Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Die Stimmanteile der Bundesländer im Bundesrat basieren auf einem Stufenmodell in Abhängigkeit von der Einwohnerzahl. Da die Abstimmungsmacht nicht dem relativen Stimmanteil eines Bundeslands entspricht, analysieren die Autoren die Verteilung der Abstimmungsmacht im Bundesrat mit Hilfe von Machtindizes. Sie untersuchen darüber hinaus, wie sich die Abstimmungsmacht verändert, wenn die Abstimmungsregel variiert wird oder es zu Länderfusionen kommt.

Die Abstimmungsmacht eines Bundeslands im Bundesrat hängt nicht nur vom eigenen Stimmanteil ab, sondern auch von denen der anderen Abstimmungsteilnehmer. Ein kleines Beispiel verdeutlicht dies. Besitzt ein Land A in einer Abstimmung 40% der Stimmen und die übrigen Stimmen sind auf unendlich viele andere Länder verteilt, so wird A eine sehr hohe Abstimmungsmacht besitzen. Existiert allerdings nur ein weiteres Land (mit 60% der Stimmen), so ist eine intuitive Vermutung, dass As Abstimmungsmacht gegen null geht, da es in allen Abstimmungen unterlegen ist. Für die konkrete Berechnung der Abstimmungsmacht kann die kooperative Spieltheorie genutzt werden. Zunächst wird dazu das Abstimmungsgremium durch ein gewichtetes Abstimmungsspiel modelliert. Anschließend wird durch die Anwendung eines Machtindexes auf dieses Spiel die Abstimmungsmacht der Akteure bestimmt. Regionale Verbundenheit zwischen Bundesländern, persönliche Freundschaften der regierenden Politiker oder Ähnliches werden dabei ausgeblendet.

Dieser Beitrag verwendet den Shapley-Shubik-, den Banzhaf-Penrose- und den Holler-Machtindex zur Analyse der Abstimmungsmacht im Bundesrat (vgl. auch Kasten 1). [1] Zunächst wird für die einzelnen Bundesländer die Abstimmungsmacht bei der aktuell gültigen Abstimmungsregel im Bundesrat berechnet. Hierbei finden die drei genannten Machtindizes der kooperativen Spieltheorie Anwendung. Anschließend wird untersucht, wie sich eine Änderung der notwendigen Stimmen für die Annahme einer Vorlage auf die Abstimmungsmacht der Bundesländer auswirkt. Insbesondere ist interessant, wie sich die Verteilung der Abstimmungsmacht bei einer erforderlichen Mehrheit (Abstimmungsquote q) von 2/3 von der bei ½ unterscheidet.

Kasten 1
Grundlagen der kooperativen Spieltheorie

Eine zentrale Rolle bei der Modellierung eines Abstimmungsgremiums nimmt die Bestimmung der Koalitionsfunktion v ein. Jedem Abstimmungsteilnehmer i aus N wird ein Stimmgewicht wi zugewiesen. Einer Koalition K (Teilmenge) wird durch v der Wert eins zugewiesen, wenn sie mehr Stimmen auf sich vereinen kann, als nötig sind (notiert mit q > 0), um eine Abstimmung zu gewinnen. Eine solche Koalition wird als Gewinnkoalition bezeichnet. Die Koalitionsfunktion ist gegeben durch (1):


Schaubild

Es existieren 2n mögliche Koalitionen (|N| bzw. n steht für die Anzahl der Spieler in N). Der leeren Koalition wird der Wert null zugewiesen, v({Ø}) = 0. Ein Spiel ist das Tupel (N,v). Beispielhafte Modellierungen von Abstimmungsgremien finden sich bei Bailey und Daws für den UN-Sicherheitsrat, bei Rapoport und Golan, Carreras und Owen sowie Felsenthal und Machover für Parlamente und bei Leech für Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften.1

Das Shapley-Lösungskonzept2 kann aus diesen Informationen die Spieler-Auszahlungen bestimmen. Für die Berechnung sind die Reihenfolgen der Spieler von Bedeutung. Diese werden folgendermaßen notiert: (p1 , p2 ,...,pn ). Dabei steht p1 für den ersten Spieler in der Reihenfolge, p2 für den zweiten, etc. Insgesamt existieren n! Reihenfolgen. In einer bestimmten Reihenfolge p wird die Menge der Spieler bis einschließlich i mit Ki(p) bezeichnet. Die Gesamtheit aller möglichen Reihenfolgen wird mit RF(N) bezeichnet.

