Die Debatte über Leistungsbilanzungleichgewichte in der Eurozone mündete im November 2013 in ein Prüfverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland. Das Ergebnis lautet, dass der anhaltend hohe Überschuss in der deutschen Leistungsbilanz das Funktionieren der Eurozone gefährde. Anton Konrad zeigt auf, dass der amerikanische Nationalökonom Charles P. Kindleberger bereits 1965 verschiedene Erklärungen für den anhaltenden deutschen Zahlungsbilanzüberschuss diskutiert hat.
Im Jahre 1965 veröffentlichte Charles P. Kindleberger einen Aufsatz unter dem Titel: „Deutschlands persistentes Zahlungsbilanz-Ungleichgewicht“, in dem er verschiedene Erklärungen für den anhaltenden deutschen Zahlungsbilanzüberschuss diskutierte.1 Im Mittelpunkt stand dabei der Überschuss in der Leistungsbilanz, der allerdings auch meist in einen „Zahlungsbilanzüberschuss“ (etwa im Sinne der Grundbilanz) mündete. (Dieser Begriff wird nicht ganz einheitlich verwendet, bezeichnet aber eine Zunahme der Währungsreserven und je nach Abgrenzung auch eine Zunahme kurzfristiger Nettoauslandsforderungen.) 1976 griff Kindleberger dieses Thema nochmals auf und bekräftigte dabei seinen Glauben an das Weiterbestehen der deutschen Überschüsse.2 Seine Worte können fast als prophetisch gelten, denn knapp 50 Jahre später, im Jahre 2013, hat der deutsche Leistungsbilanzüberschuss, der zu Beginn der Betrachtungsperiode im Jahr 1951 noch 2,3 Mrd. DM betragen hatte, ein Niveau von 201 Mrd. Euro, also beinahe das 200-fache erreicht. (Nur nach der deutschen Wiedervereinigung wurde dieser Trend elf Jahre lang unterbrochen.) Die Kritik an diesem Phänomen flammte schon zu Beginn der 1960er Jahre auf und erreichte Ende Oktober 2013 wieder einen Höhepunkt in einer scharfen Stellungnahme des US-Handelsministerium. Die EU-Kommission sah sich im November 2013 sogar zu einem Prüfverfahren gegen Deutschland veranlasst, weil der deutsche Leistungsbilanzsaldo mit zuletzt 7,5% des BIP seit mehreren Jahren das Niveau von 6%, das von der Kommission ziemlich willkürlich als noch tragbar angesehen wird, überschreitet. Die von Kindleberger vor 50 Jahren angeführten Erklärungen sind auch für die Gegenwart relevant, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht. Der Anstieg des Leistungsbilanzüberschusses erfolgte nicht kontinuierlich, sondern unter Schwankungen, für die meist exogene Einflussfaktoren wie Konjunkturentwicklungen im Ausland, Rohstoffpreise und die deutsche Wiedervereinigung verantwortlich waren (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1
Leistungsbilanzüberschuss
Quelle: www.bundesbank.de.
Dass auch in der aktuellen europäischen Diskussion der Leistungsbilanzsaldo meist ohne Bezug zur gesamten Zahlungsbilanz betrachtet wird, liegt wohl daran, dass gegenwärtig Leistungsbilanzdefizite kein besonderes Finanzierungsproblem aufwerfen, denn die anderen Länder der Eurozone können ihre Defizite gegenüber Deutschland in Euro begleichen. Auch Defizite gegenüber Drittländern verursachten kein Zahlungsproblem, weil sie durch deutsche Überschüsse leicht ausgeglichen werden konnten, so dass keine Übernachfrage nach fremden Währungen entstand. Außerdem hätte der flexible Eurokurs für einen Ausgleich gesorgt.
