Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Der Dioxin-Skandal bei Futtermitteln, aber auch die fehlerhafte und interessengeleitete Beratung beim Kauf von Finanzdienstleistungen hat die Verbraucherpolitik in Misskredit gebracht. In der öffentlichen Debatte werden zunehmend rigidere Vorschriften für die Anbieter gefordert, aber auch mehr Informationen für den mündigen Kunden – was aus ordnungspolitischer Sicht richtig wäre. Die Verbraucherforschung hält aber das Leitbild des rationalen Verbrauchers für nicht realistisch.

Versagt die Verbraucherpolitik? Versuch einer Antwort aus wohlfahrtsökonomischer Sicht

Die für dieses „Zeitgespräch“ titelgebende Frage, ob die Verbraucherpolitik versagt, lässt sich sicher nicht anhand eines singulären Ereignisses wie des jüngsten Dioxinskandals beantworten. Bei solchen Unfällen kommt vieles zusammen, was nicht unmittelbar der Politik vorgeworfen werden kann: Schlamperei, Verzicht auf Sicherheitsmaßnahmen aus Profitgier und sicher auch die Tatsache, dass in komplexen technischen und ökonomischen Systemen nicht jedes denkbare technische Versagen und nicht jedes mögliche menschliche Fehlverhalten für die Politik vorhersehbar und damit auch abwendbar ist. Wer ab und zu einen Blick auf andere ökonomisch erfolgreiche Länder wie beispielsweise China wirft, wo immerhin das Wohl von mehr als 1,3 Mrd. Konsumenten von der nationalen Verbraucherpolitik abhängt, wird gerne bereit sein, der deutschen Verbraucherpolitik Vorbildlichkeit zu attestieren. Von „Versagen“ sind wir sicher weit entfernt. Nichtsdestotrotz gilt auch hier, dass das Bessere stets der Feind des Guten ist und es sich somit lohnt, über Verbesserungen nachzudenken.

Ein ökonomischer Ansatz der Verbraucherpolitik

Sicherlich gibt es viele verschiedene Möglichkeiten, sich der Frage, wie eine gute Verbraucherpolitik auszusehen hat, anzunähern, wobei wir als Ökonomen naturgemäß den ökonomischen Ansatz präferieren, den wir im Folgenden kurz umreißen werden. Rationale Verbraucherpolitik kann – wie andere Politikteile auch – nicht als isoliertes Einzelphänomen betrachtet werden, sondern sollte stets Teil eines übergreifenden Gesamtkonzepts sein, aus dem sich dann im Einzelfall optimale Politikstrategien und ein optimaler Instrumenteneinsatz ableiten lassen. Aus Sicht der ökonomischen Theorie und ihrer allgemeinen Systematik kann Verbraucherpolitik als Teil der Ordnungspolitik betrachtet werden. Als Leitlinie kann daher auch hier der von Walter Eucken aufgestellte ordnungspolitische Grundsatz gelten: „Von unten nach oben soll der Aufbau der Gesellschaft erfolgen. (...) Und der Staat soll nur da eingreifen, wo seine Mithilfe in keiner Weise zu entbehren ist“1. Diese normative Vorgabe Euckens ist von grundsätzlicher Bedeutung, denn sie gibt die generelle Denkrichtung bei der Konzipierung einer im Sinne der Freiburger Schule zielführenden Verbraucherpolitik vor: als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen sollte die Politik einen (hypothetischen) Zustand einer Volkswirtschaft ohne jeden Staatseingriff wählen und dann überlegen, in welchen verbraucherrelevanten Bereichen eine Regulierung „in keiner Weise zu entbehren“ ist. Was das bedeutet, muss im Folgenden konkretisiert werden.

Ausgangspunkt aller Politik in Deutschland ist der in Artikel 56 bzw. 64 GG verankerte Amtseid von Bundespräsident(in), Bundeskanzler(in) und Bundesminister(inne)n: „Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden ... werde“. In ökonomische Kategorien übersetzt kann man sich dies als Auftrag zur Maximierung einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion vorstellen, deren Argumente die individuellen Nutzenfunktionen der einzelnen Bürger sind. Eine notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung für ein Wohlfahrtsmaximum ist bekanntlich das Vorliegen eines Pareto-Optimums. Ziel einer wohlfahrtsökonomisch fundierten Ordnungs- und damit auch Verbraucherpolitik muss es somit sein, unabhängig von Verteilungsüberlegungen, für die andere Politikteile zuständig sind, einen gesamtwirtschaftlich effizienten Zustand der Volkswirtschaft im Sinne eines Pareto-Optimums herbeizuführen oder sich diesem Instrumenteneinsatz – ausgehend von einem ineffizienten Status quo – anzunähern, d.h. potentielle Pareto-Verbesserungen im Sinne des Hicks-Kaldor-Kriteriums herbeizuführen. Versagen private Märkte vor der Aufgabe, einen pareto-optimalen Zustand der Volkswirtschaft herbeizuführen, so ist ein Staatseingriff zur Korrektur dieses Marktversagens – im Sinne Euckens – „in keiner Weise zu entbehren“.

Dies bedeutet, dass eine wohlfahrtsökonomisch geleitete Verbraucherpolitik primär effizienzorientiert sein sollte in dem Sinne, dass sie sich darauf beschränkt, Marktversagen im Konsumbereich zu korrigieren, und von anderen staatlichen Zielen unabhängig sein sollte. Dabei ist Verbraucherpolitik in ihrem Instrumenteneinsatz nicht isoliert zu betrachten, sondern als Teil eines Gesamtsystems staatlicher Aktivitäten, wobei die allokative Interaktion verbraucherpolitischer Instrumente mit anderen ordnungs- und finanzpolitischen Instrumenten (Steuern, Subventionen, Auflagen etc.) beachtet werden sollte, um eine optimale Systemwirkung des gesamten staatlichen Instrumenteneinsatzes zu erreichen. Der effizienzorientierte Einsatz verbraucherpolitischer Instrumente sollte ferner stets unter dem Primat des unten näher spezifizierten Prinzips der Konsumentensouveränität konzipiert werden.

Effizienzaspekte der Verbraucherpolitik

Im Wesentlichen lassen sich drei große Kategorien von Marktversagen identifizieren, die ein korrigierendes Eingreifen der Verbraucherpolitik notwendig machen: Märkte mit unvollkommener Konkurrenz, das Auftreten von Externalitäten im Konsumbereich und das Problem unvollkommener Information der Verbraucher. Im Folgenden werden wir diese drei Formen von Marktversagen und die optimale Antwort der Verbraucherpolitik kurz betrachten.

Unvollkommene Konkurrenz

Das Problemfeld der unvollkommenen Konkurrenz, d.h. der Ansammlung von Marktmacht auf Anbieterseite, betrifft den viel zitierten „Kampf um die Konsumentenrente“, bei dem die Anbieter im Vorteil sind, da sie aufgrund ihrer Marktmacht den Güterpreis über den Konkurrenzpreis hinaus anheben können. Es ist bekannt, dass alle Abweichungen vom Konkurrenzpreis, die ausschließlich auf Marktmacht der Anbieter zurückzuführen sind, zu gesamtwirtschaftlichen Ineffizienzen bzw. Wohlfahrtsverlusten („Excess Burden“) führen, so dass hier gemäß unseren Vorgaben ein verbraucherpolitisches Eingreifen des Staates notwendig ist.

Bei der Frage, zu wessen Gunsten die Verbraucherpolitik in den „Kampf um die Konsumentenrente“ eingreifen sollte, wird als Entscheidungskriterium typischerweise das Prinzip der Konsumentensouveränität herangezogen, das beispielsweise Vanberg folgendermaßen definiert: „Das Konzept der Konsumentensouveränität … läuft auf die Vorstellung eines wirtschaftlichen Steuerungssystems hinaus, das Konsumentenentscheidungen zu den letztlichen ‚Reglern‘ des wirtschaftlichen Prozesses macht.“2 William Hutt brachte dies mit dem berühmten Satz „As a ‚consumer‘, each directs, as a ‚producer‘, each obeys“3 auf den Punkt. Damit ist klar, dass die Verbraucherpolitik im Fall konfligierender Interessen stets auf der Seite der Konsumenten zu stehen hat.

Bei unzureichender Konkurrenz auf Anbieterseite folgt daraus die Aufforderung an die Politik sicherzustellen, dass Verbraucher auch in solchen Märkten letztlich einen Preis in der Nähe des Konkurrenzpreises zahlen. Bei einem nicht technisch bedingten Monopol, d.h. bei einem reinen Marktmonopol, lässt sich dies durch die Beseitigung von Marktzutrittsbarrieren und die Herstellung intensiverer Konkurrenz im Sinne der Konsumentensouveränität und im Sinne einer Verminderung von Excess Burdens regeln. Bei natürlichen Monopolen mit sinkendem Durchschnittskostenverlauf hingegen, bei denen eine Zerschlagung ökonomisch nicht sinnvoll wäre, wird idealerweise durch geeignete regulierende Eingriffe des Staates, z.B. durch die Bundesnetzagentur, ein Marktpreis in der Nähe des Konkurrenzpreises sichergestellt. Dies betrifft vor allem netzgebundene Produkte wie Strom, Gas, Wasser, Schienentransport oder leitungsgebundene Telekommunikation.

