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Das Jahresgutachten des Sachverständigenrates für Wirtschaft 2014/15 wurde von der Politik teils heftig kritisiert, weil wichtige politische Entscheidungen infrage gestellt wurden. In Hinblick auf die monierten Einzelfragen gibt es auch aus der Wissenschaft Kritik. Der Sachverständigenrat selbst sieht hingegen seinen Auftrag nicht darin, die Regierung zu beraten, sondern sie kritisch und unabhängig zu begleiten. Seine Aufgaben sind nicht nur in der Politikberatung im engeren Sinne zu sehen, sondern auch in der Vermittlung von ökonomischen Problemstellungen in die Öffentlichkeit hinein.

Der Sachverständigenrat: gesetzlicher Auftrag und Arbeitsweise

Der Sachverständigenrat ist seit 1963 ein integraler Bestandteil der unabhängigen wissenschaftlichen Politikberatung in Deutschland. Für seine Arbeit genießt er zweifellos hohes Ansehen, er sieht sich jedoch auch immer wieder erheblicher Kritik, vielfach aus dem politischen Raum, ausgesetzt. Diese Kritik erreichte im vergangenen Herbst einen neuen Höhepunkt, als sich die Generalsekretärin der SPD Yasmin Fahimi bereits wenige Stunden nach der Übergabe des Jahresgutachtens 2014/15 nicht nur an dessen zentralen Aussagen störte, sondern soweit ging, ihm die Wissenschaftlichkeit abzusprechen:1

„Das Gutachten der 'Wirtschaftsweisen' versammelt auf 400 Seiten sehr plakative, teils sehr platte Wertungen – und viel zu wenig ökonomische Fakten. Es wird den wissenschaftlichen Anforderungen an ein solches Gutachten nicht gerecht und scheint mir in seiner ganzen Methodik nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein. Natürlich ist es das gute Recht der Ökonomen, die Politik der Bundesregierung kritisch zu begleiten. Nur sollte sich diese Kritik auf Fakten stützen und nicht auf die eigene wirtschaftspolitische Meinung. So ist es schon einigermaßen hanebüchen, den Mindestlohn als Grund anzuführen, dass sich die Konjunkturerwartungen in diesem Jahr eintrüben. Denn bekanntlich gilt der Mindestlohn erst von nächstem Jahr an. Und die Folgen der angespannten weltpolitischen Lage werden in dem Gutachten nahezu ganz ausgeblendet. Ebenso einseitig erscheinen die Aussagen der 'Weisen' zur Wachstumsschwäche in Europa. Selbstverständlich bedarf es Strukturreformen in den EU-Staaten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Doch einzig Peter Bofinger weist in seinem Minderheitenvotum darauf hin, dass es in der jetzigen Phase höherer Investitionen bedarf, um solche Reformen makroökonomisch [zu] unterstützen. Genau dies fordert die Bundesregierung, allen voran Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel. 'Mehr Vertrauen in Marktprozesse' lautet der programmatische Titel dieses Gutachtens. Ich möchte den Wirtschaftswissenschaftlern zurufen: 'Mehr Vertrauen in echte wissenschaftliche Arbeit.'“

Natürlich offenbart sich in diesen Äußerungen vor allem ein Unwohlsein über die Ergebnisse der Analysen des Rates und dessen Schlussfolgerungen, nicht etwa ernst zu nehmende Kritik an der handwerklichen Qualität der Ratsarbeit. Dies ist schon allein daran erkennbar, dass die auf derselben analytischen Basis verfassten Minderheitsvoten von der Kritik ausgenommen werden. Dass dieser Kritik wiederum selbst die analytische Basis fehlt, zeigt auch das Argument, wirtschaftspolitische Weichenstellungen könnten Konjunkturerwartungen erst ab dem Augenblick eintrüben, in dem die entsprechenden Gesetze in Kraft treten. Dies verkennt die empirisch zweifelsfrei abgesicherte Erkenntnis, wonach das Verhalten wirtschaftlicher Akteure erwartungsgeleitet ist: Künftige Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingen lösen Verhaltensänderungen bereits dann aus, wenn sie bekannt werden und nicht erst, wenn sie in Kraft treten.

Nun ist es sicherlich die Aufgabe der Generalsekretärin der SPD, die parteipolitische Linie gegen jegliche Kritik zu verteidigen, ganz egal ob sie von einem politischen Gegner oder etwa dem Rat stammt. Doch dafür hätte es bereits ausgereicht, die von der Politik beschlossenen Maßnahmen für grundsätzlich notwendig zu erklären, etwa weil sie den eigenen politischen Wertvorstellungen entsprechen und nicht mit den gesetzlich „eingeengten“ Prüfkriterien des Rates übereinstimmen.

Hier wurde jedoch ein anderer Weg gewählt, hinter dem sich eine ganze Reihe von Missverständnissen über die gesetzliche Aufgabe und die Arbeitsweise des Rates sowie über dessen Rolle in der wirtschaftspolitischen Arena verbergen. Der Vorwurf, dass der Rat seine Aussagen nicht auf wissenschaftlicher Basis träfe, sondern rein ideologisch argumentiere, ist dabei besonders schwerwiegend. Um dieser Kritik entschieden entgegenzutreten, löst dieser Beitrag einige Missverständnisse über den gesetzlichen Auftrag auf und erläutert die Arbeitsweise des Rates.

Zum gesetzlichen Auftrag des Sachverständigenrates

Der Rat ist gesetzlich verpflichtet, jedes Jahr ein Jahresgutachten vorzulegen, um die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu begutachten und so „zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“ beizutragen (Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – SVR-Gesetz). Der Rat ist ausschließlich an diesen gesetzlichen „Auftrag gebunden und in seiner Tätigkeit unabhängig“ und besteht aus Personen, die über „besondere wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse und volkswirtschaftliche Erfahrungen verfügen“.