Die Idee des Shapley-Lösungskonzepts ist, einem Spieler den Durchschnitt seiner marginalen Beiträge zuzusprechen, die er in allen Reihenfolgen leistet. Die Berechnungsvorschrift lautet (2):

Schaubild

Wird das Shapley-Lösungskonzept auf gewichtete Abstimmungsspiele angewandt, wird es auch als Shapley-Shubik-Machtindex bezeichnet. [3] Die Spieler-Auszahlungen werden dann als deren Abstimmungsmacht interpretiert.

Ein weiterer Machtindex wird von Penrose und Banzhaf vorgeschlagen. [4] Im Gegensatz zum Shapley-Shubik-Machtindex nimmt er keinen Bezug zu den Reihenfolgen der Spieler. Ein Spieler i erhält den Durchschnitt seiner marginalen Beiträge, den er zu allen Koalitionen K mit i∉K leistet, als Abstimmungsmacht zugesprochen. Insgesamt kann i genau 2n-1 Koalitionen beitreten. Die Banzhaf-Penrose-Abstimmungsmacht von i in (N,v) ergibt sich damit als (3):

Schaubild

Da die Summe der Abstimmungsmacht über alle Spieler im Gegensatz zum Shapley-Shubik-Machtindex nicht in jedem Fall eins beträgt, wird für die Berechnung der Abstimmungsmacht der Spieler häufig eine normalisierte Variante des Banzhaf-Penrose-Machtindexes genutzt, (4)

Schaubild

Von Holler sowie Holler und Packel wird ein Machtindex vorgeschlagen, der nach Meinung der Autoren insbesondere für Abstimmungsgremien, in denen über öffentliche Güter entschieden wird, geeignet ist. [5] Sie greifen damit die Ideen von Barry auf. [6] Für die Bestimmung der Abstimmungsmacht der Spieler muss zunächst die Menge der minimalen Gewinnkoalitionen M(N,v) bestimmt werden. Dies sind jene Koalitionen, die den Wert eins erzielen und nach dem Austritt irgendeines Mitglieds nur noch den Wert null zugewiesen bekommen, (5)

Schaubild

Die Abstimmungsmacht eines Spielers i ist dann mit

Schaubild

gleich (6)

Schaubild

Der Wert einer minimalen Gewinnkoalition wird allen Mitgliedern der Koalition gleichermaßen zugeschrieben. Der Wert, den ein Spieler auf diese Weise sammelt, wird durch die insgesamt an die Spieler verteilten Werte dividiert.

1 Vgl. S. D. Bailey, S. Daws: The Procedure of the UN Security Council, 3. Aufl., Oxford 1998; A. Rapoport, E. Golan: Assessment of Political Power in the Israeli Knesset, in: American Political Science Review, 79. Jg. (1985), H. 3, S. 673-692; F. Carreras, G. Owen: Evaluation of the Catalonian Parliament 1980-1984, in: Mathematical Social Sciences, 15. Jg. (1988), H. 1, S. 87-92; D. S. Felsenthal, M. Machover: The Treaty of Nice and Qualified Majority Voting, in: Social Choice and Welfare, 18. Jg. (2001), H. 3, S. 431-464; D. Leech: The Relationship Between Shareholding Concentration and Shareholder Voting Power in British Companies – A Study of the Application of Power Indices for Simple Games, in: Management Science, 34. Jg. (1988), H. 4, S. 509-527.

2 Vgl. L. S. Shapley: A Value for N-Person Games, in: H. W. Kuhn, A. W. Tucker (Hrsg.): Contributions to the Theory of Games, Bd. 2, Princeton 1953, S. 307-317.

3 Vgl. L. S. Shapley, M. Shubik: A Method for Evaluating the Distribution of Power in a Committee System, in: American Political Science Review, 48. Jg. (1954), H. 3, S. 787-792.

4 Vgl. L. S. Penrose: The Elementary Statistics of Majority Voting, in: Journal of the Royal Statistical Society, 109. Jg. (1946), H. 1, S. 53-57; L. S. Penrose: On the Objective Study of Crowd Behaviour, London 1952; J. F. Banzhaf: Weighted Voting Doesn’t Work: A Mathematical Analysis, in: Rutgers Law Review, 19. Jg. (1965), H. 2, S. 317-343.

5 Vgl. M. J. Holler: Forming Coalitions and Measuring Voting Power, in: Political Studies, 30. Jg. (1982), H. 2, S. 262-271; M. J. Holler, E. W. Packel: Power, Luck and the Right Index, in: Journal of Economics, 43. Jg. (1983), H. 1, S. 21-29.

6 Vgl. B. Barry: Is it better to be powerful or lucky? – Part 1, in: Political Studies, 28. Jg. (1980), H. 2, S. 183-194; B. Barry: Is it better to be powerful or lucky? – Part 2, in: Political Studies, 28. Jg. (1980), H. 3, S. 338-352.

