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Die durch die große Finanzkrise induzierten hohen Schuldenquoten zwingen die Staaten zu Maßnahmen des Schuldenabbaus. Financial Repression bietet dafür Möglichkeiten. Sie entsteht, wenn staatliche Instanzen den Finanzmärkten Maßnahmen oktroyieren und manifestiert sich in erster Linie in niedrigen Realzinsen. Financial Repression wird als weiteres Charakteristikum einer „neuen Normalität“ der Weltwirtschaft mit niedrigen Potenzialwachstumsraten und Zinssätzen sowie hohen staatlichen Schuldenständen angesehen. Der Beitrag stellt dieses Charakteristikum vor und beurteilt seine empirische Relevanz.

Die hohen öffentlichen Schuldenniveaus sind womöglich die schwierigste Hinterlassenschaft der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise und dürften die Weltwirtschaft noch längere Zeit beschäftigen. Konsequenterweise stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten, die Schulden auf ein fiskalisch nachhaltiges Niveau zurückzuführen. Methoden des Schuldenabbaus wie die Erhöhung des realen Bruttoinlandsprodukts, einen expliziten Ausfall der Schulden, strikte Sparmaßnahmen oder eine überraschende Inflationierung sind jedoch entweder schwierig zu erreichen, durch Rückkopplungseffekte unter Umständen kontraproduktiv oder politisch unerwünscht.

Maßnahmen der Financial Repression repräsentieren dagegen eine subtilere und vor allem sehr intransparente Art des Schuldenabbaus. Diese lassen sich in drei Gruppen unterteilen:1

  1. Direkte oder indirekte Deckelungen der Zinssätze (vor allem auf Schuldverschreibungen staatlicher Emittenten).
  2. Maßnahmen, die Inlandsinvestoren an den heimischen Kapitalmarkt binden (Kapitalverkehrskontrollen und regulatorische Regelungen, die den Portfolios institutioneller Investoren einen „home bias“ aufzwingen).
  3. Maßnahmen, die einen direkten oder indirekten staatlichen Einfluss auf Finanzinstitute implizieren.

Mit diesen Maßnahmen, durch die Friktionen auf den Finanzmärkten generiert werden, schaffen Regierungen ein repressives Umfeld für die Finanzmärkte, in dem es ihnen möglich wird, sich finanzielle Mittel zuzuweisen, die in weniger regulierten Finanzsystemen anderen Akteuren vorbehalten wären. Besonders relevant sind hier Maßnahmen, die es den Staaten erlauben, Schuldtitel zu niedrigeren Zinsen als bei Absenz dieser Friktionen zu emittieren.2 Denn in diesem Fall läuft Financial Repression ebenfalls darauf hinaus, dass Staatsschulden quasi „weginflationiert“ werden können, da eine künstliche Senkung der Nominalzinssätze im Zusammenspiel mit Inflation es den Staaten ermöglicht, ihre (auf inländische Währung denominierten) realen Refinanzierungskosten zu verringern.3

Dieser zusätzliche – und zumindest konzeptionell unterschiedliche – Effekt der Financial Repression, über den Inflation neben dem „üblichen“ Effekt einer unerwartet höheren Inflationsrate die reale Schuldenlast des Staates senken hilft, lässt sich durch die reale konsolidierte Budgetrestriktion des Staates stilisiert wie folgt darstellen:4

t ist ein Zeitindex für die laufende Periode. Die rechte Seite der Gleichung repräsentiert die Finanzierungsseite des Staatssektors, die sich aus den Steuererlösen, τt, neu emittierten Schulden in realen Einheiten, bt , und einem Seigniorage-Faktor ht - ht-1/(1 + πt ) zusammensetzt. ht ist hierbei die monetäre Basis. πt ist die realisierte Inflationsrate.

Der Ex-ante-Realzins ist 1 + rtA = (1 + it-1)/(1 + πte ), der durch den Nominalzins der Vorperiode, it-1 , und die erwartete Inflationsrate, πte, bestimmt wird. Der ex ante marktkonforme Realzins ist 1 + rtF = (1 + it-1F )/(1 + πte ). Hierbei ist it-1F der marktkonforme nominale Zinssatz bei Absenz von (staatlich erzeugten) Friktionen im Finanzsektor.

