Armutsentwicklung: Ganze Breite des Arbeitsmarktes
Vielen gilt der deutsche Arbeitsmarkt als vorbildlich: Die Beschäftigung steigt von Jahr zu Jahr und die Arbeitslosigkeit ist eine der niedrigsten in Europa. Mit den jüngst veröffentlichten Daten zur Entwicklung des Armutsrisikos von Erwerbspersonen gießt das Statistische Amt der Europäischen Union jedoch Wasser in den Wein. Den Zahlen zufolge beträgt in Deutschland die Armutsgefährdungsquote der Arbeitslosen am aktuellen Rand (2010) 67,5%. Obwohl zuletzt ein geringfügiger Rückgang um 2,5 Prozentpunkte zu verzeichnen war, ist das Armutsrisiko der Arbeitslosen in Deutschland damit weitaus höher als in jedem anderen Land Europas. Im Durchschnitt der EU27 müssen 46,3% aller Arbeitslosen mit weniger als 60% des bedarfsgewichteten mittleren Einkommens des jeweiligen Landes auskommen. In der Schweiz sind es nur 30,1%. Auch bei den Beschäftigten ergibt sich eine besorgniserregende Entwicklung: Noch 2004 war die Arbeitsarmut in Deutschland vergleichsweise selten. Seitdem ist der Anteil der „working poor“ in Deutschland stärker gestiegen als in den übrigen europäischen Staaten. Mit 7,7% liegt die Bundesrepublik nun auf einem durchschnittlichen Niveau.
Welche Ursachen liegen diesen Entwicklungen zugrunde? Mit Blick auf die Arbeitslosen kann man argumentieren, dass der Anstieg des Armutsrisikos gewissermaßen die Schattenseite des Rückgangs der Arbeitslosigkeit darstellt: Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, dann werden zunächst jene eine neue Anstellung finden, die noch nicht lange arbeitslos sind. Zurück bleiben diejenigen, die ihren Anspruch auf Arbeitslosengeld I schon erschöpft haben oder die Anspruchsvoraussetzungen nie erfüllen konnten. Infolgedessen steigt das Armutsrisiko in der Gruppe der Arbeitslosen. Dies ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004 stellte einen tiefen Einschnitt in die soziale Absicherung der Arbeitslosen in Deutschland dar. Seitdem haben die meisten Arbeitslosen nur noch Anspruch auf ein Jahr Arbeitslosengeld I. In einigen Nachbarländern – wie z.B. Dänemark (104 Wochen), den Niederlanden (96 Wochen) und der Schweiz (80 Wochen) – ist die Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld länger und das Armutsrisiko der Arbeitslosen infolgedessen geringer als hierzulande. Auch die Arbeitslosigkeit war in den vergangenen zehn Jahren niedriger als in Deutschland.
Angesichts des Zuwachses bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung löst der Anstieg der Arbeitsarmut Verwunderung aus: Woher kommen die „working poor“? Eine scheinbar elegante Erklärungsmöglichkeit besteht darin, auf Veränderungen der Beschäftigungsstruktur zu verweisen. Zwischen 2004 und 2010 haben sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse (z.B. befristete Beschäftigung, Teilzeit) zugenommen. Mit diesen ist gegenüber dem Normalarbeitsverhältnis ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko verbunden. Diese Beschäftigungsformen sind jedoch sowohl für die Gesamtbeschäftigung als auch für die Haushaltseinkommen weniger bedeutend als oftmals vermutet wird. Analysiert man den Anstieg der Arbeitsarmut genauer, dann zeigt sich, dass dieser in allen Beschäftigungsformen erfolgt ist. Im internationalen Vergleich sticht die Bundesrepublik sogar dadurch hervor, dass die Arbeitsarmut besonders unter den Arbeitnehmern mit Festanstellung und solchen in Vollzeittätigkeit zugenommen hat. Die Arbeitsarmut hat also gleichsam die ganze Breite des Arbeitsmarktes erfasst.
Frauenquote: Ungeliebtes Muss?