Vor allem die vier erstgenannten Produkte zeigen, dass zumindest in Deutschland entsprechende verbraucherpolitische Staatseingriffe in diesen Märkten bisher nicht zu befriedigenden Ergebnissen geführt haben. Ein Grund hierfür ist – neben der politischen Einflussnahme der betroffenen Unternehmen – die Tatsache, dass die Regulierungsbehörde bei der Setzung ihrer Politikparameter weitgehend auf die durch die Unternehmen bereitgestellten Informationen zu ihren Kostenverläufen, scheinbaren oder wirklichen technischen Notwendigkeiten usw. angewiesen ist. Somit scheitert eine im Euckenschen Sinne wirkungsvolle Intervention der Verbraucherpolitik typischerweise am Problem der zwischen Unternehmen und Regulierungsbehörde bestehenden Informationsasymmetrie und damit an dem typischen Principal-Agent-Problem. Abhilfe könnte die von Ökonomen immer wieder geforderte Trennung der Produktanbieter von ihren Verteilungsnetzen und die Überführung der Netzbetreibung in die Hand wirtschaftlich unabhängiger Unternehmen unter staatlicher Regulierung schaffen. Solange dies nicht geschieht, kann man wohl von einem „Versagen der Verbraucherpolitik“ im Sinne einer systematischen „Ohnmacht der Verbraucherpolitik“ sprechen, wobei guter Rat hier ebensowenig auf der Hand liegt wie beim Beispiel der großen Mineralölfirmen und ihres Preissetzungsverhaltens, das immer wieder den Anschein konzertierten Vorgehens erweckt, wie sich gerade wieder bei der Einführung des neuen „E10“-Treibstoffs zeigt, ohne dass dies bisher eindeutig nachweisbar und sanktionierbar wäre.

Externe Effekte

Ein weiteres Signal für den Einsatz verbraucherpolitischer Staatseingriffe ergibt sich bei Existenz konsumbezogener Externalitäten, wie sie beispielsweise beim Rauchen in der Öffentlichkeit entstehen. Hier „konsumiert“ der Passivraucher Tabakrauch in einem Ausmaß, auf das er selbst keinen Einfluss hat, so dass die Konsummenge von ihm nicht optimal gewählt werden kann. Ursprünglich hatte sich die deutsche Verbraucherpolitik dem Raucherproblem in geradezu lehrbuchhafter Weise genähert, indem sie den Tabakkonsum durch eine Steuer verteuerte und somit ökonomisch unattraktiver machte. Dann allerdings wurden plötzlich administrative Maßnahmen wie das Rauchverbot in Restaurants und öffentlichen Gebäuden eingeführt. Aus der Allokationstheorie ist bekannt, dass Ge- und Verbote zu erheblichen Ineffizienzen im Sinne von Excess Burdens führen, weil sie die Entscheidungsfreiheit der Individuen einschränken, so dass eine individuell optimale Konsumwahl der Raucher nicht möglich ist. Würde man den Rauchern hingegen die von ihnen erzeugten externen Kosten in Form einer Steuer aufbürden, so könnten sie sich in ihrem Konsumverhalten optimal an diese Situation anpassen.

Es stellt sich die Frage, ob mit dem absoluten Rauchverbot wenigstens die Situation der Nichtraucher optimal reguliert wird. Bei einem absoluten Verbot wird implizit unterstellt, dass sich jeder Nichtraucher durch den Rauch anderer so belästigt fühlt, dass er diesen auf einem Niveau von Null (passiv) konsumieren möchte. Umfragen unter Bar- und Kneipenbesuchern zeigen jedoch, dass viele Gäste Zigarettenrauch an solchen Orten in Maßen durchaus als „authentisch“ empfinden und die völlige Rauchfreiheit in ihren Augen zu einer sterilen Atmosphäre führt, welche ihre Freude am Kneipenbesuch mindert.4 Dies illustriert die ökonomische Binsenweisheit, dass die Holzhammermethode des Totalverbots typischerweise zu allokativen Ineffizienzen auf Seiten der Verursacher wie auch der „Erleider“ externer Effekte führt. Daher sollte, wenn immer möglich, zu ökonomischen Instrumenten wie Steuern oder – im Fall positiver Externalitäten – Subventionen gegriffen werden. Nur falls „Gefahr im Verzug“ ist und eine schnell und zielgenau wirkende Korrektur einer Externalität (wie im Fall der FCKW-Reduktion) notwendig wird, sollten Ge- und Verbote in Erwägung gezogen werden.

Ein anderes aktuelles Beispiel aus dem Bereich der Externalitäten, das in geradezu grotesker Weise jeder ökonomischen Vernunft widerspricht, ist das Verbot traditioneller Glühbirnen und ihr Ersatz durch Energiesparlampen. Hier sollten eigentlich intergenerationale Externalitäten internalisiert werden in dem Sinne, dass heute lebende Generationen bei ihrer Konsumwahl die Kosten berücksichtigen, die sie (durch ihren Beitrag zur Klimaerwärmung) zukünftigen Generationen aufbürden. Was wäre hier naheliegender, als ihnen diese Kosten beim Glühbirnenkauf in Form einer entsprechenden „Ökosteuer“, die sich in anderen Bereichen bewährt hat, in Rechnung zu stellen, zumal eine solche Steuer noch den angenehmen Nebeneffekt hat, ein Steueraufkommen zu generieren, das der Staat im Sinne einer doppelten Dividende der Bevölkerung (und zwar der heute lebenden) wieder zugute kommen lassen kann?

Hier drängt sich der Verdacht auf, dass die Verbraucherpolitik in Deutschland an der einen oder anderen Stelle durchaus zur Bevormundung der Bürger neigt: Während einerseits die von Kinderspielplätzen, Bolzplätzen etc. ausgehende Externalität „Lärm“, obwohl sie viele Anwohner erheblich stört, politisch als „gut“ definiert und in der Folge durch die Gesetzgebung sogar gefördert wird, wird dem Tabakrauch oder der Glühbirne vom Staat nicht nur das Etikett „schlecht“ verpasst, sondern hier wird der entsprechende Konsum zwangsweise gleich auf Null reduziert. Eine solche paternalistische Politik ist ökonomisch ineffizient und widerspricht zudem dem Prinzip der Konsumentensouveränität.

Unvollständige Verbraucherinformationen

Eine weitere Quelle von korrekturbedürftigem Marktversagen im Konsumbereich ist das Fehlen vollständiger und zutreffender Informationen der Verbraucher zu den Eigenschaften der von ihnen konsumierten Produkte, woraus dann „falsche“ Konsumentscheidungen resultieren, die zu nicht pareto-optimalen Marktergebnissen führen, so dass auch hier ein Anlass für ein Eingreifen der Verbraucherpolitik gegeben ist.

Die Gründe für unvollständige Verbraucherinformationen sind ebenso vielfältig wie die möglichen verbraucherpolitischen Eingriffe zu ihrer Korrektur. Zum einen kann es sein, dass Unternehmen entscheidende Informationen zu ihren Produkten den Verbrauchern nicht zur Verfügung stellen. Hier kann die Verbraucherpolitik die Unternehmen zur Herausgabe der entsprechenden Informationen zwingen, was in der Praxis auch geschieht. Komplizierter ist die Lage, wenn die für die Konsumentscheidung notwendigen Informationen für die Verbraucher zwar verfügbar sind, von ihnen aber z.B. aufgrund intellektueller Defizite nicht hinreichend verarbeitet werden können. Hier kann der Staat natürlich eine geeignete Informationsaufbereitung durch die Unternehmen erzwingen, die es dem durchschnittlichen Konsumenten bei vertretbarem Aufwand erlaubt, einen für seine Konsumentscheidung hinreichenden Informationsstand zu erreichen, oder er kann eine solche konsumentengerechte Informationsaufbereitung durch Verbrauchervereinigungen oder Beratungsstellen finanziell fördern. Ein Teil der Bevölkerung wird allerdings auch in diesem Fall von den für eine optimale Konsumwahl notwendigen Informationen ausgeschlossen sein, z.B. weil er den zur Aufnahme dieser Informationen notwendigen kognitiven oder zeitlichen Aufwand scheut. Hier stellt sich nun wieder die Paternalismusfrage: soll der Staat jeden Verbraucher „seines Glückes Schmied“ sein lassen und ihm eine eigenständige Produktprüfung auf der Basis der ihm verfügbaren Informationen zumuten oder soll er als „Vater Staat“ auftreten und den Konsumenten durch gesetzliche Mindestqualitätsstandards, gesetzliche Gewährleistungsauflagen für Unternehmen etc. einen Großteil der Verantwortung für ihre Konsumwahl abnehmen?