Auf der linken Seite der Gleichung stehen die laufenden Staatsausgaben, gt , zuzüglich der laufenden realen Zinszahlungen auf die bereits existierende reale Staatsschuld, (1 + rtF )bt-1, abzüglich des Effektes einer unerwartet höheren Inflationsrate auf den Schuldenbestand der Vorperiode, (1 + rtA) (πt - πte)/(1 + πt ) bt-1 , und abzüglich des Effektes von Financial Repression, (it-1F - it-1)/(1 + πte ) bt-1.

Der Effekt einer unerwartet höheren Inflationsrate ergibt sich aus der Differenz von realisierter und erwarteter Inflationsrate, multipliziert mit den realen Kosten der Staatsschuld der Vorperiode. Der Effekt der Financial Repression ergibt sich analog aus der Differenz zwischen dem marktkonformen und dem tatsächlichen Nominalzins. Liegen keine Finanzmarktfriktionen im Sinne der oben genannten drei Maßnahmengruppen der Financial Repression vor, it-1F = it-1 , und gilt πt = πte, dann hat Inflation keinen Einfluss auf die reale Schuldenlast des Staates. Wenn πt > πte, dann ist der Effekt einer unerwarteten Inflation positiv, und der Staat spart Zinskosten, et vice versa. Wenn πt > it-1, dann spart der Staat ebenfalls Zinskosten, da er sich zu niedrigeren als den marktkonformen Zinsen zu refinanzieren vermag und die (gedeckelten) Zinsen nicht auf einen Anstieg der Inflationsrate bzw. der Inflationserwartungen reagieren können. Beide Effekte können gleichzeitig auftreten. In diesem Fall wirkt Financial Repression indirekt auf die unerwartete Inflation, da der Ex-ante-Realzinssatz aufgrund des niedrigeren Nominalzinses niedriger ist. Für einen gegebenen Term (πt - πte)/(1 + πt ) sind die Ersparnisse für die Regierung durch eine höhere unerwartete Inflation bei gleichzeitigem Auftreten von Financial Repression somit niedriger.

Was sagt die Empirie?

Sind das Phänomen der Financial Repression und ihre Wirkungen auf die Staatsschulden empirisch relevant?5 Die Literatur ist hier bislang noch relativ spärlich und wird vornehmlich von Autoren um das Team Reinhart/Rogoff im Rahmen ihrer bahnbrechenden Studien über Finanzkrisen dominiert.6 Das empirisch entscheidende Charakteristikum für das Vorliegen von Financial Repression sind negative Realzinsen. Maßnahmen der Financial Repression sind als staatlich erzwungene Investitionen von Finanzintermediären in Staatsanleihen zu verstehen, die die Nominalzinsen künstlich senken und bei einer hinreichend hohen Inflationsrate diese ins Negative rutschen lassen. Damit wird klar, dass die Abgrenzung von Financial Repression zu Maßnahmen, die die Stabilisierung der Konjunktur und des Finanzsystems zum Ziel haben und die ebenfalls eine Senkung der Realzinsen implizieren, äußerst schwierig ist. So werden an den Finanzmärkten auch die Monetisierung der Staatsschuld und unkonventionelle Maßnahmen der Geldpolitik im Rahmen einer quantitativen Lockerung zu Financial Repression gezählt.7 Auf der Grundlage des Indikators „negative Realzinssätze“ lassen sich zumindest zwei Muster hinsichtlich der Häufigkeit und des Ausmaßes von Financial-Repression-Steuern in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte erkennen:

  • Zum einen gibt es eine Gruppe von Ländern, in denen sich das Niveau der Realzinssätze auf Staatsschuldtitel im Zeitraum unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg im negativen Bereich befand. Zu dieser Gruppe gehören Australien, Belgien, Frankreich, Italien, Japan, Südafrika, die USA und Großbritannien. Zwischen 1957 und 1968 ließ in diesen Ländern die Financial Repression deutlich nach, um dann in den 1970er Jahren wieder leicht zuzunehmen. Diese Länder hatten gemeinsam, dass sie allesamt nach dem Zweiten Weltkrieg hohe Schuldenquoten verzeichneten. Für ihre Regierungen gab es damit offensichtlich Anreize, zum Abbau der Kriegsschulden auf finanzrepressive Maßnahmen zurückzugreifen.
  • Zum anderen stehen dieser Gruppe von Ländern die Volkswirtschaften Argentiniens, Indiens, Irlands und Schwedens gegenüber, die Financial Repression in der Vergangenheit quasi permanent als Instrument zum Schuldenabbau bzw. der Defizitfinanzierung nutzten. Auch bei diesen Ländern war der Einfluss von Financial Repression unmittelbar nach dem Krieg am größten, wenn auch weniger deutlich ausgeprägt als bei den Ländern der ersten Gruppe.

Financial Repression war demzufolge von 1945 bis 1980 ein weltwirtschaftlich empirisch signifikantes Phänomen und wurde nicht nur von einkommensschwächeren Ländern zum Schuldenabbau genutzt. Erleichtert wurde sie in der Nachkriegszeit bis Anfang der 1970er Jahre durch das Bretton-Woods-System. Dieses System fixer Wechselkurse half im Zusammenspiel mit den bereits existierenden Finanzmarktregulierungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg bei der Implementierung von Financial Repression, da das Bretton-Woods-System aufgrund der „Impossible Trinity“ (der gleichzeitigen Existenz einer unabhängigen Geldpolitik, freier Kapitalmärkte und eines fixen Wechselkurses) Kapitalverkehrskontrollen implizierte.

Auch am aktuellen Rand zeigt sich zumindest anekdotische Evidenz für das Vorliegen von Financial Repression in Europa: zum einen anhand der gegenwärtig niedrigen Realzinsen (vgl. Abbildung 1); zum anderen anhand einer Reihe finanzrepressiver Maßnahmen (vgl. Tabelle 1). Die meisten der hier aufgeführten Maßnahmen binden inländische Investoren an den Heimatmarkt und versuchen diese zu veranlassen, bestehende Staatsschulden zu finanzieren. Hierzu zählen auch regulatorische Maßnahmen, die die Nachfrage nach Staatsschulden künstlich erhöhen, wie z.B. das Basel-III-Reformpaket zur Bankenregulierung, das die Anreize für Banken erhöht, Staatsanleihen gegenüber anderen Aktiva vorzuziehen, denn während die Anforderungen für die Eigenkapitalunterlegung anderer Anleihen strenger werden, müssen Staatsanleihen nach wie vor gar nicht mit Eigenkapital gesichert werden. In die gleiche Richtung wirken die erhöhten Anforderungen für Versicherungsgesellschaften im Rahmen von Solvency II. Als Resultat derartiger Regulierungen dürfte sich der Anteil von Staatsschulden, der von Banken gehalten wird, in Zukunft deutlich erhöhen.8

Abbildung 1
Politische Unsicherheit und langfristige Realzinsen
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Anmerkung: Kurzfristige Realzinsen definiert als Renditen 3-monatiger Staatsanleihen abzüglich Konsumentenpreis-Inflationsrate.

Quelle: Bloomberg, Nicholas Bloom. Vgl. http://www.policyuncertainty.com/index.html. Der Mittelwert der kurzfristigen Realzinsen wurde geglättet, um lediglich temporäre Inflationsschocks nicht fälschlicherweise in einem möglichen Regime der Financial Repression zu berücksichtigen. Vgl. A. Taylor: Comment on „The Liquidation of Government Debt“, in: C. Reinhart, M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, BIS Working Papers, Nr. 363, November 2011, S. 52.