Dabei ist der Kreis potenzieller Ratsmitglieder durch das Gesetz von vornherein stark begrenzt (§1 (3), SVR-Gesetz). So dürfen sie weder aktuell (noch während des Jahres vor der Berufung) beispielsweise der Regierung oder dem Öffentlichen Dienst angehören – davon ausgenommen sind nur Hochschullehrer oder Mitarbeiter von wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Instituten. Sie dürfen auch keine Repräsentanten von Arbeitgeber- oder Arbeitnehmerorganisationen sein oder mit diesen in einem Dienst- oder Geschäftsbesorgungsverhältnis stehen. Allerdings gibt es die informelle Übereinkunft, dass ein Ratsmitglied im Einvernehmen mit den Gewerkschaften und eines mit den Arbeitgebern vorgeschlagen wird.

Die jeweils für einen Fünfjahreszeitraum ernannten Ratsmitglieder können zudem nicht abberufen werden. Die so garantierte Unabhängigkeit des Gremiums ist von entscheidender Bedeutung, da sie verhindert, dass von den politischen Entscheidungsträgern oder anderen Interessengruppen ein direkter Einfluss auf den Rat ausgeübt wird.

Im SVR-Gesetz ist außerdem eindeutig geregelt, was der Rat genau zu untersuchen hat und dass er die Annahmen seiner Untersuchung transparent machen muss. Der anzulegende Maßstab für die Beurteilung der künftigen gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist ebenfalls im SVR-Gesetz festgelegt. Es ist das sogenannte magische Viereck (§ 2 SVR-Gesetz). Wie die vier vorgegebenen Ziele – Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum – vom Rat im jeweiligen Einzelfall gewichtet werden, ist jedoch nicht explizit geregelt und muss von jedem Ratsmitglied selbst entschieden werden. Insbesondere ist es die Aufgabe des Rates, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, welche die genannten Ziele gefährden, und Möglichkeiten zu deren Vermeidung aufzuzeigen.

Sollte ein Ratsmitglied eine andere Auffassung als die Ratsmehrheit vertreten, die sich etwa aus einer anderen Gewichtung der genannten Ziele ergibt, räumt ihm das Gesetz explizit das Recht ein, einer abweichenden Auffassung in einem Minderheitsvotum Ausdruck zu verleihen. Damit wird bereits im Gesetz anerkannt, dass es trotz des vorgegebenen Zielkanons und der wissenschaftlichen Basis keinen „objektiven“ oder „neutralen“ Bewertungsmaßstab für die Begutachtung wirtschaftspolitischer Maßnahmen geben kann.

Die Arbeitsweise des Sachverständigenrates

Bereits aus dem gesetzlichen Auftrag wird klar, dass es sich beim Jahresgutachten um eine wirtschaftswissenschaftlich gestützte Expertenmeinung zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung handelt, die – sofern es abweichende Meinungen gibt – eine entsprechende Beurteilungsvielfalt abbildet. Dies wird etwa bei der Beurteilung des einheitlichen Mindestlohns in den jüngsten Jahresgutachten deutlich. Darin wird die internationale Literatur zu den Wirkungen eines Mindestlohns diskutiert, vor dem Hintergrund der deutschen Arbeitsmarktinstitutionen und der besonderen Situation in Ostdeutschland.2 Im Ergebnis erkennt die Mehrheit erhebliche Risiken für die Beschäftigung von besonders betroffenen Risikogruppen, etwa gering qualifizierten Personen, wodurch sie innerhalb des magischen Vierecks vor allem den Beschäftigungsstand gefährdet sieht. Peter Bofinger befürchtet diese Risiken offenbar nicht, kommt daher bei seiner Beurteilung des Mindestlohns zu einem anderen Ergebnis und formuliert dies in entsprechenden Minderheitsvoten.

Zur Erstellung des Jahresgutachtens stützt sich der Rat auf die aktuelle wirtschaftswissenschaftliche Literatur. Das Jahresgutachten erhebt dabei nicht den enzyklopädischen Anspruch, eine vollständige Darstellung der Literatur zu liefern. Es entspräche vor allem auch nicht dem gesetzlichen Auftrag, nur einen Literaturüberblick zu den jeweils diskutierten Themen zu erstellen. Natürlich wird die Argumentation entlang der Literatur geführt, transparent dokumentiert durch entsprechende Belege. Auf dieser Basis zieht der Rat auftragsgemäß Schlussfolgerungen, um zur Urteilsbildung in Politik und Öffentlichkeit beizutragen. Der Leser wird dabei durch die Literaturverweise in die Lage versetzt, sich mit den üblichen bibliographischen Recherchemethoden schnell einen eigenen Überblick über die einschlägige Literatur zu verschaffen.

Wie das konkret aussieht, lässt sich beispielhaft an der Diskussion des Transatlantischen Freihandelsabkommens (TTIP) im Jahresgutachten 2014/15 nachvollziehen (Ziffer 64 ff.). Während sich der Rat in seinem Gutachten grundsätzlich für eine vertiefte Integration ausspricht, lässt er bewusst offen, wie umfassend TTIP am Ende ausfallen sollte, weil dafür weitere, nicht-ökonomische Erwägungen berücksichtig werden müssen. Die je nach Integrationstiefe von TTIP zu erwartende Bandbreite der ökonomischen Auswirkungen wird zusätzlich in einem separaten Kasten aufbereitet, um so der Öffentlichkeit einen schnellen Über- und Einblick in die aktuelle Literatur zu ermöglichen. Dabei werden zusätzlich die wichtigsten ökonomischen Wirkungskanäle eines Freihandelsabkommens erläutert.

Zudem gibt der Rat eigene Analysen in Auftrag, teilweise in Zusammenarbeit mit externen Wissenschaftlern. Diese kommen nicht zuletzt dann zum Einsatz, wenn die künftige Wirkung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen eingeschätzt werden soll, da die wissenschaftliche Literatur erst mit entsprechender zeitlicher Verzögerung solche Analysen hervorbringen kann.

Mit der Publikation von Minderheitsmeinungen im Jahresgutachten wird deutlich transparenter, als es in vielen Gutachten anderer Institutionen oder auch den meisten Forschungsarbeiten der Fall ist, an welchen Stellen eine signifikant unterschiedliche Auffassung oder Interpretation der wissenschaftlichen Literatur und der empirischen Evidenz besteht. Das gesetzlich verankerte Recht eines jeden Ratsmitglieds, seine abweichenden Meinungen im Jahresgutachten zu artikulieren, ist daher elementarer Bestandteil der Arbeitsweise des Rates. Es bietet nicht nur ein Höchstmaß an Transparenz, sondern ermöglicht es den Ratsmitgliedern auch, alternative Sichtweisen zu formulieren und diese der Öffentlichkeit sowie den wirtschaftspolitisch Handelnden bekannt zu machen.

