Seit einigen Jahren erfährt Deutschland aufgrund der seit Jahrzehnten sehr geringen Geburtenrate tiefgreifende demografische Veränderungen, die zu einer Alterung und Schrumpfung der Bevölkerung führen. Zu diesem chronischen demografischen Grundproblem gesellt sich eine Entwicklung mit deutlich ausgeprägter Dynamik. Starke Binnenwanderungsbewegungen lassen einige wenige Ballungszentren stark wachsen, während viele Regionen mit der Abwanderung großer Teile ihrer Bevölkerung zu kämpfen haben. So ist beispielweise die Bevölkerung in Berlin zwischen 2011 und 2013 um 95 000 Menschen gewachsen, in München um fast 43 000 und in Hamburg um fast 30 000. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, wichtig sind die hohe Attraktivität der Großstädte und der Beschäftigungsaufbau in den Ballungszentren. Zudem weist die infrastrukturelle Versorgung vieler ländlicher Räume (Ärzte, Breitband, Verkehr etc.) Mängel auf. Eine weitere Herausforderung ist, dass die Zuwanderung aus dem Ausland in den letzten Jahren sprunghaft angezogen ist. Unmittelbar betroffen sind auch die Wohnungsmärkte, da die Zahl, Struktur und Wanderung von Bevölkerungsgruppen die Nachfrage nach Wohnflächen bestimmen. Die Versorgung mit Wohnraum ist in einigen Metropolen sehr schwierig, da die hohe zusätzliche Nachfrage nur verzögert durch den Neubau von Wohnungen ausgeglichen werden kann. Gleichzeitig besteht in vielen ländlichen Regionen ein Überangebot, so dass zunehmend mehr Wohnungen leer stehen.
Demografischer Zusatzbedarf
Das IW-Wohnungsbedarfsmodell1 bestimmt den Wohnungsbedarf auf Basis der individuellen Wohnflächennachfrage pro Kopf, die zusammen mit der demografischen Entwicklung der Bevölkerung zur Wohnflächennachfrage auf Kreisebene aggregiert wird. Datengrundlage für die Bestimmung des Pro-Kopf-Konsums ist das sozio-ökonomische Panel (SOEP). Da der Wohnflächenkonsum pro Kopf in der Vergangenheit stetig gestiegen ist, kann auch für die Zukunft mit einem weiteren, aber nachlassenden Wachstum des individuellen Wohnflächenkonsums gerechnet werden. Darin spiegeln sich Trends wie die Singularisierung von Haushalten wider, die zu einem Anstieg des gesamten durchschnittlichen Wohnflächenkonsums führen. Die künftige Entwicklung des Wohnflächenkonsums pro Kopf wurde mit Hilfe eines Zeitreihenmodells bis 2030 in Abhängigkeit des Alters geschätzt.2 Zwei wesentliche Effekte wurden somit berücksichtigt: Erstens der Kohorteneffekt, der abbildet, wie sich der Wohnflächenkonsum von Generation zu Generation entwickelt und zweitens der Altersstruktureffekt, der berücksichtigt, dass mit zunehmendem Alter eine Person seinen Konsum von Wohnfläche ausweitet. Beide Effekte führen dazu, dass der Wohnflächenkonsum bis 2030 um 11% ansteigen wird. Diese Schätzung der individuellen altersabhängigen Wohnflächennachfrage pro Kopf wird anschließend mit den kreisscharfen Bevölkerungsprognosen der Bertelsmann Stiftung3 verknüpft und ergibt so die Schätzung des aggregierten Wohnflächenbedarfs für 2015, 2020, 2025 und 2030. Von diesen Zahlen ausgehend kann der demografisch bedingte Baubedarf mit Hilfe einer jeweilig kreistypisch berechneten Wohnungsgröße, d.h. der durchschnittlichen Wohnungsgröße aus der Bautätigkeit der vergangenen fünf Jahre, berechnet werden. Eine Unterteilung in Ein-, Zwei- oder Mehrfamilienhäuser ist somit nicht explizit, aber implizit berücksichtigt. Der ermittelte Wohnungsbedarf wird um eine sogenannte Fluktuationsreserve korrigiert, die einer Leerstandsrate von 2,5% entspricht. Auf diese Weise ergibt sich ein kreisscharfer demografisch bedingter Wohnungsbedarf.