Tabelle 1
Maßnahmen der Financial Repression in der europäischen Schuldenkrise
Frankreich Liquidation des „Fonds de Reserve Pour Les Retraites (FFR)“ (2010)
Die Französische Regierung verabschiedete eine Gesetzesänderung, die es erlaubt, den 37 Mrd. Euro umfassenden FFR dazu zu verwenden von 2011 bis 2024 jährlich 2,1 Mrd. Euro an die Regierungsbehörde „Caisse d‘Amortissement de la Dette Sociale (CADES)“ zu zahlen. Dessen ursprüngliche Aufgabe war es, das Rentensystem nach 2020 langfristig finanziell zu unterstützen. Im Jahre 2024 werden zudem alle verbleibenden Vermögenswerte an die CADES überschrieben. Der FFR wurde folglich zu einem Käufer inländischer Staatsschulden umfunktioniert.
Irland Verwendung des „Ireland National Pension Reserve Fund (NPRF)“ zur Bankenrekapitalisierung (2010)
Das irische Parlament verabschiedete eine Gesetzesänderung, die den NPRF anordnet, in irische Staatsschulden zu investieren. Damit könnten bis zu 17,5 Mrd. Euro zur Rekapitalisierung der irischen Banken verwendet werden. Ursprünglich sollte der NPRF die langfristigen Rentenkosten des irischen Wohlfahrtssystems und des öffentlichen Dienstes finanzieren. Die Gesetzesänderung erlaubt es der irischen Regierung ebenfalls, Investitionsaufwendungen von 2011 bis 2013 durch den NPRF zu finanzieren.
Abgabe auf private Rentenkassen (2011)
Die irische Regierung hat eine 0,6%ige Abgabe auf private Rentenkassen erhoben, um Arbeitsplatzschaffungsmaßnahmen zu finanzieren.
Portugal Übertragung des privatisierten Rentenprogramms der „Portugal Telecom“ auf die portugiesische Regierung (2010)
Die portugiesische Regierung war durch die Übertragung des privatisierten Rentenprogramms in der Lage, 2,8 Mrd. Euro (1,6% des BIP) zusätzliche Einnahmen zu verbuchen, was es ihr ermöglichte, die jährlichen Defizitreduzierungsziele der EU einzuhalten.
Spanien Zinssatzdeckelungen auf Einlagenzinssätze (2010)
Das spanische Finanzministerium zwang die Banken, die Einlagenzinsen oberhalb der marktkonformen Zinssätze festzusetzen. Damit wurde der Beitrag der Banken zum staatlichen Einlagensicherungsfonds verdoppelt.
Großbritannien Steigerung der Mindestanforderungen von Staatsanleihenbeständen (2009)
Die britische „Financial Services Authority“ hat ihre Mindestanforderungen von Staatsanleihenbeständen an inländische Finanzinstitute und an Tochtergesellschaften ausländischer Banken in Großbritannien um ca. 110 Mrd. Euro erhöht. Zusätzlich wurde verlangt, dass die Finanzinstitute allein im ersten Jahr ihren Finanzbedarf an kurzfristigen Finanzierungsmitteln um 20% kürzen.
Privatisierung der „Royal Mail“ (2011)
Durch die Privatisierung der „Royal Mail“ werden geschätzte 23,5 Mrd. Euro an Vermögenswerten und 29,4 Mrd. Euro an Verpflichtungen an das britische Finanzministerium transferiert.

Quelle: Vgl. C. Reinhart: The Return of Financial Repression, in: Banque de France Financial Stability Report, Nr. 16, 2012, S. 37-48; Irisches Finanzministerium: Pension Fund Levy – Q&A, 2012, http://www.finance.gov.ie/viewdoc.asp?DocID=6830.

Effekte von Financial Repression

Niedrige bzw. negative Realzinsen sind das Hauptcharakteristikum von Financial Repression. Ein niedriges Realzinsniveau hilft den Staaten, die durch die Finanzkrise akkumulierten Schuldenlasten leichter zu tragen. Gleichzeitig haben niedrige Realzinsen Effekte auf die Makroökonomie und die Mikrostruktur der Finanzmärkte, die zu Assetpreisblasen führen können. Sollte Financial Repression folglich zum aktuell niedrigen Realzinsniveau beitragen, so könnte sie adverse Effekte in Form möglicher neuer Finanzmarktungleichgewichte implizieren.9