Zur Transparenz gehört beim Rat auch, dass jede im Jahresgutachten veröffentlichte Abbildung, jede Tabelle sowie die jeweils zugrunde liegenden Daten von der Internetseite des Rates heruntergeladen werden können. Dies unterbleibt bei Daten nur dann, wenn urheberrechtliche Gründe dies nicht zulassen. Jedes Kapitel enthält eine Liste aller verwendeten Literaturquellen. Jedes Schaubild und jede Tabelle nennt deutlich die Ursprungsquelle der verwendeten Daten. Die Geschäftsstelle des Rates ist darüber hinaus bei allen Datenanfragen behilflich. Eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen von externen Wissenschaftlern war erst Dank dieses öffentlichen Datenzugangs über die Geschäftsstelle möglich.

Zudem gibt es im Gutachten eine umfassende und vollständige Liste aller Institutionen und Personen, mit denen im Vorfeld der Erstellung des Jahresgutachtens gesprochen wurde. Ebenso werden alle Mitarbeiter inklusive Praktikanten genannt, die am Gutachten gearbeitet haben, ebenso wie alle Wissenschaftler, die eine Expertise für den Rat erstellt haben.

Wenn Mitarbeiter des wissenschaftlichen Stabes eigene oder in Zusammenarbeit mit externen Wissenschaftlern entstandene Arbeiten zum Gutachten beisteuern, die über eine Replikation bestehender Studien hinausgehen und eigene wissenschaftliche Beiträge darstellen, werden diese zeitnah auf der Internetseite des Rates als Diskussionspapier veröffentlicht und entsprechend im Gutachten zitiert. Dies entspricht der üblichen Praxis anderer Institutionen, beispielsweise des Internationalen Währungsfonds, der Deutschen Bundesbank, der Europäischen Zentralbank und der Wirtschaftsforschungsinstitute der Gemeinschaftsdiagnose.

Der Rat als öffentlicher Herausforderer der Politik

Wie sind nun, vor dem Hintergrund des gesetzlichen Auftrags und der Arbeitsweise des Rates, die Vorwürfe der Generalsekretärin der SPD zu bewerten, die mit ihrer Kritik letztlich exemplarisch für andere Wortführer steht? Angesichts des Zielvierecks, das dem Rat als Bewertungsmaßstab dient, endet fast jede Analyse wirtschaftspolitischer Maßnahmen zwangsläufig mit einem Werturteil, weil ja gerade die vier Ziele gewichtet werden müssen. Sowohl die Analyse als auch die Zielgewichtung wird dabei für die Öffentlichkeit transparent gemacht – im besonderen Maße, wenn es im Rat abweichende Meinungen gibt.

Insofern läuft der Vorwurf ins Leere, die Kritik des Rates an der Wirtschaftspolitik sei nur ideologisch begründet, aber nicht wissenschaftlich fundiert. Die Fülle an Daten und Literatur, die für den breiteren Leserkreis aufbereitet wurde, legt außerdem nicht den Schluss nahe, es wären zu wenige Fakten zusammengetragen worden. Die wissenschaftlichen Leistungen der Ratsmitglieder, die fast ausnahmslos umfangreich in referierten internationalen Fachzeitschriften publiziert haben, entkräften zudem den Vorwurf, die Methodik des Rates sei nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Ganz im Gegenteil: Viele der Analysen des wissenschaftlichen Stabes, die in das Jahresgutachten eingehen, werden später ebenfalls in referierten und damit unabhängig begutachteten internationalen Fachzeitschriften veröffentlicht.

Wäre die Kritik des Rates „ideologisch“ begründet, würde sie umso schwächer ausfallen, je näher die aktuelle Regierung an der „Ideologie“ des Rates läge. Ein Blick in die Jahresgutachten offenbart jedoch einen stetigen Strom der Kritik am jeweils aktuellen Regierungshandeln. Dieser Strom wird meistens dann breiter, wenn die Wirtschaftspolitik die Weichen so stellen will oder gestellt hat, dass die Erreichung der vier im Gesetz verankerten Ziele in Gefahr geraten könnte.

Besonders deutlich wird dies in den Jahren, in denen nach Bundestagswahlen eine neue Regierung und damit oft auch ein neuer wirtschaftspolitischer Kurs vorgestellt wird. Im Jahr 2009 waren es die wirtschaftspolitischen Pläne der neugewählten schwarz-gelben Regierungskoalition, die dazu führten, dass das Jahresgutachten 2009/10 den Titel trug „Die Zukunft nicht aufs Spiel setzen“. Im Jahr 2013 waren es die Pläne der neugewählten schwarz-roten Regierungskoalition, die Reformen der Agenda 2010 weiter aufzuweichen und damit das Zielviereck zu gefährden, die ausschlaggebend für den Titel „Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik“ waren.

Ganz offensichtlich erfüllt der Rat seinen gesetzlichen Auftrag – wohlgemerkt als kritischer wirtschaftspolitischer Begleiter einer jeden Regierungskonstellation, nicht als unmittelbarer Regierungsberater. Zudem erfüllt der Rat auch weiterhin „die bei der Gründung erwartete Rolle des öffentlichen Herausforderers der Politik“3, wie die intensiv geführten öffentlichen Auseinandersetzungen mit den Analysen und Ergebnissen des Ratsgutachtens deutlich machen.

Insofern sollte sich nicht nur die Generalsekretärin der SPD auf die Worte des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder besinnen, der anlässlich des 40-jährigen Bestehens des Rates sagte: „Beratung durch kompetente Dritte ist für jeden handelnden Politiker eine wertvolle Unterstützung, gerade, wenn sie unter den Bedingungen von Unabhängigkeit in einem öffentlich auch kritischen Diskurs vermittelt wird. Ich sage das ausdrücklich: Das gilt auch dann, wenn einem – was gelegentlich schon vorgekommen sein soll – die Gutachten nicht in den, wie man so schön sagt, Kram passen.“4



Dieser Beitrag spiegelt die persönliche Meinung der Autoren wider und entspricht nicht notwendigerweise der Auffassung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Wir bedanken uns bei Lars P. Feld, Manuel Kallweit und Nils aus dem Moore für wertvolle Kommentare.