Die aktuelle Rolle der Leistungsbilanzsalden liegt deshalb mehr in ihrer Bedeutung für Volkseinkommen und Beschäftigung. Unmittelbar in das Bruttoinlandsprodukt geht zwar nicht der gesamte Leistungsbilanzsaldo, sondern nur der Außenbeitrag, d.h. der Exportüberschuss an Gütern und Dienstleistungen ein, während die in der Leistungsbilanz ebenfalls enthaltenen zwischenstaatlichen Einkommens- und Transferzahlungen andere Aggregate der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung tangieren. Als Indikator für den Einfluss der Außenwirtschaft auf die wirtschaftliche Aktivität wird aber üblicherweise doch der Leistungsbilanzsaldo verwendet. So äußerte sich die Krise der südlichen Euroländer neben dem Anstieg der Staatsverschuldung und der Budgetdefizite auch in ihren Leistungsbilanzdefiziten. Allerdings ist auch dieser Indikator ambivalent. Eine Verbesserung der Leistungsbilanz wirkt nur dann expansiv, wenn sie auf einem Anstieg der Exporte oder einer Substitution von Importen beruht, z.B. wenn sich die Wettbewerbsfähigkeit der Länder verbessert. Bei einem rezessionsbedingten Rückgang der Importe ist dagegen der Leistungsbilanzsaldo nicht ein Bestimmungsgrund, sondern selbst das Ergebnis von Einkommensbewegungen. Insofern ist die jüngste Verringerung der Defizite innerhalb der Eurozone nicht so positiv zu beurteilen, wie eine reine Saldenbetrachtung dies nahelegt. Es erscheint daher verständlich, dass die Partnerländer in der Währungsunion von höheren Exporten nach Deutschland einen expansiven Impuls erwarten, der den Nachfrageausfall, der durch den Abbau ihrer Budgetdefizite entsteht, kompensieren könnte.
Kindleberger diskutierte in seinem Aufsatz von 1965 neun mögliche Erklärungen für den deutschen Zahlungsbilanzüberschuss:
- Inflation im Ausland,
- Beggar-thy-neighbour-Politik durch Deutschland,
- die Struktur des deutschen Exports,
- eine spezielle deutsche „Exportneigung“,
- die Lohnzurückhaltung der deutschen Arbeitnehmer,
- der Wettbewerb auf dem deutschen Markt,
- die deutsche Neigung zum Sparen oder „Nicht-Absorbieren“,
- Mängel des deutschen Kapitalmarkts,
- Innovation und technischer Fortschritt in Deutschland.
Von diesen neun Argumenten wurde das zweite bereits von Kindleberger selbst in den Bereich der Polemik verwiesen. Schon damals gab es nämlich keinen überdurchschnittlichen Protektionismus in Deutschland, sondern man hatte im Gegenteil durch einseitigen Zollabbau 1956 und Aufwertungen der D-Mark in den Jahren 1961, 1969 und 1971 den eigenen Exportüberschuss gebremst. In Zeiten des gemeinsamen Marktes mit seiner rigiden Wettbewerbsaufsicht ist es noch unwahrscheinlicher geworden, dass Deutschland seine Wettbewerbs- und Beschäftigungsvorteile durch protektionistische Maßnahmen erreicht hätte. Die verbleibenden acht Argumente gliedert Kindleberger in seinem zweiten Artikel in strukturelle (3-6), makroökonomische (1 und 7), institutionelle (8) und wirtschaftspolitische Aspekte (2 und 9).
Strukturelle Aspekte
Schon in Zeiten des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg war die Struktur der deutschen Exporte mit ihren Schwerpunkten in industriellen Fertigwaren, Kapitalgütern und Fahrzeugbau ein Erfolgsfaktor, denn diese Güter unterliegen einer hohen Einkommenselastizität der Nachfrage. Auch in den folgenden Jahrzehnten hat Deutschland besser als seine Konkurrenten der Tendenz zur De-Industrialisierung widerstanden. So machte der Beitrag der Industrie in Deutschland im Jahre 2011 23%, in der EU insgesamt nur mehr 15% des BIP aus.3 Hinzu kam eine hohe Anpassungsfähigkeit in der regionalen Struktur zugunsten der rasch wachsenden Schwellenländer und Chinas. Auf diese Weise wurde der Rückgang deutscher Exportüberschüsse gegenüber der Eurozone zwischen 2008 und 2013 von 58 Mrd. Euro auf 26 Mrd. Euro durch eine Steigerung gegenüber Drittländern von 29 Mrd. Euro auf 66 Mrd. Euro mehr als ausgeglichen.4 Dies kam auch den Partnerländern in der EU, die Vorleistungen an die deutsche Exportindustrie liefern, zugute.