Ein erster Effekt von Financial Repression ist die massive Belastung der Finanzinstitute. Ein Niedrigzinsumfeld hilft zwar zunächst bei der Rekapitalisierung der durch die Finanzkrise angeschlagenen Banken, da die Nettozinsspannen der Banken im Rahmen der Fristentransformation anfänglich steigen. Je länger aber das Niedrigzinsumfeld am kurzen Ende andauert, desto mehr sinken auch am langen Ende die Zinsen und damit die Zinsspannen sowie die Erträge der Banken. Dies induziert wiederum eine verstärkte Risikoaufnahme der Banken auf der Suche nach Rendite. Das Gleiche gilt für Versicherungen und Pensionsfonds, die den Garantiezins verdienen müssen, was in einem Niedrigzinsumfeld schwer fällt.10 Vor allem für Geldmarktfonds besteht bei einem anhaltenden Niedrigzinsumfeld das Problem, ihre Kosten wieder hereinzuholen. Geldmarktfonds sind für Schattenbanken eine wichtige Quelle der Liquidität, die für diese bei anhaltendem Niedrigzinsumfeld auszutrocknen droht.11

Financial Repression benachteiligt die Sparer und begünstigt die Schuldner. Denn Banken, Versicherungsgesellschaften und Rentenfonds geben über niedrige Einlagenzinsen den Effekt der Financial Repression an die Sparer weiter. Folglich werden nicht nur die Halter von Staatsschuldtiteln, sondern auch die Sparer in einem finanzrepressiven Umfeld indirekt besteuert.12 Begünstigt werden aber die Schuldner, da sie zu künstlich niedrigeren Zinsen Kredite aufnehmen können. Dieser Transfer finanzieller Ressourcen von Sparern und/oder nichtprivilegierten Akteuren hin zu Regierungen und/oder privilegierten Akteuren wird als Financial-Repression-Steuer bezeichnet.13 Die Größe der Abweichung des Zinssatzes auf die Staatsschuldenlast und der Einlagenzinssätze von ihren marktkonformen Niveaus und damit die Höhe dieser sehr intransparenten Financial-Repression-Steuer wird dadurch bestimmt, wie ausgeprägt die Maßnahmen bezüglich der Regulierung des Finanzmarktes sowie die Höhe der Inflationsrate sind.14 Da finanzrepressive Maßnahmen Banken dazu zwingen, Kundeneinlagen relativ niedrig zu vergüten, hat dies zur Folge, dass die aggregierte Sparquote unter ihr optimales Niveau sinkt.15

Durch die relativ niedrigen Zinsen haben die Sparer Anreize, höherverzinsliche Anlagemöglichkeiten im In- und Ausland zu suchen.16 Die Suche nach höheren Renditen kann aber zu einer erhöhten Volatilität des Aktienmarkts17 und im Extremfall zu einer veritablen Kapitalflucht führen. Für Banken entstehen gleichzeitig Anreize, die Kreditvergabestandards zu erhöhen, wodurch hauptsächlich etablierte Schuldner profitieren, was im Extremfall zu einer von politischen Netzwerken abhängigen Ressourcenallokation führt.18 Sowohl die Suche der Sparer nach alternativen Anlagemöglichkeiten als auch die Suche der Schuldner nach alternativen Kreditquellen lassen informelle Märkte an Bedeutung gewinnen. Schattenbankenmärkte stellen aber aufgrund ihrer fehlenden bzw. mangelhaften Regulierung eine mögliche Gefahr für die Finanzstabilität dar.19

Ein weiteres Merkmal von Financial Repression ist die relativ große Bedeutung von Nichtmarktakteuren bei der Preisbildung im Markt für Staatsanleihen.20 Die staatlicherseits künstlich erhöhte Nachfrage nach Staatsanleihen impliziert eine verzerrte, zu hohe Bewertung dieser Anleihen. Da gleichzeitig, aufgrund des aktuellen Vertrauensverlustes von Investoren gegenüber Staatsanleihen hochverschuldeter Länder, das Angebot an sicheren Wertpapieren sinkt, trägt dies zusätzlich zum gestörten Preismechanismus im Segment der Staatsanleihen bei. Die niedrigen Renditen auf Staatsanleihen veranlassen die Investoren wiederum, in relativ risikoreichere Wertpapiere zu investieren.21 Das daraus resultierende Risk-on-/Risk-off-Verhalten von Investoren22 kann im Zusammenspiel mit höheren Korrelationen zwischen Assetklassen23 zu einer erhöhten Volatilität der Assetpreise und zur Bildung von Finanzpreisblasen führen. Da Staatsanleihen eine Schlüsselfunktion im Finanzsystem einnehmen, tangiert Financial Repression auch andere Anlagekategorien als lediglich Staatsanleihen.