  • 1 Pressemitteilung der SPD, vom 12.11.2014, http://www.spd.de/presse/Pressemitteilungen/125316/20141112_fahimi_jahresgutachten_wirtschaftsweisen.html (4.3.2015).
  • 2 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Mehr Vertrauen in Marktprozesse, Jahresgutachten 2014/15, Wiesbaden 2014, Ziffer 540 ff.; ders.: Gegen eine rückwärtsgewandte Wirtschaftspolitik, Jahresgutachten 2013/14, Wiesbaden 2013, Ziffer 481 ff. und Ziffer 515 ff.
  • 3 H. Tietmeyer: Die Gründung des Sachverständigenrates aus der Sicht der Wirtschaftspolitik, in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Vierzig Jahre Sachverständigenrat 1963-2003, Wiesbaden 2003, S. 22-33.
  • 4 G. Schröder: Wissenschaftliche Beratung und politische Durchsetzbarkeit, in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.): Vierzig Jahre Sachverständigenrat 1963-2003, a.a.O., S. 15-21.

Business as Usual – zur jüngsten Diskussion um den Sachverständigenrat

Der „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ ist mit seinem Jahresgutachten 2014/15 in die Kritik geraten,1 wieder einmal. Dabei irritierte jedoch nicht seine Überschrift „Mehr Vertrauen in Marktprozesse“ – angesichts von sieben Jahren anhaltender Wirtschafts-, Finanz- und Währungskrisen oder der Unzahl gerichtsnotorischer Manipulationen wichtiger Preise der Finanzsphäre immerhin ein sehr mutiges Ansinnen. Bundeskanzlerin, zwei Bundesminister und die SPD-Generalsekretärin monierten vielmehr die Kritik des Rates am Mindestlohn-Gesetz und an der „Rente mit 63“ als unfundierte Einmischungen ins politische Geschäft; Wissenschaftler kritisierten politische Einseitigkeit, Unzulänglichkeiten und Fehler.2 Die geforderten Konsequenzen, keine ist neu, reichen von reformerischen Forderungen an die Ratstätigkeit – häufigere kurzfristige Stellungnahmen und kürzere Gutachten, Verzicht auf die Konjunkturprognose und mehr Pluralität in der wirtschaftspolitischen Beratung – bis hin zum Ersatz durch ein Beratungsorgan nach dem Muster des Council of Economic Advisers (CEA).

Der Rat wird, wie in früheren Jahren, Schelte und Kritik unbeschadet überleben: Der zuständige Bundesminister hat im „Jahreswirtschaftsbericht 2015“ die Kritik des Rates am Mindestlohn-Gesetz und an der „Rente mit 63“ in der üblichen lakonischen Form zurückgewiesen, wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Jahresgutachten werden in der Literatur zu führen sein (oder eben nicht). The same procedure as every year.

Trotzdem: die regelmäßige Wiederkehr der Debatten um den Sachverständigenrat und die Qualität der wirtschaftspolitischen Beratung sollte Anlass sein, nach Ursachen und Abhilfen zu fragen. Dazu im Folgenden einige Befunde und Bemerkungen.3

Erwartungen

Die Politik verband die Einrichtung des Sachverständigenrats 1963 zu Beginn mit der spezifischen Hoffnung auf „Versachlichung der Lohnpolitik“ und dem Ziel der Inflationsbegrenzung, allgemein mit dem Ziel der „Versachlichung der wirtschafts-, sozial- und lohnpolitischen Auseinandersetzung durch Veröffentlichung regelmäßiger Analysen sowie der Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten“. Die Erwartungen des Fachs waren ebenfalls hoch, was hier aber nicht interessieren soll.

Die „Versachlichung der Lohnpolitik“ ist mit Rückgriff auf das Konzept der „Produktivitätsorientierten Lohnpolitik“ und einer Reihe von späteren Modifikationen tendenziell geglückt. Das Konzept war allerdings nicht neu oder unumstritten und mehrfach sah sich der Rat – wie bei den Konzepten zur Finanz- und Geldpolitik – zu Modifikationen veranlasst. Auf vielen Feldern hat er einer rationaleren Politik den Weg bereitet, so z.B. mit seinem Plädoyer für Flexible Wechselkurse, seinen Hinweisen auf Schwachstellen der Konjunktursteuerung, der Thematisierung der „Angebotspolitik“ oder den Vorschlägen zur Wirtschaftspolitik nach der Wiedervereinigung. Selten war dabei der Rat der einzige oder der erste, aber sein Wort hatte großes Gewicht dabei, der Wirtschaftspolitik ein Konzept zu unterlegen und sie der quantitativen Überprüfung zugänglich zu machen.

Ernüchterungen

Ob der Rat die in ihn gesetzten allgemeinen Erwartungen erfüllt hat, ist je nach Aufgabe (Diagnose, Prognose, Therapie; Methoden, Konzeptionen), Feld (Prozess-/Strukturpolitik, Makro-/Mikropolitik, Finanz-/Geld-/Lohn-/Außenhandelspolitik) und Perspektive (Politik, Öffentlichkeit, Fach) unterschiedlich zu beurteilen. Hinzu kommt, dass sich auch zunächst als gut begründet angesehene Urteile und Erwartungen im Lichte der Wirklichkeit ändern können, wie das Beispiel der Flexiblen Wechselkurse illustriert.

Ein zusammenfassendes Urteil fällt auch angesichts der 50-jährigen Geschichte des Rates und seiner wechselnden Zusammensetzung schwer; die Verweildauer der Mitglieder im Rat beträgt zwar im Durchschnitt lediglich etwas mehr als sechs Jahre, streut aber beträchtlich, vor allem weil die Vertreter der Arbeitnehmer ihm im Durchschnitt nur ca. vier Jahre angehörten4 – am Rande vermerkt, die von Mitgliedern gelegentlich mit Blick auf ihre „wissenschaftliche (sic) Tätigkeit“ betonten hohen „Opportunitätskosten“ der Ratstätigkeit scheinen vor allem die Arbeitnehmervertreter gespürt zu haben. Inwiefern Konzept- und Paradigmenwechsel des Rates mit Wechseln in seiner Zusammensetzung verbunden waren, bleibt im Einzelnen zu prüfen (der Schwenk von der Nachfrage- zur Angebotsorientierung Mitte der 1970er Jahre – sein wichtigster und folgenreichster Turn – war es auf den ersten Blick nicht).

