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Eine Auswertung der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) ergibt, dass der Organisationsgrad der Gewerkschaften unter den Arbeitnehmern im Jahr 2014 nur noch bei knapp 18% lag. Damit wurde im wiedervereinigten Deutschland ein neuer Tiefstand erreicht. Rekrutierungsdefizite bestehen vor allem bei Frauen, bei Jüngeren und in Ostdeutschland. Außerdem sind Angestellte in den Gewerkschaften ebenso unterrepräsentiert wie Hochqualifizierte.

In Deutschland verteilen sich die gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer auf drei Dachverbände. Dem größten Dachverband, dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), waren Ende 2014 insgesamt 6,1 Mio. Mitglieder angeschlossen, dem zweitgrößten Dachverband, dem beamtenbund und tarifunion (dbb), knapp 1,3 Mio. und dem kleineren Christlichen Gewerkschaftsbund Deutschlands fast 0,3 Mio.1 Daneben gibt es noch einige Berufsgewerkschaften, die keinem der drei Dachverbände angehören, z.B. den Marburger Bund als Vertretung der Klinikärzte. Ein Blick auf die Mitgliederzahlen macht deutlich, dass die acht im DGB zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften vor allem in den 1990er Jahren geschrumpft sind. Nach der Wiedervereinigung zählte der DGB insgesamt 11,8 Mio. Mitglieder, zur Jahrtausendwende nur noch 7,8 Mio.

In den letzten Jahren hat sich das Tempo des Mitgliederverlustes deutlich verlangsamt und fünf der acht DGB-Gewerkschaften können zumindest zeitweise über steigende Mitgliederzahlen berichten. Außerdem gelang es mehreren Gewerkschaften, die Zahl ihrer erwerbstätigen Mitglieder zu steigern.2 Eine Anfang 2015 veröffentlichte Auswertung der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) für das Jahr 2012 sah die Gewerkschaften ebenfalls im Aufwind.3 Sie zeigt, dass die Gewerkschaften ihren Organisationsgrad – definiert als Anteil der erwerbstätigen Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern – im Jahr 2012 gegenüber ihrem historischen Tiefpunkt um 2,6 Prozentpunkte von 18,0% auf 20,6% steigern konnten. Treiber dieses Wachstums waren vor allem abhängig beschäftigte Männer. Diese Gruppe erzielte zwischen 2006 und 2012 einen Zuwachs um 3,4 Prozentpunkte. Die Analyse macht allerdings auch deutlich, dass die Gewerkschaften bei solchen sozio-ökonomischen Gruppen Rekrutierungsdefizite aufweisen, die auf dem Arbeitsmarkt an Bedeutung gewinnen.

Im vorliegenden Beitrag wird auf Basis des im Mai 2015 freigegebenen ALLBUS-Datensatzes für 2014 untersucht, ob die positive Mitgliederentwicklung angehalten hat und wo die Schwachpunkte in der Mitgliederstruktur liegen. Dazu wird die Mitgliederstruktur der Gewerkschaften mit der Struktur der abhängig Beschäftigten verglichen. Die ALLBUS-Befragungen werden seit 1980 alle zwei Jahre durchgeführt, 1991 kam erstmals Ostdeutschland hinzu. Bei jeder Erhebungswelle wird eine neue Zufallsstichprobe gezogen. Es werden also nicht immer dieselben Personen befragt. Den Wellen liegen jeweils zwischen 3000 und 3500 standardisierte Interviews zugrunde. Die Zahl der darin enthaltenen Arbeitnehmer schwankt zwischen 1156 und 1640 Personen. Letzteres war in der Befragung von 2014 das bisherige Maximum. Als Arbeitnehmer gelten Personen, die bei der Frage nach der beruflichen Stellung angeben, Angestellter, Arbeiter oder Beamter zu sein. Mini-Jobber werden demnach beim Organisationsgrad der Arbeitnehmer nicht berücksichtigt. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft wird seit 2004 mit: „Darf ich Sie fragen, ob Sie derzeit Mitglied einer Gewerkschaft sind?“ abgefragt. Durch diese allgemeine Fragestellung ist eine Unterscheidung nach einzelnen Dachverbänden oder Einzelgewerkschaften nicht möglich. Der ALLBUS hat sich als Datenbasis zur Analyse der Mitgliederstruktur inzwischen fest etabliert.4