Beurteilung

Über die empirische Relevanz von Financial Repression als weiterem Charakteristikum einer „neuen Normalität“ in der Weltwirtschaft mit niedrigen Zinsen, niedrigen Potenzialwachstumsraten und hohen staatlichen Schuldenständen im Zuge der Finanzkrise kann lediglich ein vorläufiges Urteil gefällt werden. Einerseits sind zwar die Anreize der Staaten zur Implementierung von Maßnahmen der Financial Repression angesichts der hohen Staatsschulden der Industrieländer evident. Gleichzeitig sehen sich die Schwellenländer – als Konsequenz der durch Financial Repression induzierten Suche von Investoren der Industrieländer nach höheren Renditen – verstärkten Kapitalzuflüssen und den negativen Effekten überbewerteter Währungen und steigender Assetpreise gegenüber. Damit dürften sowohl die Industrie- als auch die Schwellenländer zunehmend bereit sein, eine verschärfte Regulierung der globalen Finanz- und Kapitalmärkte und Kapitalverkehrskontrollen zu akzeptieren.24

Bislang existiert aber noch keine wirklich gesicherte empirische Evidenz für das Vorliegen von Financial Repression am aktuellen Rand.25 Mit gutem Willen kann man Parallelen zur Nachkriegszeit sehen, denn die Staaten standen damals ebenfalls vor der Herausforderung, hohe Schuldenquoten abzubauen. Ein wesentlicher Unterschied zur Nachkriegszeit besteht allerdings darin, dass die Kapitalmärkte heute global sehr viel besser integriert sind. Die stärkere Vernetzung der Kapitalmärkte dürfte es den Staaten erschweren, Investoren an bestimmte Assetklassen bzw. Länder zu binden, sodass Financial Repression durch regulatorische Arbitrage zumindest teilweise eingeschränkt werden dürfte.

Auch wenn Regierungen hohe Anreize haben sollten, Maßnahmen der Financial Repression zu verabschieden, so gilt es doch zwischen Maßnahmen zu unterscheiden, die explizit auf die Reduktion der Staatschulden abzielen, und Maßnahmen, die einen Schuldenabbau quasi nichtintendiert nach sich ziehen. Zu denken ist hier z.B. an eine konjunkturell bedingte Niedrigzinspolitik der Zentralbanken26 oder eine verschärfte makroprudenzielle Regulierung zur Verhinderung zukünftiger Finanzkrisen.

Die entscheidende Frage ist damit, was der Grund für die derzeit niedrigen Realzinsen ist. Sind es Maßnahmen der Financial Repression, konjunkturell bedingte Maßnahmen der Notenbanken, oder die hohe ökonomische Unsicherheit? Wahrscheinlich von allem etwas. So zeigt Abbildung 1, dass seit 2008 der Mittelwert der von N. Bloom mitentwickelten Unsicherheitsindizes für die USA und Europa stark angestiegen ist und gleichzeitig seit 2008 die kurzfristigen Realzinsen in den USA und Deutschland im Schnitt tendenziell negativ waren.27 Dies ist kein Zufall, denn die Unsicherheit belastet ja nicht nur die realwirtschaftliche Entwicklung und senkt folglich die Realzinsen, sondern zwingt die Zentralbanken auch zu einer (unkonventionellen) Niedrigzinspolitik und erhöht die Nachfrage der Investoren nach vermeintlich „sicheren“ Aktiva (hier repräsentiert durch deutsche und US-amerikanische Staatsanleihen).28 Gleichzeitig werden verstärkt makroprudenzielle Maßnahmen eingeführt, die die Preise von Staatsanleihen stützen.29