Kindleberger glaubte sogar, in Deutschland eine spezielle Exportneigung (propensity to export) identifizieren zu können. Er verstand darunter die Bereitschaft, zur Verteidigung von Exportmärkten Preiszugeständnisse zu gewähren, die man im Inland nicht machen würde. Ähnliche Behauptungen finden sich auch in Analysen wie der Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute: „Die Exportpreise haben sich im 2. Quartal vergangenen Jahres trotz kräftig steigender Lohnstückkosten kaum erhöht. Maßgeblich war wohl, dass die deutschen Exporteure vor dem Hintergrund der schwachen Dynamik in vielen Abnehmerländern ihre Marktanteile verteidigen wollten und sich deshalb mit Preisanhebungen zurückhielten.“5 Natürlich steht ein solches Verhalten allen Ländern offen, aber vielleicht spielte es für die deutschen Exporteure eine größere Rolle, weil sie vor dem Beginn der Währunsunion damit rechnen konnten, dass der Kostennachteil, z.B. nach einer Aufwertung, nur vorübergehender Natur war.
Weiter bescheinigt Kindleberger den deutschen Arbeitnehmern eine zurückhaltende Lohnpolitik. In den Jahren des Wiederaufbaus lag dies wohl an der zunächst herrschenden Unterbeschäftigung, später am Gastarbeiterzustrom. Für die Jahre des Wirtschaftswunders hatte dies eine flach verlaufende Phillips-Kurve zur Folge. In den späteren Jahrzenten sorgte auch die Globalisierung für maßvolle Lohnerhöhungen. Nach dem Beginn der Währungsunion litt Deutschland zunächst unter dem Abfluss von Kapital in die südlichen Mitgliedsländer und einer damit einhergehenden Wachstumsschwäche, während der Süden und Irland einen Boom mit einem steilen Anstieg ihrer Löhne erlebten. Erst ab etwa 2010 zeigte sich eine gewisse Korrektur der Divergenz zwischen Deutschland und den südlichen Krisenländern, wobei allerdings die Arbeitsmärkte in Italien und Frankreich von der ungünstigeren Beschäftigungslage in ihren Volkswirtschaften ziemlich unbeeindruckt blieben.
Üblich ist es jedoch, die Bedeutung der Lohnkosten für den Außenhandel nur im Zusammenhang mit der Arbeitsproduktivität, also durch die Lohnstückkosten zu beurteilen. In dem hohen Produktivitätsfortschritt sah Kindleberger den Hauptgrund dafür, dass die deutsche Industrie trotz Vollbeschäftigung eine hohe Angebotselastizität aufwies. In den letzten 20 Jahren war dagegen der Produktivitätsfortschritt in Deutschland nicht mehr durchgehend positiv und fiel gegenüber dem der USA zurück.6 Immerhin befindet sich Deutschland noch in einer kleinen Spitzengruppe unterhalb der USA. Allerdings ändert sich die Arbeitsproduktivität nur langsam und beeinflusst selbst wieder die Lohnerhöhungen bei Tarifverhandlungen. Den beherrschenden Einfluss auf die Lohnstückkosten üben also doch die Nominallöhne aus.
Betrachtet man dazu einen Index der Lohnstückkosten z.B. auf Basis des Jahres 2005 von Eurostat, so scheint es, dass die Fehlentwicklungen der letzten Jahre seit 2007 durch eine Gegenbewegung zwischen Deutschland und den Krisenländern ausgeglichen würden, was bereits zu optimistischen Kommentaren über das Ende der Krise führte. Legt man jedoch ein früheres Basisjahr zugrunde, so zeigt sich, dass die Unterschiede tief in den Kostenstrukturen verankert sind. So liegen die Lohnstückkosten von Spanien trotz der neuerlichen Unterschreitung ihres Höchststandes immer noch um 25% über dem Niveau des Jahres 2000, bei Irland sind es 27%, bei Frankreich 30% und bei Italien 37% – bei Deutschland aber nur 11%.7 Auch nach einer Prognose der OECD wird im Jahr 2014 der Index der Lohnstückkosten zum Basisjahr 2000 für die meisten Länder bei 130 liegen, für Spanien bei 127, für Portugal bei 125, für Griechenland bei 115, aber für Deutschland lediglich bei 113.8 Die Anpassung reicht also bei Weitem noch nicht aus. Die Krisenländer wehren sich aber dagegen, dass sie die gesamte Anpassungslast tragen sollen, und verlangen von Deutschland stärkere Lohnerhöhungen. Das würde aber auch die Wettbewerbsposition Deutschlands gegenüber Drittländern sowie die Investitionsanreize im Inland schwächen, was nicht im Interesse der europäischen Partner liegt.
