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Die Europäische Währungsunion erlebt stürmische Zeiten. Das birgt die Gefahr, dass Prognosen schon bald vom Wind verweht sind. Das gilt auch für die jüngste Gemeinschaftsdiagnose, die am 11. Oktober abgeschlossen wurde, als die Diskussion über die Lösung der europäischen Staatsschuldenkrise noch in vollem Gange war. Danach erlebte Europa ein Wechselbad. Zunächst hatten die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel Rettungsmaßnahmen beschlossen und die Krisenreaktionsmechanismen verbessert. Die Märkte nahmen dies mit Erleichterung auf, wie der Anstieg der Aktienkurse und Kursgewinne des Euro signalisierten. Doch kehrte aufgrund der Regierungskrisen in Griechenland und Italien die Unsicherheit bald zurück, und es bleibt abzuwarten, wie die EU-Beschlüsse von der neuen griechischen Regierung umgesetzt werden.

In solchen Situationen sind Prognosen naturgemäß schwierig, ja sie sind überhaupt nur möglich, wenn man zu den politischen Rahmenbedingungen, die sich einer seriösen Vorhersage entziehen, Annahmen festlegt. Diesen Weg ging die Gemeinschaftsdiagnose vom Herbst 2011. Neben den üblichen Setzungen für Zinsen, Weltmarktpreise und Wechselkurse basiert sie auf zwei entscheidenden Annahmen: Erstens geht sie davon aus, dass die griechischen Staatsschulden im Prognosezeitraum restrukturiert werden. Zweitens unterstellt sie, dass man auf europäischer Ebene erfolgreich einen Dominoeffekt in anderen EWU-Ländern verhindern kann, den ein Schuldenschnitt in Griechenland nach sich ziehen könnte.

Die Entscheidungen des jüngsten EU-Gipfels stützen diese Annahmen. Dort wurde ein Schuldenschnitt für Griechenland beschlossen, der – wie von der Gemeinschaftsdiagnose gefordert – von Maßnahmen zur Stärkung des Eigenkapitals von Banken begleitet wird. Dies dürfte die Risiken für die Stabilität des Bankensektors deutlich verringern. Kritisch gesehen hatte die Mehrheit der Institute die damals diskutierte und inzwischen beschlossene Hebelung des EFSF. Hier gilt nach wie vor, dass die EWU-Länder damit sehr große Risiken eingehen. Zugeben muss man aber, dass in einer Situation, in der die Märkte die Politik vor sich her treiben, die Zahl der Handlungsalternativen gering ist, zumal unter der Nebenbedingung, dass Entscheidungen der EU eine Zustimmung durch alle Länder voraussetzen. Ein sehr großer Schirm kann die Märkte bezüglich der Liquidität Spaniens und Italiens allerdings nur unter der Voraussetzung beruhigen, dass diese Länder die versprochene Haushaltskonsolidierung in Angriff nehmen. Dabei ist aber die Gefahr nicht gering, dass die Absicherung durch die EU die Eigeninitiative der Staaten erlahmen lässt.

Die Prognose der Gemeinschaftsdiagnose vom Herbst 2011 wurde jedenfalls durch die jüngsten Entscheidungen der EU weder entwertet, noch stellen die fortgesetzten Turbulenzen eine Situation dar, die nach einer geänderten Prognose ruft, weil der Diagnose kein Schönwetterszenario zu Grunde lag. Vor diesem Hintergrund dürfte weiterhin gelten, dass sich die deutsche Konjunktur im Winterhalbjahr 2011/12 wohl deutlich abschwächen wird. Dies ist nicht nur in den Erwartungen der Unternehmen angelegt, sondern spiegelt sich auch in den realwirtschaftlichen Indikatoren wider. Der Aufholprozess, der die Produktion nach der Rezession kräftig steigen ließ, scheint ohnehin vorüber zu sein, was für sich genommen schon für geringe Zuwachsraten spricht. Zudem belastet die europäische Staatsschuldenkrise zunehmend auch die Konjunktur, weil die Nachfrage insbesondere aus dem Euroraum schwächer wird. Allerdings sind bisher weder die Industrie- und die Bauproduktion noch der Export weggebrochen. Dies spricht gegen eine tiefe Rezession, wie man sie, orientierte man sich allein an den jüngst nochmals verschlechterten Geschäftserwartungen, durchaus in Betracht ziehen könnte. Insgesamt dürfte die Einschätzung Bestand haben, dass Deutschland seine Schwächephase im Verlauf von 2012 allmählich überwinden und das Bruttoinlandsprodukt um 0,8% expandieren wird, nach einer Zunahme um 2,9% in diesem Jahr.