Im Anschluss wird für drei Vorschläge zur Neugliederung des Bundesgebiets (Art. 29 GG) ermittelt, wie sich die Abstimmungsmacht der Länder verändert. Das Thema einer möglichen Neugliederung taucht immer wieder in der bundesdeutschen Geschichte auf, so z.B. 1955 mit dem Gutachten des Luther-Ausschusses, [2] 1973 mit dem Abschlussbericht der Ernst-Kommission [3] und in den letzten Jahren im Zuge der Föderalismusreform II. [4] Die hier betrachteten Modelle für eine Neugliederung sind nur ein kleiner Ausschnitt der insgesamt existierenden Vorschläge. Sie umfassen allerdings wichtige Elemente übriger Fusionsmodelle, [5] beispielsweise die Fusion der kleinen Bundesländer und verschiedene Varianten des Zusammenschlusses der norddeutschen Bundesländer. Neugliederungsvarianten, die einen komplett neuen Zuschnitt fast aller Länder vorsehen, beispielsweise jene von Rutz, [6] wurden nicht betrachtet. Diese Vorschläge können nicht Schritt für Schritt realisiert, sondern müssten auf einen Schlag umgesetzt werden. Eine so umfassende Reform scheint wenig realistisch und würde zudem mit einer geänderten Regelung zur Festlegung der Stimmen im Bundesrat (Art. 51 Abs. 2 GG) einhergehen. Bei der gesamten hier präsentierten Analyse wird davon ausgegangen, dass diese Regelung unverändert bleibt.

Analyse der aktuellen Abstimmungssituation

Der Bundesrat bietet den Bundesländern die Möglichkeit bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes sowie in Angelegenheiten der Europäischen Union mitzuwirken. Die Anzahl der Stimmen, die jedem Bundesland in den Abstimmungen zusteht, ist nach einem Stufensystem bemessen, das die Einwohnerzahl der Länder berücksichtigt, ohne sie genau proportional abzubilden. Das Stufensystem ist konkret folgendermaßen gestaltet (Art. 51 Abs. 2 GG): Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als 2 Mio. Einwohnern haben vier Stimmen, Länder mit mehr als 6 Mio. Einwohnern haben fünf Stimmen und Länder mit mehr als 7 Mio. Einwohnern haben sechs Stimmen.

In Tabelle 1 sind die Einwohnerzahlen der einzelnen Bundesländer und ihre sich ergebenden Stimmen im Bundesrat wiedergegeben. Ein Beschluss wird im Bundesrat gefasst, wenn er von der Mehrheit der Stimmen bejaht wird (ausgenommen sind Grundgesetzänderungen, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit verlangen). [7]

Tabelle 1
Relative Stimmanteile der Bundesländer im Bundesrat
Bundesland Einwohner Stimmen absolut Stimmen relativ
Baden-Württemberg 10 749 506 6 0,087
Bayern 12 519 728 6 0,087
Berlin 3 431 675 4 0,058
Brandenburg 2 522 493 4 0,058
Bremen 661 866 3 0,043
Hamburg 1 772 100 3 0,043
Hessen 6 064 953 5 0,072
Mecklenburg-Vorpommern 1 664 356 3 0,043
Niedersachsen 7 947 244 6 0,087
Nordrhein-Westfalen 17 933 064 6 0,087
Rheinland-Pfalz 4 028 351 4 0,058
Saarland 1 030 324 3 0,043
Sachsen 4 192 801 4 0,058
Sachsen-Anhalt 2 381 872 4 0,058
Schleswig-Holstein 2 834 260 4 0,058
Thüringen 2 267 763 4 0,058
Insgesamt 82 002 356 69 1,000

Quelle: Statistisches Bundesamt, Stand 31.12.2008.