Dazu kommt, dass nicht die Lohnstückkosten allein über die Wettbewerbsfähigkeit entscheiden. Mindestens ebenso stark haben Produktinnovationen, die für eine hohe Einkommenselastizität der Nachfrage nach Exportgütern sorgen, die Leistungsbilanz positiv beeinflusst. So nimmt Deutschland in dem vom World Economic Forum errechneten Global-Competitiveness-Index (GCI-Index) den fünften Rang von 144 Ländern ein und liegt dabei weit vor Frankreich mit Rang 15 und den europäischen Krisenländern.9 Erwähnt sei noch das von Kindleberger unter Punkt 6 angeführte Merkmal des Wettbewerbs auf dem deutschen Binnenmarkt, der auch auf die Exportmärkte ausstrahlt. Dieser Punkt wird jedoch von ihm selbst relativiert und erscheint vor dem Hintergrund des Europäischen Binnenmarktes nicht mehr so relevant.
Makroökonomische Aspekte
Wie ein roter Faden zog sich durch die deutsche Wirtschaftspolitik von der Nachkriegszeit bis zum Beginn der Währungsunion der Kampf gegen die importierte Inflation aufgrund der höheren Inflation im Ausland. Die deutschen Währungsbehörden beschränkten sich dabei nicht auf das wenig erfolgreiche Mittel einer restriktiven Geldpolitik, sondern ergriffen auch zielführendere Maßnahmen wie die Aufwertungen der D-Mark von 1961, 1969 und den Übergang zum Floaten 1973, aber der Wettbewerbsnachteil, welchen die deutschen Exporte durch die Verteuerung der D-Mark zunächst erlitten, wurde alsbald durch die höhere Inflationsrate im Ausland wieder ausgeglichen. Kindleberger betrachtet deshalb das Argument der geringeren Inflation in Deutschland selbst wieder als erklärungsbedürftig. Auch nach Beginn der Währungsunion wurden höhere Inflationsunterschiede festgestellt, als man sie vorher in einem einheitlichen Währungsraum erwartet hatte, und zwar unter dem Einfluss des Booms, der zunächst in den südlichen Mitgliedsländern durch den plötzlichen Kapitalzustrom entstanden war. Zum Beispiel stieg von 2002 bis 2007 das Preisniveau in Spanien um 21,6%, in Griechenland um 15,4%, in Italien um 12,0%, aber in Deutschland nur um 4,8%.10 Diese inflationäre Phase wurde zwar durch die Finanzkrise beendet, aber sie hat tiefe Spuren in den Preisen und Kostenstrukturen der betroffenen Länder hinterlassen und ist daher immer noch für die Leistungsbilanzen von Bedeutung.