Im Falle sogenannter Suchgüter, bei denen durch entsprechendes Bemühen und entsprechenden zeitlichen und kognitiven Einsatz der Konsumenten eine optimale Konsumwahl möglich ist, ist eine Bevormundung der Verbraucher durch hohe und damit kostentreibende Mindestqualitätsstandards und umfassende Gewährleistungsregelungen aus allokationstheoretischer Sicht nicht optimal. Die „reine Lehre“ würde den Konsumenten hier die Entscheidung des Trade-offs zwischen Suchkosten (im weitesten Sinne) einerseits und der Qualität ihrer Konsumwahl andererseits selbst überlassen und dabei riskieren, dass sie aus Bequemlichkeit falsche Entscheidungen treffen. Der fürsorgliche Vater Staat hingegen nimmt seinen Bürgern das Entscheidungsrisiko und die Informationskosten ab, indem er hohe Produktstandards fordert und dabei in Kauf nimmt, dass durch die mit einer solchen Politik verbundenen höheren Preise einkommensschwache Verbrauchergruppen vom Konsum der betreffenden Güter ausgeschlossen sind. Ein bekanntes Beispiel hierfür bieten die deutschen Sicherheitsvorschriften im Baugewerbe, die deutlich schärfer sind als in Nachbarländern und damit das Wohnen im eigenen Heim für viele Bürger unerschwinglich machen. Eine Entschärfung dieser Vorschriften würde weiteren Bevölkerungsschichten den Weg zum Wohneigentum ebnen, ohne gleich „einstürzende Neubauten“ zu provozieren, wie das Beispiel der Niederlande zeigt.

Eine Verbraucherpolitik, die den Bürgern mehr Eigenverantwortung zutraut, würde es ihnen ermöglichen, ihrer Risikoneigung und ihren persönlichen Lebensumständen entsprechend höhere Risiken bei niedrigeren Produktpreise einzugehen, so lange sie dies bewusst und bei voller Aufklärung tun, und damit „passgenauere“ und damit effizientere Konsumentscheidungen gestatten. Dies gilt nicht nur für Suchgüter, sondern auch für Erfahrungsgüter, solange die Konsumenten von den Erfahrungen anderer z.B. durch Verbraucherverbände, Verbraucherforen, Beratungsstellen etc. profitieren können. Und auch bei Vertrauensgütern sollte der Konsument letztlich die Chance haben, seine persönliche Risikoneigung (und nicht die des Staates) in seine Konsumentscheidungen einzubringen. Gesetzliche Mindeststandards würden sich dann auf die Abwehr unmittelbarer Gefahren für Leib und Leben beschränken. Der rundum „gepamperte“ Bürger, der sein gesamtes Lebensrisiko an den Staat abgibt, ist ökonomisch und ethisch eine Schreckensvorstellung, die zudem jeder Nachhaltigkeit entbehrt, da er durch diese Rundumversorgung seine Fähigkeit zum eigenverantwortlichen Umgang mit Risiken verliert und seinem Schicksal willenlos ausgeliefert ist, sobald er doch einmal in eine Lücke staatlicher Fürsorge gerät.

Effizienzorientierte Verbraucherpolitik für mündige Bürger

Zusammenfassend plädieren wir für eine weniger paternalistische Verbraucherpolitik, die sich weitgehend an den tatsächlichen Präferenzen der Bürger orientiert und die sich bei dem Einsatz ihrer Instrumente konsequent von Effizienzüberlegungen leiten lässt, was u.a. impliziert, dass sie ökonomischen Instrumenten wie Steuern und Subventionen im Zweifelsfall den Vorzug vor Command-and-Control-Maßnahmen wie Auflagen und Verboten gibt. Eine stärkere Berücksichtigung verhaltenswissenschaftlicher Ansätze bei der Konzipierung verbraucherpolitischer Maßnahmen kann künftig einem noch zielgenaueren Einsatz dieser Instrumente dienen.

  • 1 Vgl. W. Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Aufl., Tübingen 1952/1990, S. 348.
  • 2 Vgl. V. Vanberg: Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik, in: ORDO, 48. Jg. (1997), S. 720.
  • 3 Vgl. W. H. Hutt: Plan for reconstruction – A project for victory in war and peace, London 1943, S. 257 f.
  • 4 Vgl. die repräsentative Studie zu Regulierungsoptionen von K.-H. Reuband: Rauchverbote in Kneipen und Restaurants. Reaktion der Bürger und der gastronomischen Betriebe – das Beispiel Düsseldorf, in: Neue Praxis, 6/2008, S. 645-650; sowie zur Heterogenität an Einstellungen: V. Benning et al.: Argumentationsanalyse von Kommentaren in einem Forum der BBC zum Rauchverbot, in: L. Behrens, F. Stieghorst (Hrsg.): Argumentieren im Internet, Arbeitspapier Nr. 56, Institut für Linguistik, Abteilung Allgemeine Sprachwissenschaft, Universität zu Köln, 2010, S. 115-185.

Zwischen Eigenverantwortung und Schutz der Verbraucher: Platz für neue Instrumente der Verbraucherpolitik

Information, Selbstverpflichtung, Verbot – das ist ein gängiger Dreiklang der deutschen Verbraucherpolitik, wenn es darum geht, auf Marktmissstände zu reagieren und Verbraucher für die globalisierte Marktgesellschaft fit zu machen. Den Markt und den Verbraucher gibt es aber nicht. Beides ist vielschichtig, entwickelt sich laufend fort und verlangt keine statischen, sondern situationsangepasste Antworten. Ein Update des Arsenals der verbraucherpolitischen Maßnahmen ist daher überfällig.

Die Instrumente gehören auf den Prüfstand

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen der letzten 20 Jahre haben die Marktbeziehungen und das Handlungsumfeld für Verbraucher tiefgreifend verändert. Umwälzungen in der globalen politischen und wirtschaftlichen Ordnung, die Liberalisierung und Deregulierung in ehemals staatlichen Monopolmärkten der Daseinsvorsorge und die Dynamik bei den Informationstechnologien haben die Welt, in der Verbraucher sich kompetent bewegen und entscheiden sollen, vielfältiger und komplexer gemacht. Verbraucher stehen vor anspruchsvollen Entscheidungs- und Handlungssituationen und müssen mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Der Rückgriff auf die Tugenden der klugen Hausfrau oder der Verweis auf den mündigen Verbraucher greift an diesen Stellen ohne Frage zu kurz. Die Annahme vom stets streng rational handelnden homo oeconomicus, der wie ein Computer Unmengen an Informationen verarbeiten kann, ist „schon vor längerer Zeit von der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung erschüttert worden“, konstatiert der Wissenschaftliche Beirat des Bundesverbraucherministeriums.1 Insbesondere die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie verdeutlichen, „dass umfassende, transparente und neutrale Informationen alleine nicht ausreichen, um Wettbewerb zu garantieren.“2

In der anwendungsorientierten Konsumforschung und im Marketing ist das längst bekannt: Verbraucher treffen real weit weniger perfekte Entscheidungen als theoretisch angenommen wird – und politisch erwünscht ist. Bei der Absatzförderung wissen Anbieter sehr genau, auf welche Einflussfaktoren zu setzen ist und nutzen die „power of the situation“ und Techniken des Peer-to-peer-Marketings in sozialen Netzwerken. Die Umsetzung dieser Erkenntnisse spüren wir täglich, sei es im Supermarkt mit seinen „Bückzonen“, „Sonderangebotshindernissen“ und „Parkbereichen für Männer“, sei es im Internet, wo „gefällt mir“-Äußerungen sehr viel stärker kommerziell gesteuert sind, als es vielen Nutzern bewusst ist.

Lässt sich der Verbraucher also nur treiben, verführen – verhält er sich also unvernünftig? Im Gegenteil: Angesichts der Herausforderungen des modernen Verbraucherlebens würde er sich geradezu irrational verhalten, würde er viel Mühe auf eine umfassende Informationsbeschaffung und -sortierung verwenden. Daher verwundern auch die empirischen Befunde nicht, dass sich die meisten Verbraucher auf öffentlich zugängliche Aussagen über Qualität und Preise von Produkten und Dienstleistungen einfach verlassen (wollen), weil sie schlichtweg weder Zeit noch Interesse für den immer aufwändigeren Informationssuchprozess und die Informationsbewertung haben. Mit anderen Worten: „Der mündige Verbraucher in der Praxis ist einer, der sich auf andere verlässt.“3 Er will aus durchaus rationalen Erwägungen heraus ein vertrauender Verbraucher sein.

Damit steht die Information als Premium-Mittel der Verbraucherpolitik auf dem Prüfstand. Verhaltenswissenschaftliche und verhaltensökonomische Erkenntnisse weisen vielmehr darauf hin, dass im Konsumalltag weitere Maßnahmen entwickelt und gefördert werden müssen, die ergänzend neben Information und Transparenz treten. Konkret geht es also z.B. um die Frage, in welchen Situationen der Wunsch des „vertrauenden Verbrauchers“ durch (gesetzlich regulierte) Voreinstellungen umgesetzt werden kann – etwa beim Datenschutz, aber auch in Märkten der Daseinsvorsorge (Gesundheit und Pflege, Alterssicherung). Gekoppelt werden müssten solche Lösungen selbstverständlich immer an die Möglichkeit des Individuums, sich auch gegen diese Voreinstellung zu entscheiden.