Mitgliederverluste nach Zwischenhoch

Die Auswertung des neuen ALLBUS-Datensatzes für 2014 zeigt, dass sich der Aufwärtstrend nicht fortgesetzt hat. Der Organisationsgrad der Arbeitnehmer ist zwischen 2012 und 2014 um gut 3 Prozentpunkte auf 17,5% gesunken (vgl. Abbildung 1). Dieser Befund wird durch die absoluten Mitgliederzahlen des DGB gestützt, wenngleich diese neben den aktiven auch die inaktiven Gewerkschaftsmitglieder (Arbeitslose oder Rentner) einbeziehen. Im Jahr 2012 ging die Mitgliederzahl um 4715 zurück, 2013 um 8435, 2014 aber schon um 37 989 Personen.

Abbildung 1
Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Deutschland
Anteil der aktiven Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern in %
31181.png

a Abweichende Berechnungsgrundlage für 1998.

Quelle: ALLBUS, eigene Berechnungen.

Die jüngsten ALLBUS-Daten machen deutlich, dass die Verluste vor allem bei den Männern auftraten. In dieser Gruppe sank der Organisationsgrad um 5,5 Prozentpunkte auf 20,6%, während die Beitrittsneigung der Frauen mit 14,8% sogar leicht über den Werten der beiden letzten Befragungen lag (jeweils 14,2%). Frauen sind demnach schlechter organisiert als Männer. Sie sind aber auch unterrepräsentiert: Sie stellen nur 37% aller Gewerkschaftsmitglieder, aber 46% der abhängig Beschäftigten. Da Männer häufiger Vollzeit arbeiten als Frauen, zeigt sich beim Vergleich der Beschäftigungsformen ein ähnliches Bild wie beim Geschlechtervergleich. Der Organisationsgrad ist bei Vollzeitbeschäftigten mit 18,3% um fast 4 Prozentpunkte höher als bei Teilzeitbeschäftigten, am aktuellen Rand hat er aber deutlich abgenommen (vgl. Abbildung 1).

Der Ost-West-Vergleich offenbart große regionale Unterschiede (vgl. Abbildung 2). Während der Organisationsgrad im Westen bei 18,7% liegt, sind es im Osten nur 11,8%. Gegenüber den ALLBUS-Daten für 2012 ergibt sich im Osten ein Rückgang von mehr als 5 Prozentpunkten. Im Westen sind es weniger als 3 Prozentpunkte. Frauen und Teilzeitbeschäftigte haben im Osten überproportional zu diesem Rückgang beigetragen. Im Westen zeigt sich ein ähnliches Bild wie für Gesamtdeutschland.

Abbildung 2
Gewerkschaftlicher Organisationsgrad in Ost- und Westdeutschland 2014
Anteil der aktiven Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern in %
31227.png

Quelle: ALLBUS, eigene Berechnungen.

Nicht repräsentative Mitgliederstruktur

Teilt man die Arbeitnehmer in Altersgruppen ein, ist ein linearer Zusammenhang zwischen Altersklasse und Organisationsgrad erkennbar (vgl. Abbildung 3): Die Klasse der 18- bis 30-Jährigen ist im Durchschnitt zu 12,1% organisiert, die Klasse der 31- bis 40-Jährigen zu 14,4%, die der 41- bis 50-Jährigen zu 18,3% und die der über 50-Jährigen zu 22,2%. Damit weisen die älteren Arbeitnehmer einen fast doppelt so hohen Organisationsgrad auf wie die Jüngeren. Berechnungen zur Altersstruktur der Gewerkschaftsmitglieder im Vergleich zur gesamten Arbeitnehmerschaft zeigen, dass die Gewerkschaftsmitglieder überaltert sind. Die beiden älteren Gruppen stellen 70% der Gewerkschaftsmitglieder, aber nur gut 60% aller Arbeitnehmer (vgl. Tabelle 1). Umgekehrt stellen die beiden jüngeren Gruppen (Arbeitnehmer bis 40 Jahre) nur 30% der Mitglieder, aber 40% aller Arbeitnehmer.