Hinter den Inflationsunterschieden standen nach Kindleberger letzten Endes Unterschiede in der Spar- und Absorptionsneigung zwischen Deutschland und seinen Handelspartnern. Damit aus einer Erhöhung des Exports ein Exportüberschuss entsteht, bedarf es auch einer zusätzlichen Ersparnis, denn sonst würden die Importe aufgrund des Einkommenseffekts ebenso stark steigen wie vorher die Exporte. Ex post muss der Leistungsbilanzüberschuss immer gleich dem Überschuss der Ersparnis über die Investition sein, aber die Kausalbeziehung ist durchaus ambivalent: Einerseits kann ein Ex-ante-Überschuss der Ersparnis über die Investition bzw. der Produktion über die Absorption den Export als Ventil verwenden. (Die umgekehrte Situation einer übermäßigen Absorption lag offenbar in der Defizitphase nach der Wiedervereinigung zwischen 1990 und 2001 vor.) Ebenso ist es auch möglich, dass eine von den strukturellen Faktoren erzeugte Exporterhöhung durch ihren Einkommenseffekt eine größere Ersparnis hervorruft, mit der die Investition nicht ganz Schritt halten kann. In der Nachkriegszeit war nach Kindleberger vor allem die hohe Sparneigung für Deutschland charakteristisch und zwar zunächst die Ersparnis der öffentlichen Hand, dann die Unternehmensersparnis in Form von unverteilten Gewinnen und schließlich auch die Sparneigung der privaten Haushalte.
Seit dem Start der Währungsunion ist es eher die Stagnation der Investitionen, die mit dem deutschen Leistungsbilanzüberschuss in Verbindung gebracht wird. Dies gilt besonders für die Anfangsjahre, als die deutsche Wirtschaft stagnierte und in den südlichen Mitgliedsländern unter dem Einfluss des Kapitalzustroms ein Boom entstand. Auch in den Jahren zwischen 2008 und 2013 ist die Bruttoinvestition in Deutschland insgesamt nur um 3,1% gewachsen. Innerhalb Europas schneiden aber nur Österreich mit 11,0% und Schweden mit 20,2% wesentlich besser ab. Fast alle sonstigen europäischen Länder wiesen negative Zuwachsraten, meist in zweistelliger Höhe, auf.11 Mit der Kreislauftheorie ist die Tatsache, dass Deutschland trotz der vergleichsweise höheren Investitionen einen Exportüberschuss erzielte, nur dadurch zu vereinbaren, dass die Ersparnis, vor allem die Unternehmensersparnis, aufgrund einer positiven Gewinnentwicklung stärker zugenommen hatte. Dies deutet darauf hin, dass die strukturellen und wettbewerblichen Bestimmungsgründe des deutschen Leistungsbilanzüberschusses gegenüber dem Argument der niedrigen Absorption dominierten.
Institutionelle Aspekte
Ein Aspekt, den Kindleberger nicht vorhersehen konnte, liegt auf der Hand: Mit dem Eintritt in die Währungsunion wurde der wichtigste Korrekturfaktor für außenwirtschaftliche Ungleichgewichte, nämlich Wechselkursänderungen, außer Kraft gesetzt – zumindest für Ungleichgewichte innerhalb der Währungsunion. Im Prinzip könnte nämlich auch der gemeinsame Außenkurs des Euro einen Beitrag zur Herstellung eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts leisten – praktisch führt er jedoch eher zur Verfestigung der bestehenden Ungleichgewichte. Nach einem Abfall in den ersten Jahren der Währungsunion stieg der Euro gegenüber dem Dollar um ca. 40%. (Die Schwankungen des effektiven Wechselkurses des Euro gegenüber allen wichtigen Handelspartnern waren allerdings gedämpfter.) Dies stimmte in etwa mit der Entwicklung der Leistungsbilanz des Euroraums überein, die von 2002 bis zum Beginn der Finanzkrise 2008 leicht im Plus war. Dieser Saldo ergab sich aus einem kräftigen Überschuss Deutschlands sowie einiger kleinerer Mitgliedsländer und entsprechenden Defiziten der südlichen Staaten. Die letzteren sahen sich also einer Aufwertungstendenz ausgesetzt, die ihrer Situation nicht angemessen war, während Deutschland von einer noch weitergehenden Aufwertungstendenz dank der Zugehörigkeit zum Währungsverbund verschont blieb. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss war, zusammen mit der Rettungspolitik, wohl auch dafür verantwortlich, dass der Euro in der Finanzkrise nur geringfügig nachgab. Mittlerweile wurden die Leistungsbilanzdefizite in den Krisenländern stark vermindert, so dass die Währungsunion insgesamt einen Leistungsbilanzüberschuss aufweist, was wiederum den Eurokurs tendenziell stärkt. Dies ist umso unerwünschter, als der Defizitabbau in den Krisenländern ja mehr einer konjunkturbedingten Verminderung ihrer Importe als einer wiedergewonnenen Konkurrenzfähigkeit zu verdanken ist. Insgesamt zeigt sich, dass die Heterogenität der Mitgliedsländer die Funktion des Eurokurses als Ausgleichsinstrument beeinträchtigt.