Hinsichtlich Diagnose und Prognose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – von zentraler Bedeutung bis in die Mitte der 1970er Jahre, also solange sich der Rat besonders der „Stabilisierungsaufgabe“ verpflichtet fühlte – wurde beklagt, dass die Fundierung der Konjunkturprognosen des Rates zu wünschen übrig ließ,5 desgleichen ihre Treffsicherheit. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Der Vorwurf mangelhafter Treffsicherheit, insbesondere dass die Krisen erst erkannt wurden, wenn sie bereits eingetreten waren, trifft freilich auch alle anderen Prognostiker und nicht nur hierzulande. Immerhin war der Rat in der Krise 2008 f. mutig und forderte als erster – und zum Ärger des Finanzministers – ein massives Gegensteuern der Bundesregierung, obwohl auch er für 2009 „nur“ Stagnation erwartete. Der geforderte Verzicht auf eigene Konjunkturprognosen würde indessen nicht nur dem gesetzlichen Auftrag, sondern auch materiellen Erfordernissen der Gutachten zuwiderlaufen.

Auch Fehleinschätzungen sind schwer zu vermeiden, wenn auch weniger zwangsläufig. Zu letzteren zählt z.B. die sehr positive Bewertung einer stärkeren Marktorientierung der Unternehmensfinanzierung im Jahresgutachten 2005 (Tz. 683 ff.) die von einem bemerkenswert hohen Vertrauen in die Effizienz der Finanzmärkte getragen war6 und für viele zur Entstehung und Tiefe der Krise 2008 f. beigetragen hatte. Bemerkenswert ist, dass der Rat alles in allem – die Vorschläge zu einem Europäischen Schuldentilgungspakt im Jahresgutachten 2011 (Ziff. 184 ff.) sind eine viel beachtete Ausnahme – wenig instrumentell-kurative Vorschläge macht. Ein Beispiel ist das „Stabilitätsgesetz“. Statt nach Verbesserungen seiner spätestens Mitte der 1970er Jahre offensichtlichen Schwachstellen zu suchen, auch was dessen Anwendung betrifft (auch 2008 f.!), entwickelte er ein System von Regelbindungen, mit denen „Stabilisierungskrisen“ vermieden bzw. die Wachstumsbedingungen verbessert werden sollten. Die „Automatisierung“ der Politik wurde von ihr verständlicherweise zurückgewiesen. Seit Mitte der 1970er Jahre dominierte jedenfalls in den Jahresgutachten das Interesse an der Allokationsaufgabe das an der Stabilisierungs- und der Verteilungsaufgabe. Damit befand sich der Rat allerdings durchaus in Übereinstimmung mit der Einschätzung weiter Teile des Fachs, wenn er sie nicht sogar wesentlich prägte. Was für seinen Einfluss allerdings vermutlich ausschlaggebender war: seine Sicht traf sich mit den tatsächlichen oder vermeintlichen fiskalischen Erfordernissen.

Über das Bild des Rates von seiner Rolle lässt sich nur spekulieren, kritische Reflektionen seiner Positionen durch ihn oder seine Mitglieder sind schwer zu finden. Hinzu kommt, dass sich dieses Bild mit dem Wandel von Angebot und Nachfrage des nationalen und internationalen Beratungsmarktes einerseits und der Zusammensetzung des Rates andererseits gewandelt haben dürfte.

Der Public-Choice-Ansatz hat die Motivationsstruktur der Berater aufgefächert und ihre Eigeninteressen in den Blick genommen.7 Ihre Rolle als „political entrepreneurs“ kommt dabei allerdings etwas kurz, wenn man z.B. an die Beiträge des Rates in der Deregulierungs- und Liberalisierungsbewegung der 1980er und 1990er Jahre denkt.8 Alles in allem scheint sich der Rat zunehmend eher der Vorstellung des (all-)wissenden Beraters à la Plato/Bacon verpflichtet als der des Ideen-Marktplatzes à la Aristoteles/Popper. Das entspricht zwar dem bekannten Wunsch der Politik nach „einhändigen“ Beratern, aber eben nicht immer dem Spektrum des Faches. Die „Minderheitsvoten“ können dabei, abgesehen davon, dass sie „stören“, naturgemäß nur bedingt für ein ausgeglicheneres Bild sorgen.

Was die Erwartungen der Politik angeht, so wird in der Regel eine Homogenität angenommen, die kaum der Realität entspricht. Die Erwartungen an die Ratsgutachten z.B. seitens des Bundeskanzleramtes, einzelner Ministerien und ihrer Abteilungen dürften sich voneinander meist ebenso unterscheiden wie die des Parlamentes, der Parteien oder der anderen Gebietskörperschaften, der Träger der Sozialversicherung oder der Tarifparteien, die auch aus diesem Grund ihren „Vertretern“ gelegentlich eine zweite Amtsperiode verweigerten, oder der Öffentlichkeit – allesamt Adressaten der Jahresgutachten.

Verbesserungen

Enttäuschungen von Beratenen, der Öffentlichkeit oder des Fachs mit den Beratern (und umgekehrt) sind unvermeidlich: der Rat ist in der Wahl seiner Themen unabhängig, konkreter „policy advise“ ist wie allgemein bei Beratern selten („though with the common defience of advisers, we have not shown him how to do right“, wie bereits Dr. Johnson bedauerte), „political advise“ ist ohnehin ausgeschlossen. Die Werturteile, auch wenn sie nicht explizit gemacht werden, differieren auch innerhalb des Rates, obwohl das Kooptationsprinzip bei Neubesetzungen für eine hohe Übereinstimmung sorgen dürfte.