Auch die Frage, wie wirksam freiwillige Selbstverpflichtungen unter den teilweise harten Bedingungen des Wettbewerbs sein können, drängt sich im Angesicht von andauernden Problemen z.B. im Umgang mit Verbraucherdaten (der neuen Währung des Internets) auf und ist bislang nicht zufriedenstellend beantwortet. Wie wenig Verbote ohne eine Ausstattung mit den notwendigen Mitteln zur Kontrolle und Rechtsdurchsetzung nutzen, hat noch zu Beginn des Jahres der Dioxin-Skandal drastisch vor Augen geführt.

Wenn verbraucherpolitische Maßnahmen darauf aufbauen, dass andere Faktoren als Information und Wettbewerb mit in den Blick genommen werden, kann das Instrumentarium erfolgreich erweitert werden. Insbesondere die Frage nach dem „Weg vom Wissen zum Handeln“ und die Suche nach Faktoren, mit deren Hilfe Eigeninitiative stimuliert werden kann, werden dabei auch einen Mehrwert für andere Politiken haben.

Vor allem geht es aber darum, mehr Erkenntnisse über den richtigen situativen Einsatz eines Mittels und seine Folgewirkungen zu sammeln und zu berücksichtigen.

Erfolgreiche Verbraucherpolitik fußt auf gründlicher Analyse

Die Komplexität der Märkte und die Heterogenität der Verbraucher mit ihren individualisierten Lebensstilen fordern die Verbraucherpolitik ganz anders heraus. Will sie erfolgreich und nachhaltig sein, muss sie sich sehr viel differenzierter mit den Fragen auseinandersetzen, in welcher Situation und in welchem Markt welche Register staatlichen Handelns gezogen werden sollten – und welche Auswirkungen das jeweils auf die Entwicklung von Wirtschaft, Gemeinwesen und Demokratie haben könnte. Das „richtige“ verbraucherpolitische Eingreifen des Staates lässt sich immer nur situativ und mit Blick auf die Einflussfaktoren und Wirkungszusammenhänge beantworten.

Dafür brauchen die politischen Akteure eine breitere Entscheidungsgrundlage als bisher, sprich mehr Evidenz, Szenarien und Wirkungsanalysen. Eine zeitgemäße, moderne Verbraucherpolitik braucht zur Bewertung von Lösungsvorschlägen und als Grundlage für situations- und zielgruppengerechte Entscheidungen die Unterstützung durch die verbraucherbezogenen Wissenschaften. Erst mit einem solchen Fundament kann auf der Klaviatur der angemessene, passende verbraucherpolitische Ton angeschlagen werden.

Aber genau an dieser Stelle ist das Instrument noch nicht richtig gestimmt. Die Politik fragt zwar zunehmend Evidenz, Analysen und Argumente nach, um ihre verbraucherpolitischen Positionierungen auf breiterer Grundlage abzuleiten. Aber bei der Bereitschaft, sich stärker an den Lebenswirklichkeiten der Verbraucher zu orientieren, auf analytische Vorgehensweisen einzulassen und eine differenziertere verbraucherpolitische Programmatik zu entwickeln, ist noch viel Luft nach oben – was sicherlich auch der Logik und Schnelllebigkeit des Politikbetriebs geschuldet ist.

Zugleich kann die Verbraucherforschung noch nicht alle Erkenntnisse liefern, die die politische Entscheidungsfindung unterstützen würde – vor allem nicht in der für den Politikbetrieb geltenden Zeitmessung. Das hängt wiederum mit einer Schieflage bei der Förderung der Verbraucherwissenschaften zusammen. Während beispielsweise das Bundesverbraucherministerium in diesem Jahr einen Wissenschaftsförderungstopf von 340 Mio. Euro für die Bereiche Pflanzenbau und -schutz, Bodenkunde, Tierernährung, Sicherheit von landwirtschaftlichen Erzeugnissen der Primärproduktion sowie Agrar- und Forstwirtschaft hat, stehen – und auch das nur theoretisch – 8,5 Mio. Euro für die verbraucherbezogene Forschung (Verhaltens-, Instrumenten- und Institutionenforschung) zur Verfügung. Nicht anders sieht es beim Bundesforschungsministerium aus. Ein Programm für eine verbraucherbezogene Forschungsagenda im Forschungsförderungsplan? Fehlanzeige.

Das vom Bundesverbraucherministerium jetzt erstmals in Auftrag gegebene Gutachten zur Lage der Verbraucher in Deutschland und die Einrichtung der neuen Stiftungsprofessur für Verbraucherrecht an der Universität Bayreuth sind wichtige, aber eben auch nur erste Schritte auf einem lange vernachlässigten Weg.

Um der Querschnittsaufgabe der Verbraucherpolitik gerecht zu werden – sie ist nämlich z.B. zugleich Wirtschaftspolitik von der Nachfrageseite und Sozialpolitik – und entsprechenden Einfluss auf die damit zusammenhängenden gesellschafts- und wirtschaftspolitischen Diskurse zu nehmen, muss der Förderung der Verbraucherforschung mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Politik und Wissenschaft müssen sich auch in der Verbraucherpolitik annähern

In der Wirtschafts- und Sozialpolitik gehören wissenschaftlich fundierte Situationsbeschreibungen, Markt- und Wettbewerbsanalysen sowie Wirkungsanalysen zur Tagesordnung. Diesen Weg muss die Verbraucherpolitik ebenfalls beschreiten. Die Zeit für holzschnittartige Zielvorgaben und Festlegungen ist vorbei. Auch verbraucherpolitische Entscheidungen müssen auf der Grundlage einer analytischen Prüfung relevanter Indikatoren gefällt werden. Verbraucherpolitik und Verbraucherwissenschaften müssen kommunizierende Röhren werden.

Dabei sollen und können die unterschiedlichen Ansprüche von Politik und Wissenschaft, ihre unterschiedlichen Handlungslogiken und Sprachen nicht übersehen werden. Um aber die Aufgeschlossenheit und Verständigung beider Seiten zu verbessern und damit das Potential der Verbraucherforschung für die Politikberatung zu nutzen, sind drei erste Schritte sinnvoll:

  1. Der Aufbau eines „Sachverständigenrates für Verbraucherfragen und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik“,
  2. die Entwicklung einer verbraucherbezogenen Forschungsagenda durch das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie die Bereitstellung von mehr Forschungsförderungsmitteln für anwendungsbezogene und Grundlagenforschung in besonders problematischen Märkten,
  3. die Stärkung der Vernetzung der unterschiedlichen Disziplinen der Verbraucherwissenschaften durch materielle und koordinierende Unterstützungsmaßnahmen.

Die stärkere Evidenz- und Wissenschaftsorientierung ist bei der Frage „Wie viel Staat braucht der Verbraucher? Verbraucherpolitik zwischen Eigenverantwortung und staatlicher Fürsorge“ natürlich nur ein Element. Auf dem diesjährigen Deutschen Verbrauchertag am 25. Mai 2011 in Berlin lädt der Verbraucherzentrale Bundesverband die Akteure in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft dazu ein, über diese Fragen zu diskutieren.

* Der Beitrag basiert auf der Stellungnahme des vzbv in der öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz zum Thema „Moderne verbraucherbezogene Forschung ausbauen – Tatsächliche Auswirkungen gesetzlicher Regelungen auf Verbraucher prüfen“ (Bundestagsdrucksache 17/2343) am 19. Januar 2011.

Verbraucherforschung für eine rationale Politikgestaltung

Der jüngste Dioxinskandal bei Futtermitteln machte den Verbrauchern die systemischen Zusammenhänge in der Lebensmittelproduktion deutlich. In der Reihe der Ereignisse wurde bezweifelt, dass die Verbraucherpolitik in der Verteidigung des Verbraucherinteresses standfest ist, denn es wurde vermutet, dass rigide Vorschriften für die Landwirtschaft und den Ernährungssektor fehlen. Mehr noch führte die um die Dioxinkrise entbrannte Diskussion dem Verbraucher mehr als zu anderen Zeiten vor Augen, unter welchen Bedingungen Lebensmittel hergestellt werden. So wurde in gewisser Weise das gesamte Produktionssystem der Land- und Ernährungswirtschaft ins Scheinwerferlicht gestellt.