Ausgehend von diesen Daten lässt sich für jedes Bundesland die Abstimmungsmacht bestimmen. [8] Tabelle 2 enthält die Abstimmungsmacht nach den verschiedenen Machtindizes, [9] die jeweilige Abstimmungsmacht pro Kopf sowie die Rangfolge der Bundesländer nach ihrer Abstimmungsmacht pro Kopf. Rang 1 beschreibt dabei das Bundesland mit der höchsten, Rang 16 das Bundesland mit der niedrigsten Abstimmungsmacht pro Kopf. Es ist zunächst im Vergleich zu Tabelle 1 zu erkennen, dass die Abstimmungsmacht vom relativen Stimmanteil abweicht. Wird die Abstimmungsmacht ins Verhältnis zu den jeweiligen Einwohnerzahlen gesetzt, zeigt sich, dass die Einwohner kleiner Länder, wie beispielsweise dem Saarland oder Bremen, stark von der Festlegung der Stimmen profitieren. Im Gegenzug sind die Einwohner bevölkerungsreicher Bundesländer unterrepräsentiert. Dies gilt unabhängig vom verwendeten Machtindex. Betrachtet man jedoch die Rangfolgen der Bundesländer, die aus den einzelnen Machtindizes resultieren, so zeigen sich subtile Unterschiede. So tauschen beim Übergang vom Shapley-Shubik- zum Banzhaf-Penrose-Index die Bundesländer Hamburg und Sachsen-Anhalt ihre Plätze. Konkret steigt Hamburg von Rang 6 auf Rang 5 auf, während Sachsen-Anhalt von Rang 5 auf Rang 6 absteigt. Wird an Stelle des Shapley-Shubik- der Holler-Index verwendet, kommt es bei Hamburg (Rang 6 → Rang 4), Sachsen-Anhalt (Rang 5 → Rang 6) und Thüringen (Rang 4 → Rang 5) zu Rangänderungen.

Tabelle 2
Abstimmungsmacht der Bundesländer im Bundesrat
Bundesland Sh Sh/Kopf x 109 Sh-Rang Bz Bz/Kopf x 109 Bz-Rang Ho Ho/Kopf x 109 Ho-Rang
Baden-Württemberg 0,089 8,25 14 0,088 8,21 14 0,064 5,95 14
Bayern 0,089 7,09 15 0,088 7,05 15 0,064 5,11 15
Berlin 0,057 16,68 9 0,057 16,70 9 0,063 18,22 9
Brandenburg 0,057 22,69 7 0,057 22,72 7 0,063 24,78 7
Bremen 0,042 63,97 1 0,043 64,50 1 0,061 92,16 1
Hamburg 0,042 23,89 6 0,043 24,09 5 0,061 34,42 4
Hessen 0,075 12,40 12 0,075 12,37 12 0,063 10,34 12
Mecklenburg-Vorpommern 0,042 25,44 3 0,043 25,65 3 0,061 36,65 3
Niedersachsen 0,089 11,16 13 0,088 11,10 13 0,064 8,04 13
Nordrhein-Westfalen 0,089 4,95 16 0,088 4,92 16 0,064 3,56 16
Rheinland-Pfalz 0,057 14,21 10 0,057 14,23 10 0,063 15,52 10
Saarland 0,042 41,09 2 0,043 41,43 2 0,061 59,20 2
Sachsen 0,057 13,65 11 0,057 13,67 11 0,063 14,91 11
Sachsen-Anhalt 0,057 24,03 5 0,057 24,07 6 0,063 26,24 6
Schleswig-Holstein 0,057 20,19 8 0,057 20,22 8 0,063 22,06 8
Thüringen 0,057 25,24 4 0,057 25,28 4 0,063 27,56 5
Insgesamt 1,000     1,000     1,000    

Anmerkung: Sh = Shapley-Shubik-Index; Bz = Banzhaf-Penrose-Index; Ho = Holler-Index.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Einfluss der Abstimmungsquote

Da je nach Beschlussgegenstand im Bundesrat unterschiedliche Mehrheiten erforderlich sind, empfiehlt es sich, den Einfluss der Quote auf die Abstimmungsmacht der einzelnen Länder in der aktuellen Abstimmungssituation zu analysieren. Da eine Entscheidung über Grundgesetzänderungen eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordert, ist von besonderem Interesse, wie sich die Machtverteilung bei dieser Quote gestaltet. Für die Analyse wird daher in 0,05er-Schritten bei 0,5 beginnend [10] die Abstimmungsmacht der Länder nach dem Shapley-Shubik-Machtindex berechnet. [11] Vorhersehbar ist, dass sich mit steigender Quote die Abstimmungsmacht der Länder angleicht und schließlich bei q = 1 alle Länder über die gleiche Macht verfügen, da sie einstimmig für die Annahme eines Antrags stimmen müssen.

In Abbildung 1 wird die Abstimmungsmacht für jeweils ein Land mit drei, vier, fünf und sechs Stimmen in Abhängigkeit der Quote q dargestellt. Es zeigt sich, dass es bis zu einer Quote von ca. 0,8 kaum zu Veränderungen der Abstimmungsmacht der einzelnen Länder kommt, d.h., auch bei Entscheidungen, für die q = 2/3 gilt, besitzen die Länder eine ähnliche Abstimmungsmacht wie bei q = 0,5. Ab einer Quote von 0,8 findet die Annäherung der Abstimmungsmacht statt, wobei zunächst die Macht der Länder mit fünf und sechs Stimmen zusammenfällt. Anschließend schließen jene Länder mit vier Stimmen auf. Bei q = 1 kommt es zum Ausgleich der Abstimmungsmacht bei einem Wert von 0,0625.