Aber Verbesserungen sind durchaus möglich. Mit Blick auf die Politik werden entsprechende Überlegungen allerdings durch zwei Umstände erschwert:

  • Erstens weil die Politik bzw. ihre einzelnen Träger bislang keine prinzipielle Unzufriedenheit mit der Ratstätigkeit artikulierten (im Zusammenhang mit „Wissenschaft“ ist die Politik freilich nicht nur bei Zufriedenheit stumm). Falls Unzufriedenheit vorhanden, fällt sie vermutlich je nach Adressat sehr unterschiedlich aus.
  • Zweitens werden Überlegungen zu Verbesserungen dadurch erschwert, dass regelmäßig angenommen wird, dass „die Politik“ immer an möglichst „richtigem“ Rat oder der „Wahrheit“ interessiert ist, was nicht notwendigerweise der Fall ist.9

Die Politik – die Bundesregierung – könnte z.B. die Beachtung des „Empfehlungsverbots“ der Gutachten einfordern, das seit den 1970er Jahren souverän ignoriert wird. Rechtlich gesehen ist das schwierig, zumal die Bundesregierung bei später etablierten, vergleichbaren Beratungsorganen wie dem „Sachverständigenrat für Umweltfragen“ oder der „Monopolkommission“ auf dessen Verankerung verzichtete. Die Grenzen zwischen dezisionistischem und technokratischem Modell werden immer fließend sein, aber die offene Diskussion von Handlungsoptionen, Second- oder Third-best-Lösungen, ihrer Kosten und Nutzen würde den Nutzen der Jahresgutachten für Politik, Öffentlichkeit und Fach deutlich erhöhen. Für die Bundesregierung könnte das Leben allerdings auch schwieriger werden – man stelle sich die Bundestagsdebatte über drei tragfähige Varianten des Mindestlohns vor!

Sofern Positionen und Praxis des Rats mit dessen personeller Zusammensetzung verknüpft sind, so ließe sich auch dies ändern. Turnusmäßig scheidet jährlich ein Mitglied des Rats aus und Arbeitgeber wie Gewerkschaften haben bei der Bestimmung ihres Vertreters von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Der Auswahlprozess der Ratsmitglieder durch die Bundesregierung bzw. das Bundeswirtschaftsministerium liegt für Außenstehende im Dunkeln. Auffälligkeiten wie die mehrfache Vertretung des Instituts für Weltwirtschaft (IfW), des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsforschungsinstituts (RWI) oder einzelner Universitäten sind nicht zu übersehen, Ähnliches gilt für wissenschaftliche Genealogien. Auch an eine Beschränkung der Ratsmitgliedschaft auf eine Amtszeit wäre zu denken. Die Unabhängigkeit des Rates würde gestärkt, die beklagten Opportunitätskosten der Ratstätigkeit verringert und häufiger für „frisches Wissen“ gesorgt.

Schließlich könnte der Unzufriedenheit mit einzelnen Aussagen des Rats durch Einholung von „second opinions“, also weiterer Gutachten, Rechnung getragen werden. Doppelausschreibungen sind bei ministeriellen Gutachtenvergaben nicht selten. Auch externe Evaluationen, wie sie z.B. für die Wirtschaftsforschungsinstitute durch den Wissenschaftsrat turnusmäßig stattfinden und z.B. beim niederländischen CPB neuerdings durchgeführt werden,10 wären ins Auge zu fassen.11 Eine entscheidende Rolle kommt freilich wie bei Gutachten ganz allgemein dem Fach selbst zu, d.h. der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Jahresgutachten und Expertisen des Rates.

Abbildung 1
Nennungen von „Sachverständigenrat“ und „Council of Economic Advisers“ in EconLit
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Quelle: Recherchen in EconLit im Februar 2015. Suchbegriffe waren „Sachverständigenrat“, „Council of Economic Experts and Germany“, „German Council of Economic Experts“ bzw. „Council of Economic Advisors“ „Council of Economic Advisers“ und „CEA“. Ausgeschlossen wurden Titel, die von Angehörigen der jeweiligen Organisation selbst stammten bzw. bei denen der Autor nur in der Affiliation auftauchte.

Die Resonanz der Jahresgutachten war – gemessen an der Zahl der in EconLit erfassten Zeitschriftenbeiträge im Zeitraum 1964 bis 2013 – überraschend gering (vgl. Abbildung 1): im Durchschnitt war es nicht viel mehr als ein Beitrag pro Jahr. Ein beträchtlicher Teil der Aufsätze galt Fragen der monetären Politik, die Auseinandersetzungen mit finanzpolitischen Konzepten und Fragen blieb oft Monographien vorbehalten. Für den Rat wird es tröstlich sein, dass es um die Resonanz des Council of Economic Advisers nicht besser bestellt ist – in absoluter, vor allem aber in relativer Perspektive und wenn man zudem berücksichtigt, dass es sich letztlich um eine Veröffentlichung der Regierung handelt. Die Auseinandersetzung mit Kritik hält sich in den Jahresgutachten naturgemäß in engen Grenzen. Am stärksten wird sie in den „Minderheitsvoten“ aufgenommen. Immerhin kam es regelmäßig zu Überarbeitungen der verschiedenen Beurteilungskonzepte des Rates bis hin zu ihrer Aufgabe, z.B. des „Gesamtindikators“. – Die sogenannten Alternativgutachten der „Memorandumgruppe“ finden in den Jahresgutachten keine und im sogenannten Mainstream des Fachs nur wenig Beachtung.

Dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Jahresgutachten so gering ist, hat viele Gründe. Ein wichtiger dürfte ihre unzureichende wissenschaftliche Prämiierung sein, denn der Zugang zu hochrangigen internationalen Zeitschriften ist damit in der Regel ausgeschlossen und auch der Zugang zu entsprechenden deutschen Zeitschriften mit solchen Arbeiten ist – im weiten Sinne – keineswegs „barrierefrei“, Gründe, die vor allem für jüngere Wissenschaftler von Bedeutung sind.