Obwohl der systemische Ursprung vieler Lebensmittelskandale bekannt ist, verbleibt die Verbraucherpolitik in ihren Ansätzen oftmals partiell. So wird auf der einen Seite der Verbraucherschutz betrachtet. Regeln und Vorschriften werden erlassen, die die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Lebensmittel sicherstellen sollen. Auf der anderen Seite betrachtet die Verbraucherpolitik den Verbraucher als Person, deren Mündigkeit im Marktgeschehen durch Information und Aufklärung gestärkt werden soll. Eine moderne Verbraucherpolitik sollte beide Ansätze stärker integrieren, um somit ein angemessenes Verbraucherschutzniveau möglich zu machen und dabei die Eigenverantwortlichkeit der Verbraucher zu respektieren. Eigenverantwortung setzt voraus, dass der Verbraucher ausreichend informiert ist bzw. sich ausreichend und effektiv informieren kann und nicht mutwillig getäuscht wird.

Infolge der unterschiedlichen Lebensmittelskandale der vergangenen Jahre, insbesondere der BSE-Krise, reagierte die Politik mit unterschiedlichen Maßnahmen, wie der Förderung des organischen Landbaus und einer Vereinheitlichung der Kennzeichnung für Produkte, die dieser Produktionsweise entstammen, der Fortentwicklung des Lebensmittelmonitorings, das nun auch auf Dioxinrückstände ausgedehnt werden soll, der Einführung von öffentlichen und privaten Zertifizierungssystemen und der Stärkung einer risikoorientierten Lebensmittelüberwachung. Im Hinblick auf den Verbraucher setzt die Politik auf Informationsinstrumente und definiert die zur Verfügung zu stellende Information in Bezug auf deren Art, Inhalt und Form. Gleichzeitig definiert sie, ob Angaben freiwillig gemacht werden dürfen oder diese unbedingt erfolgen müssen bzw. ob bestimmte Informationen z.B. wegen der Gefahr der Irreführung zu unterlassen sind. Seit dem im Jahr 2000 veröffentlichten Weißbuch zur Lebensmittelsicherheit betrachtet die Verbraucherpolitik in der Europäischen Union und in Deutschland den Lebensmittelsektor in einem integrativen Ansatz vom Erzeuger zum Verbraucher (from the farm to the fork). Eine verstärkte Betrachtung der Struktur des Ernährungssektors und eine ökonomische und/oder verhaltenswissenschaftliche Fundierung der Regulierungsmaßnahmen würden diesen Ansatz weiter stärken.

Die Wertschöpfungskette für Lebensmittel ist nicht linear

Durch die Veränderungen an den Märkten, die Globalisierung und neue Informationstechnologien wurde die Herstellung von Lebensmitteln starken Veränderungen unterworfen, und die Land- und Ernährungswirtschaft hat sich in ein weit verzweigtes Netzwerk entwickelt. Jean Kinsey spricht in diesem Zusammenhang von einem Food Web.1 In einem solchen Netz treten systemische Risiken auf, wie sie auch in anderen Sektoren, wie z.B. dem Bankensektors, dem Energiesektor oder dem Versicherungssektor bekannt sind. Systemische Risiken sind dann relevant, wenn ein ganzes System aufgrund der Art, in der einzelne Systemkomponenten oder Akteure miteinander vernetzt sind, zu versagen droht. Ein gutes Beispiel ist der im Rahmen der Finanzkrise diskutierte Bank Run. Fürchten die Anleger einer Bank deren Insolvenz und versuchen darum in großer Eile ihre Einlagen bei der Bank zurückzugewinnen, so wird diese Bank, die tatsächlich nur einen Teil der Einlagen als Bargeld vorhält, in die Insolvenz geführt.

Solche systemischen Risiken sind auch dem modernen Lebensmittelsektor systemimmanent. Gemeinsam mit Koautoren habe ich an anderer Stelle eine Klassifikation entwickelt.2 Darin wird deutlich, dass unterschiedliche Ursachen die Quelle solcher Risiken sein können.

  • So entstehen Risiken aufgrund der Systemtopologie, d.h. durch die Anordnung und das Zusammenwirken einzelner Betriebe und Unternehmen in der Lebensmittelherstellung. Bei Versagen an einzelnen Stellen, z.B. eines einzelnen Betriebes in der Land- und Ernährungswirtschaft, kann entweder durch fehlende Information oder durch eine starke Vermischung und Weiterverbreitung einzelner Teilprodukte das gesamte System in Gefahr geraten. Bei der jüngsten Dioxinkrise war beides der Fall: Auf Basis vorliegender privater Testergebnisse wurde nicht gehandelt (mangelnde Informationsweiterleitung) und die weitläufige Verbreitung der Futterfette in der Weiterverarbeitung führten zum bekannten Ausmaß des Vorfalls.
  • Eine weitere Quelle systemischer Risiken sind Misstrauen in die Kommunikation, z.B. beim Verbraucher aber auch zwischen den implizierten Unternehmen, sowie Misstrauen in den Herstellungsprozess der Lebensmittel insgesamt und in die Aufsicht durch die relevanten Behörden.
  • Drittens führt asymmetrische Information zwischen den an der Produktion beteiligten Unternehmen zu einem Mangel an Anreizen, um im ausreichenden Maße Vorsorgemaßnahmen zur Qualitätssicherung innerhalb der Wertschöpfungskette zu treffen.
  • Schließlich ist es von Bedeutung, für Krisenfälle hinreichend vorzusorgen, um schnell intervenieren zu können. In dieser Hinsicht hat die Europäische Union das Schnellwarnsystem RAPEX für Konsumgüter (ohne Lebensmittel) und das System RASFF für Lebensmittel und Futtermittel entwickelt.

Lebensmittelkontrolle wirkt reaktiv

Die deutsche Lebensmittelkontrolle agiert auf Basis von Betriebskontrollen sowie Entnahme und Kontrolle von Produktproben, welche im Fall der Beanstandung oder Feststellung von Verstößen durch die Verhängung von Maßnahmen ergänzt werden. Im Falle eines Verstoßes lassen sich präventive Maßnahmen zur Gefahrenabwehr, z.B. durch das Verbot des Inverkehrbringens, von repressiven Maßnahmen, die Verstöße der Vergangenheit beispielsweise durch Bußgeld ahnden, unterscheiden. Darüber hinaus kann die Lebensmittelkontrolle auch proaktiv wirken, indem sie den Unternehmen Anreize stellt, damit diese zur Gewährung der Lebensmittelsicherheit entsprechende Vorkehrungen ergreifen. Analysen haben jedoch gezeigt, dass die amtliche Lebensmittelkontrolle vor allem reaktiv auf das System wirkt und nicht proaktiv die Vorsorge fördert.3 Somit werden zwar Probleme, wie mangelnde Hygiene aufgedeckt und diese dann behoben. Anreize zur Vorkehr werden dadurch aber nur begrenzt geschaffen.

Systemorientierten Ansatz der Verbraucherpolitik weiter ausbauen

Die Betrachtung von systemischen Risiken kann dabei unterstützen, Verbraucherpolitik effektiver zu gestalten. So kann auf den komplexen Verbundcharakter reagiert werden, indem das System in in sich geschlossene Einzelsysteme aufgebrochen wird. Somit wird das Ausmaß potentiellen Systemversagens eingedämmt. In diesem Rahmen ist die Trennung von Futterfett- und Industriefettherstellern ein wichtiger Schritt. Weiter auszubauen ist auch der Informationsfluss. Damit zusätzliche Informationen effektiv sein können, hat der Gesetzgeber hier auf eine Normierung der Informationsform zu achten. Zuviel an Information oder mehrdeutige Information aufgrund mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse kann die Lage verkomplizieren, anstatt Probleme zu lindern. Insofern können auch manche Tendenzen, den Verbraucher mit vermehrter Informationsgabe zu versorgen, aber in der Entscheidung alleine zu lassen, kontraproduktiv sein. Integrierte Qualitätssicherungssysteme mit geeigneten Informationsplattformen helfen ebenfalls in Krisensituationen zu intervenieren.

Viel wichtiger ist es aber, dass auf veränderte Qualitätsparameter besser und schneller reagiert werden kann. Beispiele im Fleischsektor sind die Informationsplattformen IT FoodTrace oder qualifood. Diese haben das Ziel, Informationen aus den Qualitätsprogrammen an alle Kettenbeteiligte widerzuspiegeln, so dass das Qualitätsmanagement bei den einzelnen beteiligten Akteuren entsprechend reagieren kann. In Bezug auf den Verbraucher muss allerdings gesehen werden, dass detaillierte Informationen zur Produktherstellung und -geschichte nur begrenzt genutzt werden und auch nur begrenzt nutzbar sind. Der Verbraucher möchte sich lieber auf eine effektive (staatliche) Kontrolle verlassen, als den Eindruck haben, selbst kontrollieren zu müssen. Weiterhin muss bei der Schaffung von privaten Qualitätssicherungs- und Zertifizierungssystemen auf die Anreize der Zertifizierer und somit auch auf eine geeignete Überwachung dieser privaten Kontrollmaßnahmen geachtet werden.