Abbildung 1
Abstimmungsmacht bei variabler Quote
Schaubild

Quelle: Eigene Berechnungen.

Abstimmungsmacht bei Neugliederung ohne kleine Bundesländer

Im Folgenden wird eine Variante der Neugliederung des Bundesgebiets analysiert, die die Fusion der kleinen Bundesländer mit den jeweiligen Nachbarbundesländern vorsieht, d.h. Berlin mit Brandenburg, Hamburg mit Schleswig-Holstein, Bremen mit Niedersachsen und das Saarland mit Rheinland-Pfalz. [12] Diese Fusionen sind jeweils auch Bestandteil der Vorschläge, die anschließend analysiert werden sollen.

Einer Realisation am nächsten kam dabei die Fusion von Berlin und Brandenburg. Sie scheiterte 1996, da die erforderliche Mehrheit bei den Volksabstimmungen nicht zustande kam. [13] Auch wenn derzeit eine Fusion nicht auf der politischen Agenda steht, kooperieren die Länder auf verschiedenen Gebieten und zumindest mittel- bis langfristig ist eine Fusion denkbar. [14] Eine Fusion von Schleswig-Holstein und Hamburg taucht ebenfalls immer wieder in der politischen Diskussion auf, [15] zuletzt bei der Bewältigung der Folgen der Finanzkrise auf die HSH-Nordbank. [16] Mit den Auswirkungen der Fusion auf die öffentlichen Finanzen der beteiligten Länder beschäftigen sich beispielsweise Lammers sowie Büttner und Hauptmeier. [17] Ebenso wird die zweite mögliche Fusion im Norden Deutschlands zwischen Bremen und Niedersachsen regelmäßig von Politikern und Medien aufgegriffen. Allerdings sind hier die beteiligten Länder sehr viel zurückhaltender mit einer positiven Kommentierung. [18] Ähnlich vorsichtig wird ein Zusammenschluss des Saarlands mit Rheinland-Pfalz aus Sicht der Saarländer beurteilt. [19]

Tabelle 3 beinhaltet die sich aus diesem Vorschlag ergebende Stimmverteilung im Bundesrat. Das neue Bundesland Berlin-Brandenburg bleibt knapp unter der 6-Mio.-Einwohnergrenze und erhält daher vier Stimmen im Bundesrat. Aus der Stimmverteilung kann wieder für jedes Bundesland die Abstimmungsmacht bestimmt werden. Durch die Fusionen reduziert sich die Spannweite der Abstimmungsmacht je Kopf zwischen den verschiedenen Ländern. Es profitieren alle Bundesländer, die nicht fusionieren. Bei der Fusion von Bremen und Niedersachen gewinnt die Bevölkerung aus Niedersachsen an Einfluss (12,85 statt 11,16), während jene aus Bremen an Einfluss verliert. Bei allen übrigen Zusammenschlüssen verliert die Bevölkerung beider beteiligter Länder.

Tabelle 3
Abstimmungsmacht bei zwölf Bundesländern
Bundesland Einwohner Stimmen absolut Stimmen relativ Sh Sh/Kopf x 109
Baden-Württemberg 10 749 506 6 0,107 0,111 10,29
Bayern 12 519 728 6 0,107 0,111 8,83
Berlin-Brandenburg 5 954 168 4 0,071 0,070 11,71
Bremen- Niedersachsen 8 609 110 6 0,107 0,111 12,85
Hamburg- Schleswig-Holstein 4 606 360 4 0,071 0,070 15,13
Hessen 6 064 953 5 0,089 0,092 15,13
Mecklenburg- Vorpommern 1 664 356 3 0,054 0,048 28,61
Nordrhein- Westfalen 17 933 064 6 0,107 0,111 6,17
Saarland- Rheinland-Pfalz 5 058 675 4 0,071 0,070 13,78
Sachsen 4 192 801 4 0,071 0,070 16,62
Sachsen-Anhalt 2 381 872 4 0,071 0,070 29,26
Thüringen 2 267 763 4 0,071 0,070 30,73
Insgesamt 82 002 356 56 1,000 1,000  

Anmerkung: Sh = Shapley-Shubik-Index.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Neugliederung mit neun verbleibenden Bundesländern

Bei diesem Vorschlag aus dem Jahr 2003, der auf den damaligen Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg, Walter Döring, zurückgeht, schließen sich zusätzlich die Länder Hamburg-Schleswig-Holstein mit Mecklenburg-Vorpommern (Nord) sowie Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (Mitte-Ost I) zusammen. [20] Tabelle 4 stellt die sich ergebende Stimmverteilung im Bundesrat dar. Kein Bundesland verfügt über nur drei Stimmen; die Mehrheit der Länder besitzt sechs Stimmen. Die Abstimmungsmacht der Länder mit vier und fünf Stimmen identisch.