Ersatzbedarf
Neben dem demografisch bedingten zusätzlichen Wohnungsbedarf entsteht weiterer Baubedarf durch die physische und wirtschaftliche Abnutzung in Form von Abbruch oder aber auch Zusammenlegungen von bestehendem Wohnraum. Zur Bestimmung des regionalen Ersatzbedarfes wurden die Abgangsstatistiken detaillierter analysiert. Die Abgangsquoten hängen von einer Vielzahl von Determinanten ab. Dabei weisen Geschosswohnungen eine rund ein Drittel höhere Abgangsquote auf als Ein- und Zweifamilienhäuser.4 Neben dem Gebäudetyp ist auch ein Unterschied zwischen Ost und West festzuhalten. In den ostdeutschen Bundesländern war die Quote des Ersatzbedarfs zwischen 2005 und 2013 fünfmal so hoch wie in den westdeutschen Bundesländern (West 0,05%, Ost 0,25%), was vor allem auf umfangreiche staatliche Fördermaßnahmen im Rahmen des Städtebauförderungsprogramms Stadtumbau Ost zurückzuführen ist.5 In den neuen Bundesländern ist die hohe Ersatzquote auch durch den geringeren qualitativen Wohnungsbestand begründet.6 Analysen zu weiteren Faktoren wie Leerstand, Baualter oder demografische Disposition eines Kreises ergaben jedoch keine signifikanten Einflüsse, sodass die Abgangsquoten für Ein- oder Zweifamilienhäuser auf 0,14% und für Mehrfamilienhäuser im Osten auf 0,3% und im Westen auf 0,2% festgesetzt wurden und am Wohnungsbestand 2013 ansetzen. Im Aggregat führt die Unterteilung zu einer impliziten Ersatzquote von bundesweit 0,18%.
Bautätigkeit versus Bedarf
Nachdem die Fertigstellung von Wohnungen in Deutschland 2009 ihren Tiefpunkt mit 158 000 Wohnungen durchschritten hatte, steigt die Zahl der neu errichteten Wohnungen seitdem kontinuierlich an und erreichte 2014 245 000 fertiggestellte neue Wohnungen (vgl. Abbildung 1). Um den Bedarf bis 2030 zu decken, müssten pro Jahr rund 237 000 Wohnungen errichtet werden, was damit in etwa der Bauleistung von 2014 entspricht. Unterteilt man den Zeitraum 2015 bis 2030 jedoch in drei Phasen, ergibt sich für 2015 bis 2020 ein Bedarf von 267 000 Wohnungen pro Jahr. In diesen Zahlen ist noch nicht die aktuell außergewöhnlich hohe Zuwanderung berücksichtigt,7 womit zu erwarten ist, dass der Bedarf bis 2020 noch einmal höher ausfallen könnte.
Abbildung 1
Baufertigstellungen und künftiger Wohnungsbedarf
Quellen: 2010 bis 2014: Statistisches Bundesamt; 2015 bis 2030: IW Köln.
Der Unterschied zwischen Stadt und Land
Im Aggregat scheint die Bautätigkeit des letzten Jahres also ungefähr den Bedarf an neu zu errichtenden Wohnungen zu decken. Diese Betrachtung vernachlässigt allerdings die regionale Verteilung von Angebot und Nachfrage und ergibt somit ein verzerrtes Bild der eigentlichen Bedürfnisse im Wohnungsmarkt. Seit 2010 stiegen die Preise bei Neuvermietungen in Berlin um 22%, in Hamburg um 10% und in München um 11%, die Kaufpreise für gebrauchte Eigentumswohnungen sogar um 50%, 42% bzw. 50%.8 Diese Preissteigerungen ergeben sich vor allem aus der äußerst starken Nachfrage in den Ballungszentren, die nicht mehr ausreichend durch die aktuelle Bautätigkeit moderiert werden kann. Aus diesem Grund ist eine zwischen Stadt und Land differenzierte Betrachtung angebracht. Denn hinter einer durchschnittlich ausreichenden Bautätigkeit verbirgt sich eine enorme Fehlallokation des Neubaus in den Regionen. Teilt man alle deutschen Landkreise zwischen Städten mit mehr als 100 000 Einwohnern und kleineren Städten bzw. Landkreise auf, wird deutlich, dass insgesamt zwar annähernd genügend Wohnungen gebaut werden, in den Städten der Bedarf für den Zeitraum 2015 bis 2020 allerdings nur zu knapp 65% gedeckt ist, während in den kleinen Städten und auf dem Land fast 10% zu viel gebaut wird (vgl. Abbildung 2). In den Städten müsste die Bautätigkeit somit um mehr als 50% steigen. Die Bautätigkeiten in den einzelnen Landkreisen unterliegen zwar teilweise hohen Schwankungen, dennoch deuten diese Differenzen auf generelle Ungleichgewichte im Wohnungsmarkt hin. Besonders deutlich wird die große Lücke zwischen Angebot und Nachfrage in den größten Städten, insbesondere dann, wenn man die vergangene Bautätigkeit ins Verhältnis zum eigentlichen Bedarf setzt (vgl. Abbildung 3). Demnach fehlten in Berlin 2014 bei einer Bautätigkeit von 8700 Wohnungen schätzungsweise immer noch etwa 11 000 Wohnungen. Auch in München fehlten mehr als 6700 neu errichtete Wohnungen, in Hamburg knapp 3400.
Abbildung 2
Baubedarf und Bautätigkeit
Quellen: 2010 bis 2014: Statistisches Bundesamt; 2015 bis 2030: IW Köln.
Abbildung 3
Bautätigkeit und Bedarf der größten deutschen Städte
Quellen: 2010 bis 2014: Statistisches Bundesamt; 2015 bis 2030: IW Köln.