Tabelle 1
Mitglieder- versus Arbeitnehmerstruktur 2014
Anteil der jeweiligen Gruppe an allen Mitgliedern bzw. Arbeitnehmern in %
  Mitglieder Alle Arbeitnehmer
Altersklassen    
18 bis 30 Jahre 12,2 17,6
31 bis 40 Jahre 17,9 21,9
41 bis 50 Jahre 31,4 30,1
51 Jahre und älter 38,5 30,4
Qualifikation    
Hoch 3,2 5,8
Gehoben 49,5 46,3
Mittel 37,3 36,3
Niedrig 10,1 11,6
Berufliche Stellung    
Beamte 13,3 6,9
Angestellte 58,5 68,2
Arbeiter 28,2 25,0
Betriebsgrößenklassen    
1 bis 9 Beschäftigte 8,9 16,9
10 bis 49 Beschäftigte 14,3 26,1
50 bis 199 Beschäftigte 26,7 23,0
200 bis 499 Beschäftigte 18,9 12,8
500 bis 999 Beschäftigte 9,0 6,4
1000 und mehr Beschäftigte 22,0 14,7

Quelle: ALLBUS, eigene Berechnungen.

Abbildung 3
Gewerkschaftlicher Organisationgrad nach Altersklassen 2014
Anteil der aktiven Gewerkschaftsmitglieder an den Arbeitnehmern verschiedener Altersklassen in %
31197.png

Quelle: ALLBUS, eigene Berechnungen.

Im langfristigen Vergleich ist ein deutlicher Wandel in der Altersstruktur der Gewerkschaften zu beobachten.5 Im Durchschnitt der Befragungen von 1994 bis 2000 stellten die beiden mittleren Altersgruppen jeweils 30%, zusammen also 60%. Die Gruppe der 18- bis 30-Jährigen stellte damals 19% und die Gruppe der über 50-Jährigen 21% aller Mitglieder. Im Durchschnitt der Befragungen von 2002 bis 2006 wuchs zunächst die Gruppe der 41- bis 50-Jährigen auf über 37% an und 2008 bis 2012 dann die Gruppe der Über-50-Jährigen auf 36%. Insgesamt entfielen in diesem Zeitraum auf die beiden älteren Gruppen fast 70% aller Mitglieder. Die Beschäftigten aus den in den 1990er Jahren noch gut organisierten mittleren Alterskohorten sind nach und nach in die beiden ältesten Altersgruppen hineingewachsen, ohne dass es aus der jüngsten Altersgruppe einen entsprechenden Zuwachs gegeben hätte. Setzt sich diese Entwicklung fort, altern die Gewerkschaften auch in Zukunft stärker als die Erwerbsbevölkerung.

Die Überalterung wirft langfristig ein weiteres Problem auf. Da die bestorganisierte Gruppe der über 50-Jährigen aufgrund der gesetzlichen Erhöhung des Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre länger im Erwerbsleben bleibt, wird sich vorübergehend eine Stabilisierung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads einstellen. Scheiden diese Altersjahrgänge dann aber sukzessive aus, ohne durch Zugänge bei den Jüngeren kompensiert zu werden, wird der Organisationsgrad langfristig weiter sinken.

Weitere Merkmale der Mitgliederstruktur sind der berufliche Status sowie die Qualifikation.6 Im Durchschnitt aller drei Beschäftigtengruppen (Angestellte, Arbeiter, Beamte) liegen die Organisationsgrade in den beiden mittleren Qualifikationsgruppen deutlich über denen der beiden übrigen Gruppen (vgl. Tabelle 2). Die überdurchschnittliche Organisationsneigung der mittleren Gruppen wirkt sich auf die Qualifikationsstruktur der Gewerkschaftsmitglieder aus (vgl. Tabelle 1). Fast 87% der Gewerkschaftsmitglieder weisen eine mittlere bis gehobene Qualifikation aus und lediglich 3,2% eine hohe. Hochqualifizierte stellen aber 5,8% aller Arbeitnehmer. In den Gewerkschaften sind die Mitglieder mit hoher Qualifikation demnach unterrepräsentiert. Insgesamt weicht die Qualifikationsstruktur der Gewerkschaftsmitglieder allerdings nicht stark von der Qualifikationsstruktur aller abhängig Beschäftigten ab.