Eine stärkere Integration und Koordination der Lebensmittelproduktionskette kann auch dabei helfen, Anreize zur Qualitätssicherung zu stärken, da somit das Ausmaß von Haftungsfällen und der potentielle Reputationsverlust des Leaders in der Kette größer ist. Verbraucher stehen solchen Integrationsbemühungen jedoch häufig skeptisch gegenüber. Dabei wird oft verkannt, dass das Idealbild des kleinen Landwirts oder Lebensmittelherstellers bei weitläufig verzweigten Produktionssystemen nur dann trägt, wenn auch die Absatzwege kurz und direkt sind. Es ist auch kaum zu unterschätzen, dass sich durch die Veränderung der Produktions- und Informationstechnologien der Ernährungssektor in vieler Hinsicht weiterentwickelt hat. Das betrifft nicht nur Veränderungen der Beschaffungs- und Absatzwege, sondern auch Fragen der Bereitstellung und Beschaffenheit unterschiedlicher Produktionsfaktoren bis hin zur genetischen Vielfalt der Produktionsressourcen, und dies nicht nur im Hinblick auf die Gentechnik, sondern auch in Bezug auf Ressourcen aus der klassischen Züchtung.

Verbesserung einer verbraucherorientierten Politik

Die Verbraucherpolitik hat sich neben dem Verbraucherschutz vor allem mit der Verbesserung der Informationslage der Verbraucher auseinandergesetzt. Nicht nur die Reaktion auf Lebensmittelkrisen durch Kennzeichnungsinitiativen, sondern auch die Diskussion um die Nährwertkennzeichnung als Antwort auf zunehmende Prävalenz von Übergewicht und Adipositas sowie die Entwicklung von Maßgaben für Verbraucherinformationsblätter und Beratungsprotokolle bei Finanzprodukten sind Ausdruck dieser Entwicklung. Es wurde erkannt, dass der Verbraucher, wenn er der zunehmenden Angebotsvielfalt als mündiger Marktteilnehmer gegenüber stehen soll, Informationen zu Produktqualität und -beschaffenheit benötigt, die am Markt allerdings nur unvollständig angeboten wird. In den Diskussionen um Informationspflichten und -möglichkeiten geht die Politik weiterhin davon aus, dass die Information vom Verbraucher vollständig aufgenommen werden kann und sich entsprechend in seinen Handlungen niederschlägt.

Das rationale Handeln des Verbrauchers ist jedoch in unterschiedlicher Hinsicht in Frage zu stellen. Die Verbraucherverhaltensforschung zeigt, dass Information nur begrenzt aufgenommen und verarbeitet wird. Experimente der Verhaltensökonomik haben deutlich gemacht, dass Verbraucherentscheidungen durch verzerrte Wahrnehmung, Voreingenommenheit und Entscheidungsheuristiken systematisch vom rationalen Handeln abweichen. Während diese Ergebnisse bekannt und anerkannt sind, bleibt die Frage, wie Verbraucherpolitik darauf reagieren kann. Die Diskussion von Framing-Effekten zeigt beispielsweise, dass Informationsweitergabe nicht nur berücksichtigen soll, welche Information weitergegeben wird, sondern auch in welcher Form sie weitergegeben wird. Es wird weiterhin debattiert, wo eine rationale Verbraucherpolitik angesiedelt werden soll, wenn denn der Verbraucher selbst nur als eingeschränkt rational betrachtet werden kann. So befassen sich aktuell unterschiedliche Arbeiten der Wohlfahrtsökonomik mit der Frage, welche Schlüsse aus den Beobachtungen der Verhaltensökonomik für die Durchführung von Kosten-Nutzen- und Wohlfahrtsanalysen zu ziehen sind.

Da die Produkt- und Entscheidungsumwelt durch eine enorme Produktvielfalt für den einzelnen Verbraucher sehr komplex geworden ist, ist es umso wichtiger Information zur Verfügung zu stellen, damit der Verbraucher diese Informationsumwelt in seiner Mündigkeit nutzen kann. Über die Art und Weise, wie Information sinnvollerweise dargeboten werden soll, ist jedoch wenig bekannt und die Diskussionen um eine Ampelkennzeichnung bei Lebensmitteln oder auch die Produktinformationsblätter bei Finanzprodukten haben gezeigt, dass die Politik hier nur wenige Grundlagen hat, um diese mit wissenschaftlicher Fundierung zu gestalten. Bei der Ampelkennzeichnung für Lebensmittel ging es darum, einzelne Nährwerte einer normierten Menge gemäß ihres Beitrags zum Tagesbedarf in hoch/mittel/niedrig einzustufen und dies farblich zu kennzeichnen. Während umfassend diskutiert wurde, ob es aus Sicht der Ernährungswissenschaft gerechtfertigt ist, komplexe Information in ihrer Dimensionierung und Skalierung zu reduzieren, gab es nur wenige Aussagen dazu, wie diese Information auf die Entscheidungsfindung des Verbrauchers wirkt. Die Diskussion um die Lebensmittelampel wurde auch auf europäischer Ebene intensiv geführt; es gab jedoch alleine in Großbritannien eine umfassende Studie zur Verbraucherwirkung einer solchen Kennzeichnung.

Verbraucherforschung kann den Prozess der rationalen Politikgestaltung in vieler Hinsicht fördern. Da der Verbraucher jedoch nicht getrennt vom restlichen Wirtschaftssystem zu sehen ist, ist auch hier eine integrierte Betrachtungsweise von Bedeutung. Beispielsweise kann durch systematische Kosten-Nutzen-Analysen von Gesetzesvorhaben auf Basis von Marktdaten und/oder experimentellen Daten eine Versachlichung der Diskussion um strittige Themen wie beispielsweise der Kennzeichnung neuer Technologien und eine Ex-ante-Evaluierung erfolgen. Ebenfalls können Ansätze der Verhaltensökonomik dazu beitragen, die Wirkung von Anreizsystemen bei der Risikovorsorge, sowohl auf Seiten der Unternehmen als auch auf Seiten der Verbraucher, besser zu verstehen. So ist auf Verbraucherseite die Betrachtung von Aspekten der Risikobewertung unabhängig von Möglichkeiten der Risikominderung noch immer eine der größten Herausforderungen. Um solche Ansätze in der Forschung zu verfolgen, ist gleichermaßen der Zugang zu (anonymisierten) Daten beispielsweise der Lebensmittelkontrolle weiterhin ein umfassendes Problem. Schließlich bleibt auch die systematische Einbindung von Erkenntnissen aus der verhaltensorientierten (soziologischen, psychologischen und ökonomischen) Forschung in das Risikomanagement der nachgeordneten Behörden ein Desideratum.

  • 1 J. D. Kinsey: The new food economy: Consumers, farms, pharms, and science, in: American Journal of Agricultural Economics, 83. Jg. (2001), Nr. 5, S. 1113-1130.
  • 2 D. A. Hennessy, J. Roosen, H. H. Jensen: Systemic failure in the provision of safe food, in: Food Policy, 28. Jg. (2003), S. 77-96.
  • 3 I. Lampe: Die Lebensmittelüberwachung in Deutschland. Eine Bewertung auf Basis ökonomischer Modelle und empirischer Analysen, Göttingen 2008.

Die Verbraucherpolitik braucht Pragmatismus statt wirklichkeitsferner Leitbilder

Lebensmittel-Skandale wie jüngst um Dioxin in Hühnereiern machen Schlagzeilen. Und sie wecken den Verdacht, dass die staatliche Verbraucherpolitik ihrem Auftrag nicht nachkommt, die Konsumenten ausreichend vor vermeidbaren Risiken zu schützen. Versäumnisse der Politik gibt es mit Sicherheit, etwa die Duldung einer ineffektiven Selbstkontrolle der Futtermittelindustrie oder die chronische Unterfinanzierung der lokalen Lebensmittelkontrolleure, um nur zwei Punkte zu nennen. Gerade der gesundheitliche Verbraucherschutz, bei dem es um elementare Risiken für Menschen geht, rechtfertigt regulierende Eingriffe in Märkte. Doch die großen Lebensmittel-Skandale überschatten die grundsätzlichen Probleme der Verbraucherpolitik in Deutschland und der Europäischen Union. Denn die meisten Schäden entstehen den Verbraucherinnen und Verbrauchern nicht durch vergammeltes Fleisch oder verseuchte Eier, sondern durch alltägliche, wenig spektakuläre Defizite in Märkten.

In Deutschland, aber auch in der Europäischen Union, wird dabei vor allem auf Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Nachfragern verwiesen: Produkte können nicht systematisch miteinander verglichen werden, wichtige Informationen fehlen, sind zu komplex, oder die Beschaffung der Informationen ist zu teuer für die Konsumenten. Aus diesem Grund kommt Informationsrechten und -pflichten ein zentraler Stellenwert in der Verbraucherpolitik zu. Wenn die Informationslücken erst gestopft sind – so die Annahme –, können die Konsumenten zu ihrem eigenen und zum gesamtwirtschaftlichen Wohl ihre Entscheidungen treffen.