Hoher Nachholbedarf in den Städten
Analog zum demografisch bedingten Wohnungsbaubedarf bis 2030 lässt sich der Nachholbedarf für den Zeitraum 2010 bis 2014 berechnen und gleichzeitig mit der realisierten Baufertigstellung vergleichen. Deutschlandweit hätten in diesem Zeitraum lediglich 65 000 Wohnungen mehr gebaut werden müssen. Betrachtet man jedoch isoliert diejenigen Kreise mit zu niedriger Bautätigkeit, hätten zwischen 2010 und 2014 insgesamt 310 000 Wohnungen mehr errichtet werden müssen. Der hohe Nachholbedarf, der die jährliche Bautätigkeit des Jahres 2014 sogar übertrifft, konzentriert sich erwartungsgemäß in den Ballungszentren. In 46 Kreisen besteht ein Nachholbedarf von jeweils mehr als 1 000 Wohnungen und allein in den fünf größten deutschen Städten beträgt der Nachholbedarf zusammengerechnet rund 160 000 Wohnungen (vgl. Abbildung 4).
Abbildung 4
Hoher Nachholbedarf seit 2010
Quellen: 2010 bis 2014: Statistisches Bundesamt; 2015 bis 2030: IW Köln.
Schlussbemerkungen
Auch wenn die aktuelle Bautätigkeit in den letzten Jahren stark angezogen hat und in der Summe etwa den Bedarf an Wohnungen in Deutschland deckt, zeigt eine differenzierte regionale Betrachtung, dass die Bautätigkeit in den Ballungszentren nach wie vor zu gering ist. Hier ist künftig noch mehr Neubau notwendig. Der hohe Bevölkerungszuwachs der Städte führt zu teilweise hohen Preis- und Mietsteigerungen, denen nur eine weitere dynamische Entwicklung der Bautätigkeit entgegenwirken kann. Die starke Zuwanderung von Asylsuchenden verschärft die Wohnungsnot in den Ballungszentren noch, sodass es einer weiteren Stimulierung der Bautätigkeit bedarf. Schließlich drängen typischerweise gerade Zuwanderer und Flüchtlinge in die Großstädte. Um ihre Zukunftsfähigkeit zu wahren und dem Wachstum gerecht zu werden, müssen die Großstädte sowohl in die Höhe als auch in der Breite wachsen. Vor allem bedarf es einer Ausweitung des Baulandangebots, das vielfach trotz steigender Nachfrage stagniert. Hier sind die Kommunen gefordert, konsequent Baulücken und Nachverdichtungen im Innenbereich zu ermöglichen und neue Baugebiete auszuweisen.9 Trotz aller Anstrengungen wird es aber nur schwer möglich sein, die Bautätigkeit im geforderten Maße zu steigern. Daher ist es erforderlich, den Bürgern durch bessere Verkehrsanbindungen Alternativen im Umland der Großstädte zu bieten.10 Schließlich darf bei alldem auch die Lage der schrumpfenden und ländlichen Kreise nicht vergessen werden. Vielfach entsteht hier ein Leerstandsproblem, das nach den Erfahrungen in den neuen Bundeländern deutlich schwieriger zu lösen ist als ein Knappheitsproblem. Die aktuelle Zuwanderungswelle könnte die Lage vieler Kreise stabilisieren, sofern Bund und Länder die geeigneten Rahmenbedingungen für die Integration schaffen.
- 1 Eine ausführlichere Fassung erschien unter dem Titel „Der künftige Bedarf an Wohnungen – Eine Analyse für Deutschland und alle 402 Kreise“, IW Policy Paper, Köln 2015.
- 2 P. Deschermeier, R. Henger: Die Bedeutung des zukünftigen Kohorteneffekts auf den Wohnflächenkonsum, in: IW-Trends, 42. Jg. (2015), Nr. 3, S. 21-39.
- 3 Bertelsmann Stiftung: Wegweiser-Kommune.de, http://www.wegweiser-kommune.de/ (13.4.2015).
- 4 NRW Bank: Wohnungsabgänge in NRW – Auswertung der Bauabgangsstatistik Nordrhein-Westfalen, Münster NRW Bank, Düsseldorf 2011.
- 5 Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS): 10 Jahre Stadtumbau Ost. Berichte aus der Praxis, Berlin 2012.
- 6 R. Henger, M. Voigtländer: Vereint in regionalen Unterschieden – Der deutsche Wohnungsmarkt 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, in: IW Policy Paper, Nr. 31, Köln 2015.
- 7 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Bis zu 800 00 Asylbewerber erwartet, https://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2015/20150819-BM-zur-Asylprognose.html (12.10.2015).
- 8 F+B – Forschung und Beratung für Wohnen: F+B Marktmonitor, Hamburg 2015.
- 9 M. Voigtländer: Optionen für bezahlbaren Wohnraum, in: IW Policy Paper, Nr. 14, Köln 2015.
- 10 G. Spars, M. Voigtländer: Divergierende Wohnungsmärkte in Deutschland, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), Nr. 3, S. 208-212.