Tabelle 2
Gewerkschaftlicher Organisationsgrad nach beruflichem Status und Qualifikation 2014
Anteil der aktiven Gewerkschaftsmitglieder an allen Arbeitnehmern in %
Qualifikation Beruflicher Status
Hoch 9,5 Beamte 34,1
Gehoben 18,7 Angestellte 15,1
Mittel 18,0 Arbeiter 19,8
Niedrig 15,3    

Quelle: ALLBUS, eigene Berechnungen.

Die Neigung, sich gewerkschaftlich zu organisieren, hängt auch vom beruflichen Status ab.7 Dabei fällt nach wie vor der hohe Organisationsgrad der Beamten auf (vgl. Tabelle 2). Im Vergleich zu früheren Befragungszeitpunkten zeigen sich bei der Organisationsneigung von Arbeitern und Beamten Rückgänge, während die der Angestellten weitgehend stabil geblieben ist. Der hohe Organisationsgrad bei den Beamten hat zur Folge, dass Beamte 13,3% aller Gewerkschaftsmitglieder stellen (vgl. Tabelle 1). Bezogen auf alle Arbeitnehmer machen die Beamten aber nur 6,9% aus, sodass diese Gruppe deutlich überrepräsentiert ist. Auf der anderen Seite sind die Angestellten als größte Beschäftigtengruppe deutlich unterrepräsentiert. Überraschend ist, dass Arbeiter in den Gewerkschaften nur leicht überrepräsentiert sind. Sie machen 28,2% der Gewerkschaftsmitglieder aus, stellen aber auch 25,0% aller abhängig Beschäftigten. Werden der Berufsstatus und die Qualifikation kombiniert betrachtet, zeigt sich, dass Beamte aller Qualifikationsgruppen und Facharbeiter am stärksten organisiert sind. Das größte Organisationsdefizit besteht demnach bei den Angestellten, und zwar in allen Qualifikationsgruppen.8 Da die Gruppe der Angestellten weiter wachsen wird, müssen die Gewerkschaften dort besser rekrutieren.

Gewerkschaftliche Verankerung und Betriebsgröße

Auch die Betriebsgröße beeinflusst die Beitrittsneigung.9 Je größer der Betrieb, desto höher ist im Allgemeinen der Organisationsgrad der Mitarbeiter. Abbildung 4 bestätigt frühere empirische Befunde, wonach der Zusammenhang nicht linear, sondern eher treppenförmig verläuft. In den Betriebsgrößenklassen mit weniger als zehn Beschäftigten und zehn bis weniger als 50 Beschäftigten sind weniger als 10% der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied. Ab einer Betriebsgröße von 50 Mitarbeitern ist dann eine deutliche Sprungstelle zu beobachten. In mittelgroßen Betrieben (50 bis 199 Mitarbeiter) liegt der Organisationsgrad mit 20,4% bereits knapp 3 Prozentpunkte über dem Durchschnitt aller Betriebsgrößen. Eine zweite, allerdings kleinere Sprungstelle zeigt sich bei Betrieben mit mindestens 200 Beschäftigten. Interessant ist, dass Großbetriebe mit mehr als 1000 Mitarbeitern einen nur unwesentlich höheren Organisationsgrad aufweisen als mittelgroße Betriebe.

Abbildung 4
Gewerkschaftsmitglieder nach Betriebsgröße 2014
Anteil der aktiven Gewerkschaftsmitglieder an den Arbeitnehmern nach Betriebsgröße in %
31237.png

Quelle: ALLBUS, eigene Berechnungen.

Bei diesen Daten ist zu berücksichtigen, dass die meisten Arbeitnehmer in kleineren Betrieben arbeiten und in der ALLBUS-Stichprobe nur wenige Befragte aus großen Betrieben enthalten sind. Dies führt zu statistischen Ausschlägen. Trotz statistischer Einschränkungen scheint der treppenförmige Zusammenhang ein valides empirisches Ergebnis zu sein. Außerdem ist im intertemporalen Vergleich der letzten zwanzig Jahre zu erkennen, dass der Organisationsgrad in allen Betriebsgrößenklassen deutlich abgenommen hat, auch bei den Großbetrieben.