Die Frauenquote erhitzt die Gemüter, das zeigte nicht nur die Diskussion vor und während der Abstimmung im Bundestag am 18. April 2013. Die Besetzung der Aufsichtsräte deutscher Unternehmen mit Frauen zu 20% von 2018 an und zu 40% von 2023 an sollte in einem vom Bundesrat initiierten Gesetzentwurf durchgesetzt werden. Von den einen wird die Frauenquote als allerletztes Mittel gegen eine ansonsten in absehbarer Zeit kaum zu überwindende krasse Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern verstanden. Von anderen wird sie als unzulässigen und unnötigen oder gar gefährlichen Eingriff in die unternehmerische Freiheit gewertet. Auch in den nächsten Jahren dürfte uns das Thema erhalten bleiben. Nicht nur, weil selbst die CDU eine gesetzliche Regelung in ihr Wahlprogramm aufnehmen will, sondern auch weil die Oppositionsparteien sowie Interessengruppen daran festhalten werden und zudem mittlerweile niemand mehr über die nach wie vor bestehenden Ungleichheiten von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt hinwegschauen kann. In den Spitzenpositionen kulminiert dieses Phänomen lediglich.
Die Quotendiskussion hat zudem einen breiteren Rahmen, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Das wird deutlich bei der Frage, was etwa eine Frau an der Kasse in einem Supermarkt davon hat, wenn mehr Frauen im Aufsichtsrat oder im Vorstand sitzen. Vorerst einmal möglicherweise nichts. Aber mit der Positionierung von mehr Frauen an der Spitze ist die Erwartung verknüpft, dass die Lebensrealitäten von Frauen in der Unternehmenspolitik, der Unternehmenskultur und den Unternehmensentscheidungen stärker berücksichtigt werden. Das kann sich etwa in einer Aufwertung gewöhnlich schlechter bezahlter typischer Frauenberufe zeigen, neue Arbeitszeitmodelle für Frauen und Männer oder eben auch flexiblere Karrierewege und bessere Aufstiegschancen für Frauen in alle Hierarchieebenen und damit höhere Gehälter betreffen.
Frauenquoten in Spitzengremien können nur ein Einstieg „von oben“ zu grundsätzlich gerechteren Chancen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt sein. Wer nicht an Unternehmensentscheidungen beteiligt ist, kann hierauf auch keinen Einfluss nehmen. Damit wird aber auch deutlich, dass Frauen, die jetzt verstärkt in die Spitzengremien gelangen können, weil sich insbesondere Frauen für gerechtere Aufstiegschancen und die Quote eingesetzt haben, mit der Erwartung umgehen müssen, auch etwas zur Veränderung der Unternehmenskultur im Sinne der Akzeptanz von Frauen auf allen Hierarchieebenen beizutragen. Das mag schwer sein, denn das Thema ist nicht gerade sehr beliebt und es sitzen relativ wenige Frauen einer überwältigenden Mehrheit von Männern in Spitzengremien gegenüber, doch es ist notwendig. Diese Frauen sind auch wichtige Vorbilder für die nachwachsende Frauengeneration, die künftig Einfluss auf die Art und Weise der Integration verschiedener Lebensrealitäten von Frauen und Männern in den unternehmerischen Alltag auf allen Ebenen nehmen wird.
Eine solche Veränderung geschieht sicherlich nicht auf Knopfdruck, sondern erfordert ein Umdenken. Diesen Weg zu gehen, hätte eine Frauenquote durch eine raschere Erhöhung des Frauenanteils vermutlich beschleunigen können. Allein die breite und nachhaltige Diskussion um die Frauenquote in den letzten Jahren brachte in Deutschland schon einiges voran. Inzwischen sehen Unternehmen die Notwendigkeit, gerade im demografischen Wandel ausreichend hochqualifiziertes Personal für das Unternehmen zu sichern, aber vielfach besteht noch die Hoffnung, das auf konventionelle Weise und mit einem äußerst gemäßigten Tempo zu schaffen. Ich denke, diese Zeiten sind vorbei. Insbesondere hochqualifizierte Frauen wollen heute klare berufliche Perspektiven von Unternehmen geboten bekommen und werden sich an jene Unternehmen binden, die ihnen diese ermöglichen. Mit einem raschen Wandel können sie sich gut im Wettbewerb aufstellen und zugleich von einem ungeliebten Muss möglicher künftiger Quotenregelungen unabhängig machen.