Tabelle 4
Abstimmungsmacht bei neun Bundesländern
Bundesland Einwohner Stimmen absolut Stimmen relativ Sh Sh/Kopf x 109
Baden-Württemberg 10 749 506 6 0,125 0,117 10,93
Bayern 12 519 728 6 0,125 0,117 9,38
Berlin-Brandenburg 5 954 168 4 0,083 0,103 17,33
Bremen- Niedersachsen 8 609 110 6 0,125 0,117 13,64
Nord 6 270 716 5 0,104 0,103 16,45
Hessen 6 064 953 5 0,104 0,103 17,01
Nordrhein- Westfalen 17 933 064 6 0,125 0,117 6,55
Saarland- Rheinland-Pfalz 5 058 675 4 0,083 0,103 20,40
Mitte-Ost I 8 842 436 6 0,125 0,117 13,28
Insgesamt 82 002 356 48 1,000 1,000  

Anmerkung: Sh = Shapley-Shubik-Index.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Die Betrachtung der Abstimmungsmacht je Einwohner zeigt, dass die Spreizung im Vergleich zu Tabelle 3 nochmals gesunken ist. Von den Zusammenschlüssen profitieren wiederum die Länder, die nicht fusionieren. Am stärksten wirkt sich dies auf Saarland-Rheinland-Pfalz und Berlin-Brandenburg aus, da die vier Stimmen der Bundesländer jetzt den gleichen Einfluss ausüben wie die von Bundesländern mit fünf Stimmen. Wird die Abstimmungsmacht der fusionierten Bundesländer betrachtet, ergibt sich folgendes Bild: Durch die Fusion von Hamburg-Schleswig-Holstein mit Mecklenburg-Vorpommern erhöht sich die Abstimmungsmacht pro Kopf für den erstgenannten Teil des neuen Bundeslands (von 15,13 auf 16,45), während er für den zweitgenannten sinkt (von 28,61 auf 16,45). Im Vergleich zur Ausgangssituation geht für alle Teile des neuen Bundeslands die Abtimmungsmacht zurück. Durch die Fusion von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen verliert die Bevölkerung aller drei Bundesländer im Vergleich zu den beiden vorigen Szenarien an Einfluss.

Neugliederung mit sieben verbleibenden Bundesländern

Den Ausgangspunkt für dieses Modell bildet ebenfalls das 12-Länder-Modell. Ergänzend kommt es zur Fusion von Hamburg-Schleswig-Holstein mit Bremen-Niedersachsen (Nord-West), Berlin-Brandenburg mit Mecklenburg-Vorpommern und dem Norden Sachsen-Anhalts (Nord-Ost), [21] Sachsen mit Thüringen und dem Süden Sachsen-Anhalts (Mitte-Ost II) sowie Saarland-Rheinland-Pfalz mit Hessen (Mitte-West). [22] Alle sieben Bundesländer haben mehr als 7 Mio. Einwohner, sodass alle Länder sechs Stimmen im Bundesrat besitzen (vgl. Tabelle 5). Daraus resultiert eine Abstimmungsmacht in Höhe von 1/7 für jedes Bundesland.

Tabelle 5
Abstimmungsmacht bei sieben Bundesländern
Bundesland Einwohner Stimmen absolut Stimmen relativ Sh Sh/Kopf x 109
Baden-Württemberg 10 749 506 6 1/7 1/7 13,29
Bayern 12 519 728 6 1/7 1/7 11,41
Nord-Ost 9 211 669 6 1/7 1/7 15,51
Nord-West 13 215 470 6 1/7 1/7 10,81
Nordrhein-Westfalen 17 933 064 6 1/7 1/7 7,97
Mitte-West 11 123 628 6 1/7 1/7 12,84
Mitte-Ost II 7 249 291 6 1/7 1/7 19,71
Insgesamt 82 002 356 42 1,00 1,00  

Anmerkung: Sh = Shapley-Shubik-Index.

Quelle: Eigene Berechnungen.