Vergleicht man die Verteilung der Gewerkschaftsmitglieder auf die einzelnen Betriebsgrößenklassen mit der entsprechenden Verteilung aller Arbeitnehmer, zeigen sich weitere strukturelle Probleme der Gewerkschaften (vgl. Tabelle 1). Nach den ALLBUS-Daten arbeiten 43% aller Arbeitnehmer in Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeitern, die Gewerkschaften rekrutieren dort aber nur halb so viele Mitarbeiter (23,2%). Umgekehrt stammen 22,0% der Gewerkschaftsmitglieder aus Großbetrieben (mehr als 1000 Mitarbeiter), während diese lediglich 14,7% aller Arbeitnehmer beschäftigen. Den Anteil in kleinen Betrieben zu steigern, ist schwierig, weil in Firmen dieser Betriebsgröße Betriebsräte, die die Gewerkschaften bei der Mitgliederwerbung unterstützen können, selten sind. Auswertungen des IAB-Betriebspanels zeigen, dass gerade einmal 5% aller Betriebe mit fünf bis 50 Mitarbeitern einen Betriebsrat haben.10 In Betrieben mit mehr als 200 Mitarbeitern sind Betriebsräte schon fast die Regel, sodass die Gewerkschaften auch einen besseren Zugang zu den Arbeitnehmern erhalten.

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad mit 17,5% nicht nur einen Tiefstand erreicht hat, sondern einer Revitalisierung der Gewerkschaften auch verschiedene strukturelle Probleme im Wege stehen. Es gibt bestimmte Beschäftigtengruppen wie Frauen, Jüngere, Angestellte oder Hochqualifizierte, die unter den Gewerkschaftsmitgliedern unterrepräsentiert sind. Dies ist insofern bemerkenswert, als die meisten Einzelgewerkschaften die Mitgliederwerbung inzwischen als zentrale Herausforderung angenommen haben. Aber selbst eine Stabilisierung der absoluten Mitgliederzahlen, wie sie zwischen 2010 und 2012 zu beobachten war, genügt nicht, um bei einer steigenden Beschäftigung den Organisationsgrad und damit die Verankerung der Gewerkschaften in der Arbeitnehmerschaft zu halten. Das gilt umso mehr, als die gewerkschaftliche Verankerung in Beschäftigtengruppen unterdurchschnittlich ist, die auf dem Arbeitsmarkt an Bedeutung zunehmen. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich für die Gewerkschaften die strategische Frage, ob sie nur bestimmte Gruppen oder alle Arbeitnehmer repräsentieren wollen.

Gewerkschaftsprogrammatik und Arbeitnehmerpräferenzen

Die Orte der Mitgliederwerbung sind die Betriebe, aber auch außerbetriebliche soziale Milieus wie das familiäre oder private Umfeld.11 Die Beitrittsneigung wird dabei auch vom Image der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit beeinflusst. Ein Imageverlust dämpft die Bereitschaft, Mitglied zu werden.12 Ist das Image erst einmal beschädigt, dauert es lange, es wieder aufzubauen. Und es dauert noch länger, bis ein Imagegewinn zu einer steigenden Beitrittsbereitschaft führt.

Wie die Gewerkschaften in der Öffentlichkeit gesehen werden, hängt auch von der Nähe der Gewerkschaften zu den in der Bevölkerung verbreiteten wirtschaftspolitischen Einstellungen ab. Letztere sind aber nicht konstant. Sie verändern sich mit einschneidenden politischen Erfahrungen wie dem Scheitern der sozialistischen Planwirtschaft oder den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Damit ändert sich für die Gewerkschaften das gesellschaftliche Klima, in dem sie agieren. Eine empirische Analyse der wirtschaftspolitischen Einstellungen der Arbeitnehmer zeigt, dass sich die Gewerkschaften nach der Wiedervereinigung programmatisch von einer Mehrheit der Arbeitnehmer entfernten und dies die Beitrittsbereitschaft negativ beeinflusste.