Verkehrsinfrastruktur: Finanzierung als Dauerproblem
Wie das Handelsblatt in seiner Online-Ausgabe vom 21.4.2013 meldet, fordern Unternehmen und Industrieverbände in einem gemeinsamen Brief an das Bundeskanzleramt, Ministerien und die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag mehr Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Ansonsten befürchten sie einen dramatischen „Werteverfall“ dieses wichtigen Standortfaktors. Angesichts jahrzehntelanger Unterfinanzierung der Verkehrsinfrastruktur sind solche Appelle und Forderungen nicht neu und durchaus berechtigt. Ungenügende Investitionen in Neubau, Ausbau und Erhaltung des Straßen- und Schienennetzes, aber auch von Flughäfen und Wasserstraßen, führen zu erheblichen Funktionsbeeinträchtigungen der Verkehrswege mit entsprechenden Effekten für Wachstum und Beschäftigung. In Ländern mit hoher Infrastrukturdichte entstehen solche Beeinträchtigungen vor allem durch Substanzverluste sowie durch Kapazitätsüberlastungen und Staus. Bereits die Pällmann-Kommission hat daher schon im Jahr 2000 mit Nachdruck vor einer Instandhaltungskrise der deutschen Verkehrsinfrastruktur gewarnt. Seit langem wird auf die hohen volkswirtschaftlichen Kosten von Engpässen und Staus hingewiesen.
Gefruchtet hat dies bislang wenig, trifft doch die Forderung nach mehr Investitionen auf eine politische Rationalität, die eher das Gegenteil nahelegt. Da die Wähler Ausgaben für öffentlichen Konsum und sichtbare Projekte stärker honorieren, genießen in der Politik konsumtive Ausgaben gegenüber Investitionen und Neubauprojekte gegenüber Erhaltungsinvestitionen im Zweifelsfall den Vorrang. Dieser Trend verstärkt sich, wenn die öffentlichen Haushalte, etwa durch den demografischen Wandel oder internationale Verpflichtungen, mit zusätzlichen Ausgaben konfrontiert werden und die Gesellschaft altert. Bedenkt man dazu, dass die dann noch vorhandenen Mittel für die Verkehrsinfrastruktur aus Gründen des politischen Proporzes häufig nicht dorthin fließen, wo sie am dringendsten benötigt werden, muss die berechtigte Forderung nach mehr Investitionen für die Verkehrsinfrastruktur einhergehen mit Vorschlägen für eine Neuorientierung der Infrastrukturpolitik.
Angesichts der aufgelaufenen Probleme und der zu erwartenden Mittelengpässe in den öffentlichen Haushalten bedeutet dies zunächst vor allem Engpassbeseitigung und Substanzerhaltung. Dort, wo eine Engpassbeseitigung durch Ausbau nicht möglich oder im Vergleich zu den Staukosten zu teuer ist, sollte man zudem über eine auslastungsabhängige Bepreisung nachdenken. Die aktuellen Verlautbarungen der Parteien und des Bundesverkehrsministeriums zur Konzeption des neuen Bundesverkehrswegeplanes deuten zumindest im Hinblick auf den Vorrang von Erhalt und Engpassbeseitigung auf ein entsprechendes Problembewusstsein hin. Langfristig ist es erforderlich, die Bereitstellung und Finanzierung der Verkehrswege neu zu ordnen. So könnte man diese Aufgaben autonomen Verkehrsinfrastrukturgesellschaften übertragen, die sich über Nutzergebühren refinanzieren und ihre Investitionsentscheidungen anhand von Bedarfen und Kosten treffen. Der Staat behält in jedem Falle das Genehmigungsrecht. Darüber hinaus nimmt er öffentliche Belange dort wahr, wo Infrastruktureinrichtungen politisch als erforderlich angesehen werden, aber die Gebühreneinnahmen die Bereitstellungskosten nicht decken. Konkrete Vorschläge für eine solche Neuorganisation des Infrastrukturmanagements gibt es bereits.
Deutsche Telekom: Fair-Use-Flatrates wirklich fair?