Bezogen auf die Abstimmungsmacht pro Kopf ist erneut eine verringerte Bandbreite feststellbar, da die Länder zum einen über die gleiche Abstimmungsmacht verfügen und zum anderen in Bezug auf die Einwohnerzahl homogener geworden sind. Von den Fusionen profitieren im Vergleich zur Ausgangssituation und zum Szenario mit zwölf Bundesländern die Einwohner jener Länder, die sich nicht mit anderen zusammenschließen (Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen). Für die zusammengeschlossenen Länder können folgende Schlüsse gezogen werden: Die Bewohner von Nord-West verlieren verglichen mit der Ausgangssituation und der Situation mit zwölf Bundesländern an Einfluss. Im Vergleich zum Ausgangsszenario geht im Land Nord-Ost die Abstimmungsmacht pro Kopf in allen Ländern zurück (für Berlin beispielsweise von 16,75 auf 15,51). Verglichen mit dem 12-Länder-Szenario steigt die Pro-Kopf-Abstimmungsmacht für Berlin-Brandenburg (von 11,71 auf 15,51), während jene für die übrigen Beteiligten sinkt (von 28,61 bzw. 29,26 auf 15,51). Für Mitte-Ost II lässt sich feststellen, dass die Abstimmungsmacht pro Kopf im Bundesrat für Sachsen im Vergleich zum Ausgangsszenario und dem 12-Länder-Szenario steigt (von 13,56 bzw. 16,62 auf 19,71), die der beiden anderen Fusionsteilnehmer jedoch abnimmt. In Mitte-West profitiert verglichen mit der Ausgangslage die Bevölkerung Hessens. Gegenüber der Situation mit zwölf Bundesländern verlieren jedoch alle sich zusammenschließenden Länder.

Zusammenfassung

Ziel dieses Beitrages war es, die Verteilung der Abstimmungsmacht im Bundesrat zu analysieren und sie hinsichtlich einiger Veränderungen von Rahmenbedingungen auf Robustheit zu untersuchen. Da der relative Stimmanteil und die Abstimmungsmacht nicht gleichzusetzen sind, wurde zunächst die aktuelle Abstimmungssituation im Bundesrat mittels dreier Machtindizes untersucht. Es zeigt sich, dass Einwohner bevölkerungsarmer (bevölkerungsreicher) Bundesländer im Bundesrat überrepräsentiert (unterrepräsentiert) sind. Wird die aktuelle Abstimmungssituation im Hinblick auf den Einfluss der Abstimmungsquote untersucht, lässt sich feststellen, dass sich bei Entscheidungen, die eine Zwei-Drittel-Mehrheit erfordern, eine ähnliche Machtverteilung ergibt, wie bei Entscheidungen mit einer Quote von ½. Die abschließende Analyse dreier ausgewählter Neugliederungsvorschläge für das Bundesgebiet ergibt, dass durch diese überwiegend Länder profitieren, die nicht fusionieren. Sollten also Länderfusionen angestrebt werden, ist der Einflussverlust der fusionierenden Bundesländer im Bundesrat zu berücksichtigen.