Anhand eines Liberalitätsindexes wurde nachgewiesen, dass zwischen 1984 und 2004 immerhin 9% des in dieser Zeitspanne beobachteten Organisationsrückgangs von 11,2 Prozentpunkten durch die veränderte Haltung der Arbeitnehmer zu wirtschaftspolitischen Fragen erklärt werden können.13 Der Liberalitätsindex wurde aus drei weiteren im ALLBUS gestellten Fragen zusammengesetzt. Erstens wurde gefragt, ob sich ein Zusammenschluss mit anderen lohne, um politisch oder gewerkschaftlich für eine Sache zu kämpfen. Zweitens wurde um eine Einschätzung der Aussage gebeten, nach der die Wirtschaft nur funktioniere, wenn die Unternehmer gute Gewinne machen, was letzten Ende allen zugutekomme. Und drittens wurde die Aussage vorgelegt, ob der Staat dafür sorgen müsse, dass jeder Arbeit hat und die Preise stabil bleiben, auch wenn das die Freiheiten der Unternehmer einschränke. Die zweite Frage geht mit umgekehrtem Vorzeichen in den Index ein, der auf einen Wertebereich von 1 bis 4 normiert ist. Der durchschnittliche Indexwert nahm von 2,51 Punkten 1984 über 2,56 Punkte (1994) auf 2,63 Punkte 2004 zu – die Arbeitnehmer wurden also zwischen 1984 und 2004 wirtschaftsliberaler.

Damit standen die Gewerkschaften vor der Herausforderung, ideologische Positionen zurückzustellen und pragmatischer zu handeln – Herausforderungen die sie teilweise auch annahmen. So trugen sie ab Mitte der 1990er Jahre bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 eine beschäftigungsorientierte Lohnpolitik mit.14 Diesem tarifpolitischen Pragmatismus stand und steht aber eine nach wie vor anti-liberale wirtschafts- und sozialpolitische Haltung gegenüber. Besonders sichtbar war dies bei der Ablehnung der arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge der „Agenda 2010“, bei der Kampagne für einen gesetzlichen Mindestlohn und beim Einfordern von mehr Umverteilung oder Verteilungsgerechtigkeit.15

In der jüngsten ALLBUS-Befragung aus dem Jahr 2014 wurden die drei dem Index zugrundeliegenden Fragen erstmals seit 2004 wieder gestellt. Eine aktualisierte Auswertung ergibt, dass der Wirtschaftsliberalitätsindex nur noch bei 2,51 Punkten liegt und damit wieder auf das Ausgangsniveau von 1984 gesunken ist. Damit sind die Arbeitnehmer wieder „anti-liberaler“ geworden. Eine mögliche Erklärung für diesen Rückgang dürfte die Finanz- und Wirtschaftskrise sein. Sie ist nach Lesart der Gewerkschaften entstanden, weil ein unkontrollierter Marktmechanismus zu Instabilität führt und der Staat deshalb korrigierend eingreifen muss, was sich auch an der erfolgreichen Umsetzung von Konjunkturprogrammen während der Krise zeigte. Weniger liberal sind die Arbeitnehmer vielleicht auch, weil die anhaltend gute Arbeitsmarktverfassung Begehrlichkeiten weckt. Die stabile wirtschaftliche Lage erlaubt es nach verbreiteter Auffassung, neue sozialpolitische Instrumente auszuprobieren.

Wie sich die Veränderung der wirtschaftspolitischen Einstellungen der Arbeitnehmer auf die Mitgliederentwicklung ausgewirkt hat, lässt sich im Rahmen dieser deskriptiven Analyse nicht beantworten. Unbestritten ist aber, dass sich das allgemeine wirtschaftspolitische Klima wieder zugunsten der Gewerkschaften verbessert hat. Damit die Gewerkschaften hieraus mittelfristig einen Nutzen ziehen können, müssen allerdings zwei Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss sich die beobachtbare Veränderung der wirtschaftspolitischen Einstellungen in einen Imagegewinn der Gewerkschaften niederschlagen. Und zweitens müsste ein solcher Imagegewinn in steigende Mitgliederzahlen münden. Der Weg, über ein besseres Image außerbetriebliche soziale Milieus zu generieren, in denen es „en vogue“ ist, Gewerkschaftsmitglied zu sein, scheint also eher steinig. Entscheidender dürfte sein, dass ein Austrittsmotiv entfallen ist, das darauf beruht, dass Gewerkschaften als „zu“ ideologisch wahrgenommen werden. Dies stabilisiert zwar die gegenwärtige gewerkschaftliche Verankerung, bringt aber nicht notwendigerweise Mitgliedergewinne.