Der aktuelle Vorstoß der Deutschen Telekom, in Zukunft nur noch Fair-Use-Flatrates für DSL-Anschlüsse vermarkten zu wollen, hat für Kontroversen gesorgt. Diese Tarife garantieren dem Kunden uneingeschränktes Surfen lediglich bis zu einem festgelegten Maximaldatenvolumen. Ab 2016 soll der Telekom-Kunde für darüber hinausgehenden Datenverkehr entweder zusätzlich bezahlen (über die Preise ist noch nichts bekannt) oder die Geschwindigkeit der Datenleitung wird auf 384 Kbit/s gedrosselt, was effektiv eine zeitgemäße Nutzung der Breitbandverbindung verhindert. Umgekehrt ist aber eine Belohnung für Wenignutzung (z.B. durch die Möglichkeit ungenutzte Volumina in den nächsten Monat zu übertragen) derzeit nicht vorgesehen. Die Ankündigung der Telekom löste einen Sturm der Entrüstung unter Netzaktivisten aus. Sogar die Bundesregierung beteiligte sich im Zuge des laufenden Wahlkampfs daran. Obwohl Fair-Use-Flatrates im Mobilfunk bereits Realität sind, hätte man das Ausmaß der Empörung über die Einführung dieser Tarife im Festnetz durchaus erwarten können: ähnliche Fälle gab es zuvor beispielsweise in Kanada (BellCanada) und den USA (Comcast). Interessanterweise gaben die Anbieter in beiden Fällen ihre Maßnahmen zur Datenbeschränkung inzwischen auf Grund des enormen öffentlichen Drucks wieder weitestgehend auf. Dort wie hier werden Fair-Use-Flatrates gerne mit einer Verletzung der Netzneutralität in Verbindung gebracht. Das ist genau dann begründet, wenn das Datenvolumen, das durch besondere Dienste (sogenannte „Managed Services“ – bei der Telekom gilt das insbesondere für das Internetfernsehen „Entertain“) verursacht wird, nicht dem verbrauchten Datenvolumen zugerechnet wird, während alternative Dienste von Over-the-top-Anbietern (OTT), die kostenlos Video- und Audioinhalte übermitteln, voll auf den Datenzähler gehen. Da liegt die Vermutung einer Wettbewerbsverzerrung nahe. Genau das wird im Fall der Telekom gerade durch die Bundesnetzagentur geprüft.
Grundsätzlich kann man dem Konzept der Fair-Use-Flatrates durchaus auch etwas Positives abgewinnen. Denn gegen eine verursachungsgerechtere Bepreisung der Datennutzung ist im Prinzip nichts einzuwenden. Glaubt man der Telekom, dass nur ein geringer Prozentsatz der Nutzer den überwiegenden Teil des Datenvolumens verursacht, so sollte eine Fair-Use-Flatrate für die meisten Internetnutzer eigentlich sehr viel günstiger zu haben sein (jedenfalls ab 2016), da Vielnutzer nicht mehr quersubventioniert werden müssen. Die Preise für die aktuellen Telekom-Flatrates (mit Fair-Use-Klauseln, aber ohne echte Sanktionen) sind zumindest unverändert. Zudem erscheinen die Inklusiv-Volumina (ab 75 GB/Monat) deutlich zu niedrig – und das obwohl diese erst im Jahr 2016 greifen sollen. Spätestens dann wird die Regelung sicherlich nicht nur eine Minderheit treffen.
Die Einführung von Fair-Use-Flatrates trifft aber nicht nur die Kunden. Die neuen Tarife haben auch das Ziel, die OTT-Konkurrenz zur Kasse bitten zu können. Insbesondere bandbreitenintensive OTT-Dienstanbieter wären gezwungen, sich bei der Telekom in Zukunft ebenfalls als Managed Services einzukaufen. Ob und in welcher Weise dies gerechtfertigt ist, z.B. weil die Telekom die Infrastruktur für die Diensterbringung der OTT-Anbieter zur Verfügung stellt, wird ebenfalls zu prüfen sein. Kurzfristig jedenfalls werden die Telekom-Konkurrenten von dem erfolgten Imageschaden profitieren können, denn im Gegensatz zu den USA und Kanada gibt es in Deutschland zahlreiche Breitband-Internetanbieter, welche die Kunden wählen können. Es ist aber auch denkbar, dass der Vorstoß der Telekom eine Signalwirkung hat und zukünftig Nachahmer unter den Wettbewerbern finden wird.