Kindleberger befasste sich zwar in seinen beiden Aufsätzen hauptsächlich mit der deutschen Leistungsbilanz; in den institutionellen Abschnitten erörterte er aber auch den Zahlungsbilanzüberschuss, also die Frage, inwieweit der Leistungsbilanzüberschuss nicht durch einen geeigneten Kapitalexport finanziert wurde.12 Es ist ein altes Problem der Zahlungsbilanztheorie, welche Arten von Kapitalexport man hierunter subsumiert, denn insgesamt ist die Zahlungsbilanz definitionsgemäß ausgeglichen. Nach dem damals verbreiteten Konzept der Grundbilanz war eine Zahlungsbilanz im Gleichgewicht, wenn ein Leistungsbilanzüberschuss durch einen langfristigen Kapitalexport in Form von Direktinvestitionen oder Wertpapieranlagen im Ausland ausgeglichen wurde, während ein Ausgleich in Form einer Zunahme der Währungsreserven oder der kurzfristigen Auslandsguthaben einen Überschuss der Zahlungsbilanz kennzeichnete. In dem von Kindleberger untersuchten Zeitraum hatte Deutschland in diesem Sinne nicht nur einen Leistungs-, sondern meist auch einen Zahlungsbilanzüberschuss.
Kindleberger führte dies teilweise auf Mängel des deutschen Kapitalmarkts und zum Teil auf eine übermäßige Liquiditätspräferenz zurück: Der Überschuss an Sparkapital, der dem Exportüberschuss entsprach, wurde eher am Geldmarkt als in ausländischen Wertpapieren gehalten. Auch hier fallen die Parallelen zur gegenwärtigen Situation ins Auge. Seit Beginn der Finanzkrise ist der langfristige private Kapitalexport deutlich zurückgegangen. Der Hauptgrund dafür lag aber nicht mehr in einer höheren Liquiditätspräferenz oder der Dominanz der Banken, sondern in dem drastisch gestiegenen Anlagerisiko, wie es durch die Krisen bei den US-Immobilienpapieren und den südeuropäischen Staatsanleihen ausgelöst wurde. Die Finanzierung der Importüberschüsse und Kapitalexporte der südeuropäischen Länder wurde nun durch Übertragung von Euroguthaben unter Zwischenschaltung der nationalen Notenbanken und der Europäischen Zentralbank auf Bankkonten in den Überschussländern vorgenommen. Im Zuge dieser Überweisungsvorgänge entstanden hohe Guthaben der Deutschen Bundesbank bei der EZB, die als Targetsalden große Aufmerksamkeit gefunden haben, da sie innerhalb des Euroraums gewissermaßen die Rolle der früheren Währungsreserven übernommen haben.
Politikfragen
So überzeugt war Kindleberger von der Persistenz des deutschen Leistungsbilanzüberschusses, dass er jeden Versuch, ihm direkt, z.B. mit Mitteln der Wechselkurspolitik, beizukommen, als vergeblich betrachtete.13 Stattdessen empfahl er, die Kapitalverkehrsbilanz an die Leistungsbilanz anzupassen. Dazu sollten Institutionen geschaffen werden, die in Deutschland die Ersparnis besser kanalisierten und ins Ausland leiteten, da die deutschen Banken dazu offenbar nicht willens waren. Übertragen auf die Gegenwart käme diese Argumentation in gefährliche Nähe zu der Forderung nach Eurobonds. Deren Befürworter betrachten ebenfalls die zeitweise hohen „spreads“ für südeuropäische Staatsanleihen als Folge von „Marktunvollkommenheiten“, die man durch Gemeinschaftsanleihen überwinden sollte. In Wirklichkeit handelt es sich aber eher um durchaus realistische Risikoaufschläge. Grundsätzlich wäre zu bedenken, dass Leistungs- und Kapitalbilanz immer in einer Wechselbeziehung stehen. So hatte schon Kindleberger in einem früheren Aufsatz eingeräumt, dass ein forcierter Kapitalexport den deutschen Leistungsbilanzüberschuss auch vergrößern könnte.14 Aus heutiger Sicht wäre dies z.B. damit zu begründen, dass die begünstigten Länder ihre Reformbemühungen, die sie unter dem Druck des Kapitalmarktes eingeleitet hatten, einstellen könnten.