Herausforderungen

In einem Umfeld mit steigender Beschäftigung reicht eine Stabilisierung der Mitgliederzahlen nicht aus, um die relative Verankerung in der Arbeitnehmerschaft zu sichern. Die Gewerkschaften stehen deshalb vor der Herausforderung, die Mitgliederentwicklung an die allgemeine Beschäftigungsentwicklung anzukoppeln. Damit das erreicht wird, müssen die Gewerkschaften verstärkt jene Gruppen in ihr Blickfeld nehmen, deren arbeitsmarktpolitische Bedeutung wächst: Frauen, Jüngere, Angestellte und Hochqualifizierte. Ver.di hat dazu die Strategie gewählt, Frauenberufe aufzuwerten. Die häufig von Frauen verrichtete „Arbeit am Menschen“ soll genauso gut bezahlt werden, wie die häufig von Männern verrichtete „Arbeit an Maschinen“. Der Erfolg einer solchen Kampagne hängt aber letztlich davon ab, ob die geweckten Erwartungen auch erfüllt werden können. Eine Tarifbewegung, die auch den Arbeitskampf einschließt, mag kurzfristig ein „Wir-Gefühl“ erzeugen und das Image verbessern. Mitglieder lassen sich auf Dauer aber nur gewinnen, wenn eine Gewerkschaft ihre Ziele auch erreicht.

Damit rückt das Erwartungsmanagement in den Fokus der Mitgliederwerbung. Die IG Metall stützt sich dabei auf Mitgliederbefragungen. An der 2013 unter dem Motto „Arbeit – sicher und fair“ durchgeführten Beschäftigtenbefragung nahmen mehr als eine halbe Million Arbeitnehmer teil.16 Die Organisation holte sich ein umfassendes Stimmungsbild der Basis zu den Themen Arbeitszeit, Vereinbarkeit von Arbeit und Leben, Weiterbildung und berufliche Entwicklung, alters- und alternsgerechtes Arbeiten sowie Altersvorsorge und flexible Rentenübergänge ein. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse werden Debatten angestoßen und tarifpolitische Strategien entwickelt. Dieser Weg stellt sicher, dass alle Beschäftigtengruppen angesprochen werden. Er bietet dennoch die Chance, nicht nur allgemeine Probleme zu identifizieren, sondern auch die spezifischen Probleme bestimmter Gruppen, für die dann passende Problemlösungen entwickelt werden können. Auf diese Weise schafft die Mitgliedereinbindung eine wichtige Voraussetzung dafür, zumindest thematisch alle Beschäftigtengruppen zu vertreten. Sie ermöglicht es aber auch, im Diskussionsprozess Erwartungen zu managen sowie realistische Ziele und Zeithorizonte für deren Umsetzung zu formulieren.

Wollen die Gewerkschaften auch mit dem Ziel der Mitgliedergewinnung in der öffentlichen Diskussion als starke Stimme für Arbeitnehmerinteressen insgesamt wahrgenommen werden, muss die Gewerkschaftsprogrammatik sowohl den Mitgliedern als auch deren Umfeld Antworten und Perspektiven geben. Bei veränderten Arbeitnehmereinstellungen gilt es, die Balance aus dem wirtschaftspolitisch Notwendigen und dem sozialpolitisch Wünschbaren immer wieder neu zu justieren.