Negative Realzinsen sind damit kein verlässliches Signal für Financial Repression, da die von Reinhart/Belen Sbrancia diagnostizierten Episoden von Financial Repression gleichzeitig Episoden großer Unsicherheit waren. Man denke nur an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.30 Das Konzept der Financial Repression ist folglich viel zu wenig von Phänomenen abgrenzbar, die ebenfalls zum gegenwärtig niedrigen Realzinsniveau beitragen. Vieles deutet aber darauf hin, dass niedrige Realzinsen – was auch immer ihre Ursache ist – die Finanzmärkte auch in Zukunft sehr beschäftigen dürften.

Die in diesem Papier vertretenen Ansichten entsprechen nicht notwendigerweise denen der Landesbank Baden-Württemberg.

  • 1In der Literatur gibt es unterschiedliche Kategorisierungen finanzrepressiver Maßnahmen. Grundsätzlich lassen sich alle Maßnahmen den hier aufgeführten drei Gruppen zuordnen. Siehe C. Reinhart, M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, Peterson Institute for International Economics Working Paper 11-10, April 2011, Box 1, S. 4.
  • 2 Vgl. C. Reinhart et al.: Financial Repression Redux, in: Finance & Development, 2011, S. 22.
  • 3 Vgl. A. Giovannini, M. De Melo: Government Revenue from Financial Repression, in: The American Economic Revenue, 83. Jg. (1993), H. 4, S. 954.
  • 4 Vgl. M. Belen Sbranica: Debt, Inflation, and the Liquidation Effect, University of Maryland, 2011, S. 5.
  • 5 Inflationserwartungen und marktkonforme Zinsen können nicht direkt beobachtet werden. Um den empirischen Effekt der Financial Repression von dem Effekt von Inflationsüberraschungen auf die reale Staatsschuld empirisch zu trennen, werden zunächst grobe Proxies für die Inflationsüberraschungen entwickelt, um danach auf den Residualeffekt der Financial Repression zu schließen, vgl. M. Belen Sbranica, a.a.O., S. 24-27.
  • 6 Siehe C. Reinhart, M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, NBER Working Paper, Nr. 16893, 2011; C. Reinhart, K. Rogoff: This Time is Different: Eight Centuries of Financial Folly, Princeton 2009.
  • 7 Siehe hierzu A. Wöhrmann: Yield Trap – The Effects of Financial Repression, in: DWS CIO View, Nr. 2/2012, S. 2/6-4/6.
  • 8 Siehe BIS Committee on the Global Financial System: Fixed Income Strategies of Insurance Companies and Pension Funds, CGFS Papers, Nr. 44, Juli 2011. Das Beispiel Japan zeigt, dass die Renditen von Staatsanleihen trotz einer fiskalisch nicht nachhaltigen Situation nicht steigen müssen, wenn die institutionellen Investoren regulatorisch bedingt Anreize haben, Staatsanleihen trotz niedriger Renditen zu halten. Siehe T. Hoshi, T. Ito: Defying Gravity: How Long Will Japanese Government Bond Prices Remain High?, NBER Working Paper, Nr. 18287, August 2012.
  • 9 Niedrige Realzinsen müssen nicht notwendigerweise zum Ausbruch von Finanzkrisen beitragen: „Looking only at the incidence of crises across space and time, we cannot reject the notion that crises occur by and large randomly.“ Vgl. O. Jorda et al.: Financial Crises, Credit Booms, and External Imbalances: 140 Years of Lessons, Draft prepared for the 2010 IMF Annual Research Conference, S. 36 sowie S. 19-20. Siehe auch P.-O. Gourinchas, M. Obstfeld: Stories of the Twentieth Century for the Twenty-First, in: American Economic Journal: Macroeconomics, 4. Jg. (2012), H. 1, S. 243.
  • 10 Vgl. Moody’s Investors Service: Counter-cyclical Central Banking Policies and their Longer-Term Implications, 15.6.2012, S. 9-16.
  • 11 Siehe zum Komplex der Schattenbanken G. Zimmermann: Die Finanzkrise – im Kern eine Einlagenkrise der Schattenbanken, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 2, S. 105-109.