Lektionen aus der Verhaltensökonomie

Die empirische Verhaltensökonomie erschüttert dieses Grundverständnis der Verbraucherpolitik und legt damit auch die Schwachstellen ihres Leitbildes frei.1 Dieses Leitbild ist der „mündige Verbraucher“, der sich informiert, abwägt, beraten lässt und dann kauft. So erstrebenswert das Leitbild als Ideal und so sinnvoll es als theoretischer Ausgangspunkt für wissenschaftliche Modelle ist, so weit ist es von der Wirklichkeit entfernt.

Die meisten Menschen haben weder die Zeit noch die Kompetenzen, Produkte sorgfältig auszuwählen. Hinzu kommen eingefahrene Verhaltensweisen, die der Vorstellung des homo oeconomicus zuwiderlaufen. Denn Menschen handeln häufig routinehaft oder orientieren sich an vorgegebenen Mustern. So hat die Verhaltensökonomie gezeigt, dass Konsumentscheidungen maßgeblich von drei Faktoren abhängen: von wem werden Informationen geliefert, wie werden diese Informationen präsentiert und an welchen vorgegebenen Richtwerten können sich Käufer orientieren. Gut erforscht ist, dass die meisten Menschen die Voreinstellungen (default) bei Kaufverträgen oder der Weitergabe von Daten ungeprüft akzeptieren; wenn Käufer also Klauseln bewusst widersprechen müssen, werden das nur wenige tun. Daher fordern viele Experten, dass etwa im Internet grundsätzlich eine aktive Zustimmung des Kunden erforderlich sein muss, wenn persönliche Daten weitergegeben werden sollen.

Bessere oder mehr Informationen sind also keineswegs der Königsweg, um Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Nachfragern zu verringern. So ist etwa der neuerdings vorgeschriebene „Beipackzettel“ für Finanzprodukte eine grundsätzlich sinnvolle Idee. Doch die grundlegenden Probleme der Beratung, die in erster Linie ein Verkaufsgespräch bleibt, werden damit nicht aus der Welt geschafft. Und Finanzprodukte etwa für die Altersvorsorge mit ihren sehr langen Vertragslaufzeiten sind Kontraktgüter, deren Qualität kaum von den Kunden beurteilt werden kann.

Die Verbraucherpolitik müsste also die unterschiedlichen Gütereigenschaften, Entscheidungssituationen und wirklichen Verhaltensweisen der Verbraucher besser berücksichtigen, anstatt sich an einem abstrakten Leitbild zu orientieren. Dazu müsste sich die Politik auch stärker mit empirischen Entscheidungshilfen beschäftigen, wie sie in anderen Politikfeldern üblich sind.

Mängel in der kollektiven Interessenvertretung

Doch es geht nicht nur um Einzelne und deren Verhalten. Auch die kollektiven Interessen von Verbrauchern müssen in einer leistungsfähigen Marktwirtschaft effektiv vertreten werden. Dies ist eine ebenso wichtige Aufgabe der Verbraucherpolitik wie der gesetzlich verankerte Verbraucherschutz. Denn der Wettbewerb alleine garantiert nicht in jedem Fall funktionierende Märkte. Die Anbieterinteressen sind einzelwirtschaftlich wie verbandlich gut organisiert. Dies gilt nur eingeschränkt für die Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind Verbraucherinteressen allgemeine und damit schwache Interessen, die unter dem Trittbrettfahrer-Syndrom leiden: Andere werden sich schon um meine Interessen kümmern, und dann kommt mir das auch zugute!

Die Repräsentation von Verbraucherinteressen in der Wirtschaftspolitik ist in Deutschland eher schwach. Trotz Stiftung Warentest, trotz Verbraucherzentralen oder privaten Verbraucherorganisationen mangelt es in Deutschland nach wie vor an spezialisierten „watchdogs“, die dauerhaft Märkte aus Verbrauchersicht beobachten, wie das etwa in den USA oder Großbritannien der Fall ist. Angesichts der Konsequenzen der Wirtschafts- und Finanzkrise für Anleger und Verbraucher besitzt die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) immer noch relativ wenig Zuständigkeit für den Verbraucherschutz. Zwar beschäftigt sich auch die BaFin mit Verbraucherbeschwerden. Doch ein klarer gesetzlicher Auftrag fehlt, und das Selbstverständnis der BaFin besteht nicht darin, als Verbraucherbehörde zu agieren.

Als Grund dafür wird häufig die Verschwiegenheitspflicht der BaFin gegenüber den zu beaufsichtigenden Unternehmen ins Feld geführt. Wenn man aber zu enge Bande zwischen Regulierer und Regulierten verhindern will, kann die Verschwiegenheitspflicht kein Argument sein. Wollte die Verbraucherpolitik hier stärker gestalten, könnte sie durchaus darauf drängen, dass Verbraucherinteressen in der BaFin gesondert vertreten werden. Verbraucherschutz-Aufgaben könnten durch die ohnehin zu zahlenden Beiträge der Anbieter mitfinanziert werden.

Auch im Wettbewerbsrecht kommen die kollektiven Interessen der Konsumenten erstaunlicherweise zu kurz. Bislang ist es nur Wirtschaftsverbänden und produzierenden Unternehmen erlaubt, kartellrechtliche Klagen anzustrengen. Doch je nach tatsächlicher Kartellierung und Aufteilung eines Marktes finden sich nur wenige bis gar keine Konkurrenten, die zu einer Klage bereit wären. Zusätzliche Klagemöglichkeiten für Verbraucherverbände könnten somit Verbraucherbelange stärker in den Fokus der Wettbewerbspolitik rücken und damit die Wirksamkeit des Kartellrechts deutlich erhöhen. Die Hürden für einzelne Verbraucher, Schadenersatzansprüche aufgrund wettbewerbswidrigen Verhaltens einzuklagen, sind ohnehin sehr hoch.

Andere, kollektive Rechtsinstrumente sind nur begrenzt effektiv. So ist es Verbraucherverbänden seit der Novellierung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) im Jahr 2004 möglich, mit gerichtlichen Klagen den Gewinn von Unternehmen abzuschöpfen, wenn sie diesen durch vorsätzlich falsche Werbung erzielt haben. Allerdings ist es kaum möglich, den Nachweis zu führen, dass Mehreinnahmen aufgrund eines solchen Verhaltens entstanden sind. Außerdem fließen abgeschöpfte Gewinne grundsätzlich in den Bundeshaushalt. Der finanzielle Anreiz für Verbraucherverbände, solche Klagen anzustrengen, ist also gering.

Die kollektive Rechtsdurchsetzung ist in der Verbraucherpolitik schon seit längerem ein Zankapfel. Die Wirtschaftsverbände rennen vor allem Sturm gegen die mögliche Ausweitung von Sammelklagen, wie sie die Europäische Union plant. Doch die existierenden rechtlichen Möglichkeiten sind bislang nur in Ansätzen dazu angetan, eine Waffengleichheit zwischen Anbietern und Nachfragern herzustellen und damit einen fairen Wettbewerb zu schaffen.2 In einigen europäischen Staaten und auch in Deutschland sind bei der kollektiven Rechtsdurchsetzung Verbandsklagen üblich. Dies ist im Vergleich zum anwaltsdominierten amerikanischen Weg wesentlich berechenbarer und vertrauensfördernder. Hier besteht im deutschen Modell des verbandlich organisierten Verbraucherschutzes noch ein großer Spielraum.

Sozialmärkte als neue Herausforderung

Verbraucherfragen stellen sich aber auch mehr und mehr in der Sozial- und Gesundheitspolitik. Hier sind in den letzten Jahren verstärkt wettbewerbliche Elemente eingeführt worden, sei es im Pflegesektor mit seiner wachsenden Zahl von privat-gewerblichen Anbietern, sei es im Gesetzlichen Krankenversicherungssystem mit der Kassenwahlfreiheit und neuen Wahltarifen. Auch die private Altersvorsorge gehört dazu.

Versicherten und Patienten sind neue Entscheidungsmöglichkeiten eingeräumt worden. Neue „Sozialmärkte“ entstehen, an die sich die Nutzer gewöhnen müssen. Der vielfach kritisierte „Pflege-TÜV“ ist ein Beispiel dafür, welche Rolle die Verbraucherpolitik in diesen neuen Märkten spielen kann. Auch hier findet sich ein klassisches Muster des deutschen Verbraucherschutz-Modells: Es soll Transparenz geschaffen werden, indem wichtige Informationen einheitlich und neutral zur Verfügung gestellt werden, ganz nach dem Vorbild der Stiftung Warentest. Doch wirklich aussagefähige und verlässliche Qualitätskriterien für die Pflege sind wesentlich schwieriger zu ermitteln als bei technischen Produkten. Allerdings lässt sich dieses Problem durch verfeinerte Methoden in den Griff kriegen; der Pflege-TÜV kann in Zukunft durchaus dafür sorgen, dass Anbieter schlechte Noten vermeiden wollen und sich entsprechend verbessern.