  • 1 Vgl. http://www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen; http://www.dbb.de/teaserdetail/artikel/dbb-mitgliederzahl-steigt-erneut-1/archivliste/2014/Dezember.html; http://www.cgb.info/aktuell/aktuelles.html.
  • 2 DGB: Täglich 840 neue Mitglieder, in: Einblick, Nr. 2/2015, S. 5, http://einblick.dgb.de/++co++3732cca2-a54b-11e4-a18b-52540023ef1a.
  • 3 C. Anders, H. Biebeler, H. Lesch: Mitgliederentwicklung und politische Einflussnahme: Die deutschen Gewerkschaften im Aufbruch?, in: IW-Trends, 42. Jg. (2015), H. 1, S. 21-36.
  • 4 Z.B. C. Schnabel, J. Wagner: Trade Union Membership in Eastern and Western Germany: Convergence or Divergence, in: Applied Economics Quarterly, 49. Jg. (2003), H. 3, S. 213-232; dies.: The Aging of the Unions in West Germany, 1980-2006, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 228. Jg. (2012), H. 5+6, S. 479-511; H. Biebeler, H. Lesch: Mitgliederstruktur der Gewerkschaften in Deutschland, in: IW-Trends, 33. Jg. (2006), H. 4, S. 45-58; dies.: Arbeitnehmerinteressen und Gewerkschaftsprogrammatik – Was sagt die Empirie?, in: IW-Trends, 37. Jg. (2010), H. 4, S. 95-109.
  • 5 C. Schnabel, J. Wagner: The Aging of the Unions ..., a.a.O., S. 501 f.; C. Anders, H. Biebeler, H. Lesch, a.a.O., S. 26 f.
  • 6 Die hier gewählte vierstufige Qualifikationsstruktur lehnt sich an die Laufbahnklassifizierung der Beamten an. Bei den Arbeitern entsprechen Ungelernte der Qualifikationsstufe „niedrig“, Angelernte der Stufe „mittel“, Fach- und Vorarbeiter der Stufe „gehoben“ und Meister bilden die Stufe „hoch“. Bei den Angestellten entsprechen einfache (angelernte) Tätigkeiten der Stufe „niedrig“, schwierige Tätigkeiten (in der Regel solche mit Berufsabschluss) der Stufe „mittel“, selbständige Tätigkeiten der Stufe „gehoben“ und Führungsfunktionen der Stufe „hoch“.
  • 7 H. Biebeler, H. Lesch: Mitgliederstruktur der Gewerkschaften in Deutschland ..., a.a.O., S. 50.
  • 8 C. Anders, H. Biebeler, H. Lesch, a.a.O., S. 29.
  • 9 J. Pyhel: Warum ist man Gewerkschaftsmitglied? – Determinanten der Mitgliedschaftsneigung, in: WSI-Mitteilungen, 59. Jg. (2006), H. 6, S. 343 ff.; und H. Biebeler, H. Lesch: Zwischen Mitgliedererosion und Ansehensverlust: Die deutschen Gewerkschaften im Umbruch, in: Industrielle Beziehungen, 14. Jg. (2007), H. 2, S. 143 ff.
  • 10 P. Ellguth, S. Kohaut: Tarifbindung und betriebliche Interessenvertretung: Ergebnisse aus dem IAB-Betriebspanel 2014, in: WSI-Mitteilungen, 68. Jg. (2015), H. 4, S. 294.
  • 11 M. Behrens: Die Rolle der Betriebsräte bei der Werbung von Gewerkschaftsmitgliedern, in: WSI-Mitteilungen, 58. Jg. (2005), H. 6, S. 329-338.
  • 12 J. Pyhel, a.a.O., S. 342.
  • 13 H. Biebeler, H. Lesch: Zwischen Mitgliedererosion und Ansehensverlust ..., a.a.O., S. 148.
  • 14 H. Lesch: Lohnpolitik 2000 bis 2009 – Ein informelles Bündnis für Arbeit, in: IW-Trends, 37. Jg. (2010), H. 1, S. 77-90.
  • 15 H. Biebeler, H. Lesch: Arbeitnehmerinteressen und Gewerkschaftsprogrammatik ..., a.a.O.
  • 16 IG Metall: Beschäftigtenbefragung 2013, http://www.igmetall.de/Beschaeftigtenbefragung_Analyse_der_Ergebnisse_
    110c93ad47b3becfae2b44d6e0839716d34950b2.pdf.

Title:Organisational Deficiencies of German Trade Unions

Abstract:The results of the recently released German General Social Survey (ALLBUS) show that in 2014 the net density rate of trade unions in Germany declined to less than 18 per cent. This was the lowest level since German unification. An in-depth analysis of union membership reveals that unionisation of male, full-time and older employees is above average. The latest membership decline will continue if the unions do not succeed in organising more women, young people and white collar workers. Furthermore, unions have not yet been able to profit from scepticism towards liberal economic policies, which has slightly grown within the group of employees since 2004, as the index of economic freedom reveals.

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DOI: 10.1007/s10273-015-1891-y