Ein zweiter wichtiger Grund dürfte in der Struktur der deutschen Forschungslandschaft zu suchen sein. Mehrfach war mehr als ein Ratsmitglied gleichzeitig auch Vorstand eines großen Wirtschaftsforschungsinstituts – ursprüngliche Forderung von Wissenschaft und Politik war, dass lediglich ein Mitglied aus diesem Kreis stammen sollte; mit Blick auf die Meinungsvielfalt ist natürlich auch an die Mitgliedschaften der Ratsmitglieder in Wissenschaftlichen Beiräten zu denken. Der wissenschaftlichen Qualität der Jahresgutachten (und den Institutsarbeiten) könnte dies genützt haben. Aber dass dies die Pluralität oder den Wettbewerb der Beratungsinstitutionen förderte, wäre noch zu zeigen. In den „Gemeinschaftsgutachten“ der Forschungsinstitute finden sich jedenfalls keine kritischen Worte zu Aussagen des Rats, und in den eigenen Arbeiten der Institute sind sie, mit Ausnahme eines Instituts, sehr selten. Damit fällt eine potenziell wichtige Quelle für kritische Auseinandersetzungen mit den Methoden und Ergebnissen des Rats de facto weitgehend aus. Was die politische und öffentliche Resonanz der Jahresgutachten angeht, so wäre es natürlich besonders aufschlussreich nach der im Bundestag zu fragen; erste Recherchen halten die diesbezüglichen Erwartungen ebenfalls in engen Grenzen.

Der Rat hat in den letzten Jahren durch Offenlegung und Zugänglichmachung der von ihm verwendeten Daten und Methoden – für die mittlerweile zahlreichen Modelle gilt das kaum – sehr gute Voraussetzungen für kritische Auseinandersetzungen des Fachs mit seiner Arbeit geschaffen. Ihre Nutzung braucht indessen nicht nur Willen, sondern auch Ressourcen – namentlich was die verwendeten Modelle betrifft – und daran fehlt es.

Seit langem wird gefordert, den Sachverständigenrat abzuschaffen und durch ein regierungsinternes Beratungsorgan nach dem Muster des Council of Economic Advisers zu ersetzen.12 Die Gutachten würde zwar vermutlich wieder erheblich kürzer – aber vor allem würde ein solcher Schritt eine fundamentale Wende der Beratungserfordernisse bedeuten. Angesichts der bislang von jeder Bundesregierung regelmäßig öffentlich bekundeten hohen Wertschätzung der Jahresgutachten wäre sie nur sehr schwer vorstellbar, allenfalls im Fall eklatanter Fehlleistungen oder negativer externer Evaluationen; „Selbstauflösungen“ wie z.B. in den Niederlanden, sind bislang sehr seltene Ausnahmen. Was eine interne Beratung nach dem Muster des Council of Economic Advisers angeht, so ist zunächst zu fragen, wer eine solche Institution braucht.13 Von der Bundesregierung oder den Ministerien wurde ein entsprechender Bedarf bislang nicht reklamiert, zumindest nicht öffentlich. Unvermeidlich würde ein solches Gremium nicht nur produktive Reibungen erzeugen, wie z.B. die deutschen Erfahrungen mit Wissenschaftlern in der Exekutive oder die Erfahrungen des Council of Economic Advisers in der Krise 2007 ff. bei der Obama-Administration zeigten. Zudem würden die Legitimationswirkungen wegfallen, die das Jahresgutachten für das Regierungshandeln liefert und die bei der Etablierung des Rates und bis heute eine wichtige, wenn auch selten beachtete Rolle spielen – dies gilt nicht zuletzt für das jüngste Gutachten14. Schließlich wird in Plädoyers für das Council-of-Economic-Advisers-Modell nicht beachtet, dass seit der Etablierung des National Economic Council (NEC) in der ersten Clinton-Administration der Council of Economic Advisers nur noch einer von mehreren Akteuren bei der Formulierung der Wirtschaftspolitik des Präsidenten ist und keineswegs der einflussreichste, zumal seine Aufgabe auch im Zusammenhang mit Einrichtungen wie dem Office of Budget and Management (OBM), dem Congressional Budget Office (CBO) und weiteren, ähnlichen Organisationen zu sehen ist.

Zusammenfassung und Folgerungen

Die Bundesregierung ist ungeachtet gelegentlicher, zuweilen sehr heftiger Kritik an einzelnen Aussagen des Rats mit seiner Existenz mindestens dem Anschein nach zufrieden. Die Möglichkeiten auf seine Zusammensetzung oder die Präsentation seiner Vorschläge Einfluss zu nehmen, wurden jedenfalls bislang offenbar nicht genutzt. Im Fach sind Auseinandersetzungen mit den Thesen, Konzepten oder Ergebnissen der Jahresgutachten selten geworden, vor allem in den letzten Jahren. Auch hier wäre Abhilfe zu schaffen, vorausgesetzt entsprechende Ressourcen und passende Publikationsforen stehen zur Verfügung. Nicht zuletzt bieten sich regelmäßige Evaluationen der Institution an, auch wenn die Kriterien erst noch zu bestimmen wären.

Bis auf weiteres wird sich also die Bundesregierung weiterhin am 15. November eines jeden Jahres freundlich beim Rat für das überreichte Gutachten bedanken, die Öffentlichkeit wird seine Wachstumsprognose mehr oder weniger beeindruckt zur Kenntnis nehmen und das Kommentariat wird zwei Tage leitartikeln. Ökonomen werden, wenn sie für die Lektüre der 500 Seiten des Jahresgutachtens Zeit haben, vielleicht ob dieser oder jener Passage kurz das Haupt schütteln und einer oder zwei werden sich gedrängt sehen zur Feder zu greifen. The same procedure as every year. Aber allzu teuer ist der Rat mit jährlich ca. 2,1 Mio. Euro (2014) ja nicht und mindestens für Ökonomen ist das Jahresgutachten allemal eine anregende Lektüre.