  • 1 Interessierte Leser finden eine technische Kurzbeschreibung der Indizes im nachfolgenden Kasten. Ein Abriss über weitere Machtindizes findet sich bei G. Gambarelli: Power Indices for Political and Financial Decision Making – A Review, in: Annals of Operations Research, 51. Jg. (1994), H. 4, S. 165-173; D. S. Felsenthal, M. Machover: The Measurement of Voting Power – Theory and Practice, Problems and Paradoxes, Cheltenham u.a.O. 1998; D. S. Felsenthal, M. Machover: A Priori Voting Power – What is It All About?, in: Political Studies Review, 2. Jg. (2004), H. 1, S. 1-23; dies.: Voting Power Measurement – A Story of Misreinvention, in: Social Choice and Welfare, 25. Jg. (2005), H. 2, S. 485-506.
  • 2 Vgl. Bundesministerium des Inneren: Die Neugliederung des Bundesgebietes – Gutachten des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses, Bonn 1955.
  • 3 Vgl. Bundesministerium des Inneren: Vorschläge zur Neugliederung des Bundesgebietes gemäß Art. 29 des Grundgesetzes, Bonn 1973.
  • 4 Vgl. Zeit online: Die zehn wichtigsten Fragen, 8.3.2007; Focus online: Struck will den Nordstaat, 26.2.2009; T. Lenk: Neugliederung der Bundesländer sinnvoll?, in: Wirtschaftsdienst, 89. Jg. (2009), H. 3, S. 144.
  • 5 Für einen detaillierten Überblick vgl. z.B. Bundesministerium des Inneren: Vorschläge zur Neugliederung des Bundesgebietes gemäß Art. 29 des Grundgesetzes, Bonn 1973; P. Burg: Die Neugliederung deutscher Länder – Grundzüge der Diskussion in Politik und Wissenschaft 1918-1996, Münster 1996; R. Schiffers: Weniger Länder – mehr Föderalismus? Die Neugliederung des Bundesgebietes im Widerstreit der Meinungen 1948/49-1990, Düsseldorf 1996.
  • 6 Vgl. W. Rutz: Die Gliederung der Bundesrepublik Deutschland in Länder: Ein neues Gesamtkonzept für den Gebietsstand von 1990, Berlin 1995.
  • 7 Für die Abstimmungsquote q ergibt sich dann in der aktuellen Abstimmungssituation absolut 35. Stellen die Berechnungen auf den Stimmanteil der Länder ab, so gilt q = 0,5 + ε. Es werden 50% der Stimmen plus eine weitere zur Annahme eines Beschlusses benötigt.
  • 8 Die Machtberechnungen der Tabellen 2 bis 5 gehen jeweils von der Erfordernis einer einfachen Mehrheit aus.
  • 9 Wir danken an dieser Stelle Prof. Dr. Stefan Napel für den Matlab-Quellcode zur Implementierung diverser Machtindizes.
  • 10 Für niedrigere Quoten als 0,5 ist eine Analyse nicht sinnvoll, da dann mehrere Gewinnkoalitionen existieren können und das Spiel nicht mehr eindeutig entscheidbar ist.
  • 11 Es wird sich hier und in den übrigen folgenden Abschnitten auf die Darstellung der Ergebnisse zum Shapley-Shubik-Machtindex beschränkt, da sich die dabei gewonnenen Erkenntnisse auch mit den beiden übrigen Machtindizes in ähnlicher Weise erzielen lassen.
  • 12 Vgl. FAZ online: Ohne Zukunft – Kaum überzeugendes Plädoyer für die Eigenständigkeit Bremens, 19.4.2006; G. Dannemann, S. Luft: Die Zukunft der Stadtstaaten – Extreme Haushaltsnotlagen und begründete Sanierungsleistungen, Bremen 2005; Bundesministerium des Inneren: Vorschläge zur Neugliederung des Bundesgebietes gemäß Art. 29 des Grundgesetzes, Bonn 1973.
  • 13 Vgl. Welt online: Fusion Berlin-Brandenburg gescheitert, 5.5.1996.
  • 14 Vgl. Welt online: Neue Debatte über eine Länderfusion, 26.11.2007; Welt online: Gemeinsames Zentral-Abitur von 2010 an vereinbart, 28.11.2007.
  • 15 Vgl. Hamburger Abendblatt online: Jeder zweite befürwortet Fusion von Hamburg und Schleswig-Holstein, 29.1.2005; Wirtschaftswoche online: Hamburg will Länderfusion, 18.1.2006.
  • 16 Vgl. Der Tagesspiegel online: Gibt es demnächst weniger Bundesländer?, 26.2.2009; Focus online: Struck will den Nordstaat, 26.2.2009.
  • 17 Vgl. K. Lammers: Rechnet sich ein kleiner Nordstaat?, in: Wirtschaftsdienst, 86. Jg. (2006), H. 10, S. 665-672; T. Büttner, S. Hauptmeier: Auswirkungen einer Länderfusion auf die öffentlichen Finanzen am Beispiel von Schleswig-Holstein und Hamburg, in: ifo-Schnelldienst, 59. Jg. (2006), H. 10, S. 17-22.
  • 18 Vgl. Der Tagesspiegel online: Zu teuer für Niedersachsen, 15.8.2006.
  • 19 Vgl. Welt online: Rheinland-Pfalz will mit dem Saarland fusionieren, 21.1.2003; FAZ online: Saarland-Pfalz?, 31.7.2007.
  • 20 Vgl. Spiegel online: Neuordnung Deutschlands angeregt, 19.1.2003; Welt online: Rheinland-Pfalz will mit dem Saarland fusionieren, 21.1.2003.
  • 21 Zum Norden Sachsen-Anhalts zählen die ehemaligen Regierungsbezirke Dessau und Magdeburg (Kreise Altmarkkreis Salzwedel, Anhalt-Bitterfeld, Börde, Harz, Jerichower Land, Salzlandkreis, Stendal, Wittenberg, sowie die kreisfreien Städte Dessau-Roßlau und Magdeburg).
  • 22 Vgl. A. Ottnad, E. Linnartz: Föderaler Wettbewerb statt Verteilungsstreit – Vorschläge zur Neugliederung der Bundesländer und zur Reform des Finanzausgleichs, Frankfurt a.M. 1997.

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-012-1373-4