Herzog-Stein, C. Logeay: Labour Market Reforms, Hysteresis and Business Cycle in Germany: A SVAR Approach to Explain Unemployment Developments, mimeo, Juni 2010.
- 11 Vgl. Statistisches Bundesamt: Fachserie 18, Reihe 1.4, Wiesbaden 2010, Tabelle 2.1.13, eigene Berechnungen.
- 12 Ebenda.
- 13 Vgl. hierzu auch den Rentenreport von C. Logeay, V. Meinhardt, K. Rietzler, R. Zwiener: Gesamtwirtschaftliche Folgen des kapitalgedeckten Rentensystems, IMK Report, Nr. 43, Düsseldorf 2009.
- 14 Vgl. J.-P. Fitoussi, J. E. Stiglitz: The Ways Out of the Crisis and the Building of a More Cohesive World, OFCE Document de travail, Nr. 17, 2009.