Welche Politikoptionen bleiben also für Deutschland? Angesichts des mäßigen Wirtschaftswachstums gewinnt das Argument der zu geringen Absorption an Gewicht, wenn auch darin nicht der Hauptgrund für den Leistungsbilanzüberschuss liegt. Die daraus resultierende Forderung, Deutschland sollte durch höhere Investitionen mehr für die Binnennachfrage und damit auch für seinen Import tun, hat zwar nach den aktuellen Konjunkturprognosen gute Aussichten auf Realisierung. Dazu sollte aber auch ein günstiges Investitionsklima in Deutschland geschaffen werden. Förderlich dafür wäre unter anderem eine Rückkehr der südlichen Euroländer auf einen Wachstumspfad, womit allerdings die Gefahr eines Zirkelschlusses entsteht. Auch sollte allmählich der Rückstand bei öffentlichen Investitionen aufgeholt werden, die die deutschen Behörden in ihrem Streben nach Beendigung der Neuverschuldung und damit Erfüllung ihrer Vorbildfunktion in Europa bisher zuließen. Damit würde den Kritikern der deutschen Wirtschaftspolitik viel Wind aus den Segeln genommen, freilich ohne dass dadurch das Dilemma der Währungsunion, das sich aus der Heterogenität der Mitgliedsländer ergibt, schon gelöst wäre.
- 1 C. P. Kindleberger: Germany’s Persistent Balance-of-Payments Disequilibrium, in: R. E. Baldwin et al.: Trade, Growth, and the Balance of Payments. Essays in Honor of Gottfried Haberler, Chicago, Amsterdam 1966, S. 230-248.
- 2 C. P. Kindleberger: Germany’s Persistent Balance-of-Payments Disequilibrium Revisited, in: Banca Nazionale del Lavoro Quarterly Review, 29. Jg. (1976), S. 118-150.
- 3 Institut der deutschen Wirtschaft: Der wiederentdeckte Wachstumsmotor, in: iw-dienst, 39. Jg. (2013), Nr. 19, S. 2.
- 4 Institut der deutschen Wirtschaft: Klischees auf dem Prüfstand, in: iw-dienst, 39. Jg. (2013), Nr. 48, S. 2.
- 5 Gemeinschaftsdiagnose Frühjahr 2013, in: ifo Schnelldienst, Nr. 8/2013, S. 32.
- 6 Vgl. T. S. Eicher, O. Roehn: Sources of the German Productivity Demise, in: German Economic Review, 8. Jg. (2007), S. 211 ff.
- 7 Vgl. http://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/sector_accounts/namq_aux_ulc.
- 8 CESifo Dice Report, 11. Jg. (2013) , Nr. 1.
- 9 The Sustainability-Adjusted Global Competitiveness Index, in: CESifo Dice Report, 11. Jg. (2013), Nr. 3, S. 57.
- 10 The EEAG Report on the European Economy 2014, S. 80.
- 11 Institut der deutschen Wirtschaft: Wachstumssäule bröckelt, in: iw-dienst, 39. Jg. (2013), Nr. 47, S. 5.
- 12 C. P. Kindleberger: Germany’s Persistent Balance-of-Payments Disequilibrium, a.a.O., S. 242 ff.; C. P. Kindleberger: Germany’s Persistent Balance-of-Payments Disequilibrium Revisited, a.a.O., S. 136 ff.
- 13 C. P. Kindleberger: Germany’s Persistent Balance-of-Payments Disequilibrium Revisited, a.a.O., S. 142 ff.
- 14 C. P. Kindleberger: Germany’s Persistent Balance-of-Payments Disequilibrium, a.a.O., S. 244.