Dass sich die Lage in Deutschland weniger verschlechtert als im übrigen Euroraum, für den eine Rezession wahrscheinlich ist, liegt auch an den hierzulande günstigeren wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen sind nach wie vor besser, zumal die einheitliche Geldpolitik der EZB in Deutschland in Anbetracht der hier höheren Kapazitätsauslastung eher expansiv wirkt. Zudem hängt der deutsche Export inzwischen weniger stark von Lieferungen in den Euroraum ab als früher, weil die Unternehmen ihre Stellung auf den Märkten der Schwellenländer ausgebaut haben. In letzteren schwächt sich die Expansion zwar ebenfalls ab, sie bleibt aber ungleich kräftiger als in Europa. Schließlich ist die Finanzpolitik hierzulande aufgrund der vergleichsweise guten Lage der öffentlichen Haushalte weniger restriktiv ausgerichtet als in anderen EU-Ländern.

Die Situation der deutschen Staatsfinanzen dürfte ungeachtet der vorübergehenden Konjunkturschwäche günstig bleiben. Die Institute prognostizieren, dass die Defizitquote nach 0,9% in diesem Jahr auf 0,6% sogar weiter zurückgehen wird. Der strukturelle Budgetsaldo dürfte dabei 2012 nur wenig reduziert werden, auch weil der Beitragssatz der gesetzlichen Rentenversicherung sinken wird und nicht alle im „Zukunftspaket“ der Bundesregierung angekündigten Konsolidierungsmaßnahmen in vollem Umfang realisiert werden. Damit eröffnet das weiter sinkende Staatsdefizit keine Spielräume für dauerhafte Steuerentlastungen. Allerdings ist die günstige Entwicklung der Staatsfinanzen zum Teil darauf zurückzuführen, dass die Inflation verhältnismäßig hoch bleibt. Die Verbraucherpreise dürften nach 2,3% in diesem Jahr im kommenden um 1,8% steigen, wozu weitaus überwiegend der interne Preisauftrieb beiträgt. Damit greift die „kalte Progression“ weiterhin. Diese heimlichen Steuererhöhungen sollten nicht der Haushaltskonsolidierung dienen, sondern an die Steuerzahler zurückgegeben werden. Vorzuziehen wäre zwar eine Indexierung des Steuertarifs („Tarif auf Rädern“). Die von der Bundesregierung angekündigte Reduktion der Steuerlast um insgesamt 6 Mrd. Euro in den Jahren 2013 und 2014 würde diesem Anliegen aber ebenfalls entsprechen; sie sollte durch Einsparungen bei den Ausgaben finanziert werden.

Aufgrund der Reaktionen der EZB auf die Staatsschuldenkrise im Euroraum sind Befürchtungen aufgekommen, dass die Geldwertstabilität gefährdet ist. Insbesondere hat der Aufkauf von Staatspapieren von Mitgliedsländern des Euroraums Diskussionen über die Unabhängigkeit der EZB ausgelöst. Ob solche Gefahren bestehen, hat die Gemeinschaftsdiagnose in einem Sonderthema analysiert. Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass einerseits durch die geldpolitischen Reaktionen auf die Staatsschuldenkrise Prinzipien verletzt und die Glaubwürdigkeit der EZB beschädigt wurden. Andererseits hat sich dies noch nicht in der Inflationsentwicklung niedergeschlagen und die Inflationserwartungen der Wirtschaftssubjekte sind weiterhin am Ziel der EZB verankert. Daher besteht noch die Möglichkeit eines Umsteuerns. Wichtig ist dabei, dass die Wirtschaftspolitik die EZB, die bisher wohl die einzige kurzfristig handlungsfähige EU-Institution war, möglichst rasch von dem – vermeintlichen oder tatsächlichen – Zwang befreit, den Kollaps des Finanzsystems verhindern zu müssen. Dazu müsste eine Institution geschaffen werden, die schnell und unabhängig von der Zustimmung aller Mitgliedsländer systemrelevante Banken stützen und gegebenenfalls abwickeln kann. Die Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels sind ein Schritt in diese Richtung und können helfen, dass die EZB sich künftig wieder auf ihre primäre Aufgabe konzentrieren kann, die Preisstabilität zu sichern.


DOI: 10.1007/s10273-011-1293-8

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