Generell sind Gesundheits- oder Pflegemärkte jedoch äußerst komplex und die Verhaltensweisen der Versicherten, der Patienten und ihrer Angehörigen noch einmal anders als in den privaten Gütermärkten. Eine grundsätzliche Idee der Wettbewerbstheorie verfängt gerade auf den Sozialmärkten nicht: Durch Erfahrungen lernen die Kunden, und es reicht, wenn die Anbieter lediglich um wenige gut informierte und versierte Kunden konkurrieren müssen. Nach wie vor sind aber Gesundheitsgüter klassische Vertrauensgüter, deren Qualität kaum von den Betroffenen vorher beurteilt werden kann und auch stark von der individuellen Situation abhängt. Andererseits gibt es durchaus Hinweise, dass der Preis für die Verbraucher eine ebenso zentrale Rolle spielt wie in privaten Gütermärkten. Der große, graue Markt der illegalen Pflege demonstriert vor allem, dass vielen Menschen die Angebote der Altenhilfe zu teuer sind.

Bei Sozialmärkten handelt es sich nach wie vor um „anbieterdominierte“ Märkte. Wo mehr Ärztinnen und Ärzte praktizieren, gibt es zwar prinzipiell mehr Wahlmöglichkeiten, es werden aber auch mehr Leistungen verschrieben, obwohl die Zahl der Patienten wie auch die Zahl der Krankheiten gleich bleibt. Diese „angebotsinduzierte Nachfrage“ lässt sich durch Wettbewerb nicht verhindern, sie verschärft sich eher noch. Eine weitere interessante Erkenntnis aus der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wird bislang in der deutschen politischen Diskussion ignoriert: Je höher die Wahlfreiheit in Gesundheitssystemen, desto stärker die soziale Ungleichheit beim Zugang und in der Versorgungsqualität. Arme, einkommensschwache und bildungsferne Patienten werden dort signifikant schlechter versorgt, wo der Zugang zu Gesundheitsgütern am geringsten reguliert ist.3 Wettbewerb und freie Arztwahl scheinen vor allem der Mittelschicht zu nutzen. Dies ist kein grundsätzliches Argument gegen wettbewerbliche Strukturen in Sozialmärkten. Doch die institutionelle Rahmung und Regulierung des Wettbewerbs ist äußerst anspruchsvoll, wenn Wettbewerb möglichst vielen Patienten nützen soll.

Ähnliches gilt auch für Wahltarife bei gesetzlichen Krankenkassen. Aufgrund ihrer Kompetenzen und ihres besseren Gesundheitszustandes profitieren vor allem „gute Risiken“ aus der Mittelschicht von solchen Instrumenten.4 Dennoch zögern die meisten Versicherten, solche Wahltarife überhaupt in Anspruch zu nehmen. Das liegt hauptsächlich daran, dass weder Transparenz, noch berechenbare Qualität noch standardisierte und damit vergleichbare Produkte ausreichend vorhanden sind. Aber es hat auch mit eingeschliffenen Verhaltensweisen der Versicherten zu tun.

Auch der Markt der privaten Altersvorsorge funktioniert bislang nur bedingt. Diejenigen, die am ehesten auf zusätzliche Altersvorsorge angewiesen wären, schließen am seltensten so genannte „Riester-Verträge“ ab, obwohl die staatliche Förderung bei geringen Einkommen überproportional attraktiv ist. Auch hier verhindern fehlende Produktstandardisierung, große Unübersichtlichkeit und verwirrende Informationen, dass sich selbst gut informierte Verbraucher zurechtfinden können.

Für die Verbraucherpolitik stellen die neuen Sozialmärkte eine große Herausforderung dar, die sie bislang nur halbherzig annimmt. Strategien der Verbraucherbildung und Instrumente des Verbraucherschutzes sehen sich sehr unterschiedlichen Verhaltensweisen und -typen von Verbrauchern gegenüber: gut informierten, weniger gut informierten und einkommensschwachen mit geringen Kompetenzen und Ressourcen. Es kann hier nicht diskutiert werden, inwiefern Wettbewerb bei Kontrakt- und Vertrauensgütern auf Sozialmärkten mit geringer Nachfrageelastizität überhaupt die versprochenen Ziele erreichen kann.

Die empirische Forschung zeigt aber zumindest, dass die wachsende Wahlfreiheit auf den derzeitigen Sozialmärkten die soziale Ungleichheit eher erhöht, was Zugang und Versorgungsqualität betrifft.5 Die Verbraucherpolitik könnte mit intelligenteren Marktdesigns daher zugleich wirtschafts- wie sozialpolitisch sinnvolle Ziele unterstützen.

Unterschiedliche Verbrauchertypen

Intelligentere Marktdesigns alleine sorgen aber noch nicht dafür, dass die Verbraucher ihre für den Wettbewerb so wichtige Nachfragekraft auch entfalten. Dazu sind die Verhaltensweisen zu unterschiedlich, und gerade die „verletzlichen“ Verbraucher verhalten sich häufig passiv. Dies zeigt sich auch in klassischen Gütermärkten. Der Energiemarkt ist ein gutes Beispiel: Auch in Deutschland – repräsentative Studien fehlen bislang – wächst nach allen Erkenntnissen die Zahl einkommensschwacher Haushalte, die mehr als 10% ihres Einkommens für Strom und Heizung ausgeben müssen und dadurch in finanzielle Nöte geraten. Zwar ist inzwischen die Energieberatung nach der Telekommunikation das zweitwichtigste Thema in den Verbraucherzentralen geworden, doch die staatliche Verbraucherpolitik kümmert sich nur wenig um mögliche Lösungsansätze. Heizkostenzuschüsse für Haushalte mit Arbeitslosengeld II sind jedenfalls keine umfassende Lösung. Die Ursachen für „Energiearmut“ sind vielschichtig, entsprechend gibt es keine einfachen Konzepte dagegen. Den Stromanbieter zu wechseln, was immer noch die wenigsten tun, ist jedenfalls kein ausreichender Ansatz in einem nach wie vor wenig effizienten Markt. So wohnen beispielsweise viele einkommensschwache Personen in Gebäuden, die besonders schlecht gedämmt sind.

Mehr Realismus und wissenschaftliche Fundierung

All diese Beispiele zeigen, dass sich die Verbraucherpolitik im Alltagsgeschäft bewähren muss, wenn sie den Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern zur Geltung verhelfen will. Skandale haben dabei ihre ganz eigene Wirkung: Sie werfen Licht in das Dunkel einiger Märkte und eröffnen der Politik damit kurzfristig Handlungsspielräume. Hier werden dann meist schnelle Lösungen gefordert, und der Staat reagiert mit Maßnahmen-Katalogen. Ob alle diese Maßnahmen unter dem Erwartungsdruck der Mediendemokratie wirklich sinnvoll und im Verbraucherinteresse sind, darf durchaus bezweifelt werden. Die größere Herausforderung liegt jedenfalls jenseits solcher spektakulären Fälle, vor allem in den privatisierten Infrastrukturmärkten, im Internet, auf Sozialmärkten und beim Thema „nachhaltiger Konsum“.

Um die anbieterorientierte Wettbewerbspolitik einerseits und die öffentlich-rechtlich organisierte soziale Sicherung andererseits sinnvoll zu ergänzen, müsste die Verbraucherpolitik stärker eigene empirische Bewertungsinstrumente entwickeln. Damit könnten Kosten und Nutzen sowie Verteilungseffekte verschiedener Maßnahmen durchgespielt werden. Da Verhaltensweisen und Verhaltenstypen von Verbrauchern höchst unterschiedlich sind, bedarf es außerdem fallorientierter Strategien. Für beide Vorgehensweisen liefert die Verhaltensökonomie wichtige Einsichten. Der „mündige“ Verbraucher ist ein hehres Ziel. Doch die Verbraucherpolitik sollte sich nicht von Idealen, sondern von realen Problemen leiten lassen.

  • 1 Vgl. L. A. Reisch, A. Oehler: Behavioral economics: eine neue Grundlage für die Verbraucherpolitik?, in: Verbraucherpolitik zwischen Markt und Staat, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Berlin 2009, S. 30-43.
  • 2 Vgl. C. Strünck: Claiming consumers’ rights. Patterns and limits of adversarial legalism in European consumer protection, in: German Policy Studies, 4. Jg. (2008), Nr. 1, S. 167-192.
  • 3 Vgl. C. Wendt: Mapping European Healthcare Systems. A Comparative Analysis of Financing, Service Provision, and Access to Healthcare, in: Journal of European Social Policy, 19. Jg. (2009,) Nr. 5, S. 432-445.
  • 4 Vgl. S. Greß et al.: Kassenwechsel zur Durchsetzung von Versicherteninteressen? Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von GKV-Versicherten, in: Soziale Sicherheit, Nr. 57, 2008, S. 12-17.
  • 5 Vgl. W. Lamping: Verbraucherkompetenz und Verbraucherschutz auf Wohlfahrtsmärkten: Neue Herausforderungen an eine sozialpolitische Verbraucherpolitik, in: Verbraucherpolitik zwischen Markt und Staat, Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung, Berlin 2009, S. 44-62.


DOI: 10.1007/s10273-011-1200-3