  • 12 Vgl. E. Shaw: Financial Deepening in Economic Development, New York 1973, S. 83.
  • 13 Vgl. D. Beim, C. Calomiris: Emerging Financial Markets, New York 2001, S. 47 ff.
  • 14 Vgl. C. Reinhart et al., a.a.O., S. 23.
  • 15 Vgl. R. McKinnon: Money and Capital in Economic Development, Washington 1973, S. 69.
  • 16 Vgl. P. Agénor, P. Montiel: Development Macroeconomics, 3. Aufl., Princeton 2008, S. 107.
  • 17 Vgl. N. Lardy: Financial Repression in China, Peterson Institute for International Economics, Policy Brief PB08-8, 2008, S. 6.
  • 18 Vgl. R. McKinnon, a.a.O., S. 73; E. Shaw, a.a.O., S. 86.
  • 19 Siehe hierzu G. Zimmermann, a.a.O.
  • 20 Siehe J. R. Andritzky: Government Bonds and Their Investors: What Are the Facts and Do They Matter?, IMF Working Paper, WP/12/158.
  • 21 Siehe hierzu IMF: Global Financial Stability Report, Chapter 3, April 2012.
  • 22 Unter Risk-on-/Risk-off-Verhalten versteht man das seit 2008 vorherrschende Investitionsparadigma, dass die Finanzmarktteilnehmer gerade dann Risiken aufnehmen, wenn die Marktrisiken als gering eingeschätzt werden, und umgekehrt. Siehe R. McCauley: Risk-on/Risk-off, Capital Flows, Leverage and Safe Assets, BIS Working Papers, Nr. 382, Juli 2012.
  • 23 Siehe hierzu HSBC Global Research: Risk On – Risk Off – Fixing a Broken Investment Process, April 2012.
  • 24 Die Schwellenländer vermochten sich allerdings in der Vergangenheit durch Kapitalverkehrskontrollen nicht effektiv gegen Währungskrisen zu schützen, vgl. R. Glick, M. Hutchison: The Illusive Quest: Do International Capital Controls Contribute to Currency Stability?, Federal Reserve Bank of San Francisco, Working Paper 2010-15, Mai 2010; siehe auch K. Habermeier et al.: The Effectiveness of Capital Controls and Prudential Policies in Managing Large Inflows, IMF Staff Discussion, Note SDN/11/14, 5.8.2011; siehe zur zukünftigen Rolle von Kapitalverkehrskontrollen W. Speller et al.: The Future of International Capital Flows, Bank of England Financial Stability Paper, Nr. 12, Dezember 2011; siehe für eine Zusammenstellung von Maßnahmen der Financial Repression in Schwellenländern Moody’s Investors Service, a.a.O., S. 6.
  • 25 Vgl. I. Visco: Comment on „The Liquidation of Government Debt“, in: C. Reinhart, M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, BIS Working Papers, Nr. 363, November 2011, S. 46-48.
  • 26 Siehe hierzu Moody’s Investors Service, a.a.O.
  • 27 Siehe N. Bloom: The Impact of Uncertainty Shocks, NBER Working Paper, Nr. 13385, September 2007.
  • 28 Siehe IMF, a.a.O.
  • 29 Siehe BIS Committee on the Global Financial System, a.a.O.
  • 30 Siehe A. Taylor: Comment on „The Liquidation of Government Debt“, in: C. Reinhart, M. Belen Sbrancia: The Liquidation of Government Debt, a.a.O., S. 52.

Title:Financial Repression – a New Environment for Financial Markets?

Abstract:High levels of debt caused by the financial crisis are forcing countries to take measures to reduce debt. Financial repression is a debt reduction opportunity based on measures imposed on the financial markets by governments which manifests itself primarily in lower real interest rates. Financial repression is regarded as another characteristic of a “new normality” in the global economy with low potential growth rates and low interest rates, high levels of public debt as a result of the financial crisis. The article describes this phenomenon and attempts to evaluate its empirical relevance.


DOI: 10.1007/s10273-012-1426-8

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