  • 1 So z.B. D. Heilmann: Wer braucht die Wirtschaftsweisen?, in: Handelsblatt, Nr. 216, 10.11.2014, S. 14; J. Münchrath: Koalition der Selbstgerechten, in: Handelsblatt, Nr. 219, 13.11.2014.
  • 2 Vgl. N. Häring: Die Entzauberung der Weisen – Politiker und Wissenschaftler gehen mit dem Sachverständigenrat hart ins Gericht, in: Handelsblatt, Nr. 231, 1.12.2014, S. 1 und S. 13; bzw. K. Rietzler, D. Teichmann, A. Truger: Abbau der kalten Progression: nüchterne Analyse geboten, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 12, S. 864 ff.
  • 3 Eine Liste ausgewählter Literatur zum Sachverständigenrat und den Jahresgutachten findet sich auf der Webseite des Sachverständigenrates http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/literatur.html?&L=0.
  • 4 Zeitraum von 1963 bis 2010, vgl. T. Köhler: Zur Entwicklung und Bedeutung der Strukturmerkmale wirtschaftswissenschaftlicher Beratung in der Bundesrepublik, Leipziger Diplomarbeit, Leipzig 2010.
  • 5 Vgl. dazu im Einzelnen G. Tichy: Die Praxis der Konjunkturprognose des Sachverständigenrates, in: ifo-Studien, 36. Jg. (1990), H. 2-3, S. 119 ff.; sowie E. Helmstädter: Die Praxis der Konjunkturprognose des Sachverständigenrates, in: ebenda, S. 127 ff.
  • 6 Vgl. dazu die Untersuchung von H. Wienert: Was riet der Rat? Eine kommentierte Zusammenstellung von Aussagen des Sachverständigenrats zur Regulierung der Finanzmärkte und zugleich eine Chronik der Entstehung der Krise, Beiträge der Hochschule Pforzheim, Nr. 133, Pforzheim 2009, S. 25 ff. Übrigens eine der wenigen detaillierten Untersuchungen zentraler Positionen des Rats.
  • 7 Vgl. G. Kirchgässner: Zur Politischen Ökonomie der wirtschaftspolitischen Beratung, in: Wirtschaftsdienst, 93. Jg. (2013), H. 3, S. 198-203.
  • 8 Vgl. dazu im Einzelnen für die USA z.B. R. H. Nelson: The economics profession and the making of public policy, in: Journal of Economic Literature, 25. Jg. (1987), H. 1, S. 60 ff.
  • 9 Vgl. C. Noé: Für eine Renaissance der Makropolitik, in: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): 25 Jahre Stabilitätsgesetz: Überlegungen zu einer zeitgerechten Ausgestaltung der Stabilitäts- und Wachstumspolitik, Bonn 1992, S. 51 ff. Vgl. dazu auch Deutscher Bundestag: Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses nach Artikel 44 des Grundgesetzes, in: Bundestags-Drucksache 15/2100 vom 24.11.2003, bekanntgeworden als „Lügenausschuss“.
  • 10 Vgl. dazu den Beitrag K. van Paridon: Wirtschaftspolitische Beratung in den Niederlanden, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 3, S. 174-177 (in diesem Heft).
  • 11 Vgl. dazu im Einzelnen z.B. die Vorschläge in R. Hauser, G. G. Wagner, K. F. Zimmermann: Neue Entwicklungen in der Wirtschaftswissenschaft – Bedeutung und mögliche Konsequenzen für die Wirtschaftspolitik und wirtschaftswissenschaftliche Beratung – Zwischenbericht Forschungsbericht für das Bundesministerium der Finanzen, Bd. 2 Ökonomik der Volkswirtschaftslehre, DIW, Berlin 2000, S. 76 ff.
  • 12 Vgl. dazu z.B. H. J. Krupp: Wissenschaftler und Politiker: Unterschiedliche Rollen, in: Wirtschaftsdienst, 79. Jg. (1999), H. 3, S. 139 ff.; aktuell z.B. B. Rürup: Von Begutachtern zu Beratern, in: Handelsblatt, Nr. 241, 15.12.2015, S. 18.
  • 13 Aus der Untersuchung von J. Haucap, T. Thomas: Wissenschaftliche Politikberatung: Erreicht der Rat von Ökonomen Politik und Öffentlichkeit?, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 180 ff. ist kaum auf „Unterversorgung der Politik“ mit wirtschaftlichem Rat zu schließen, wenn man Befragungen dieser Art zum Nennwert nimmt und sich gleichzeitig die Zeitbudgets der Befragten vor Augen hält.
  • 14 Vgl. die Ausführungen zur Investitionsschwäche in Deutschland und den diesbezüglichen Monita der OECD im aktuellen Gutachten (Jahresgutachten 2014/15, Tz. 408 ff.), die eine beachtliche Übereinstimmung mit den Ausführungen des Bundeswirtschaftsministeriums im Monatsbericht Dezember 2013, S. 1 ff. aufweist, auch mit deren Lücken. Die gegenwärtige Bundesregierung teilt diese Sicht offenbar nicht mehr.

Nützliche Ideologen?

„Nützliche Ideologen“, so titelt Die Zeit kürzlich einen Beitrag über Ökonomen in ihrer Funktion als Politikberater in Deutschland. Sie hebt dabei insbesondere auf den Sachverständigenrat für Wirtschaft ab. Zwei seiner Mitglieder, Lars P. Feld und Peter Bofinger, geben auch zumindest implizit zu, dass Ideologie bei ihren Stellungnahmen eine Rolle spielt. Lars P. Feld stellt fest: „Wer behauptet, über Wirtschaftspolitik wertfrei urteilen zu können, liegt falsch.“ Peter Bofinger bemerkt: „Ideologisch sind natürlich immer die anderen.“1

Die Mitglieder des Sachverständigenrats sind somit offensichtlich – und auch nach eigenem Eingeständnis – ideologisch vorbelastet. Diese Vorbelastungen sind freilich bekannt, wenn die Mitglieder berufen werden, und sie sind zum Teil gerade Voraussetzung für die Berufung. Auch wenn es nicht im Gesetz steht,2 haben sowohl die Arbeitgeber als auch die Gewerkschaften ein Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung jeweils eines der fünf Posten, und sie werden in aller Regel eine Person nur dann akzeptieren, wenn sie zumindest einigermaßen auf ihrer politischen Linie ist. Tatsächlich sind es auch die Vertreter dieser beiden Positionen, insbesondere aber die „Gewerkschaftsvertreter“, die die meisten Sondervoten abgeben.3 Aber auch bei den anderen Mitgliedern dürften die wirtschaftspolitischen (ideologischen) Positionen bekannt sein. Dies gilt ganz besonders für die Mitglieder des Kronberger Kreises, der strikt neoliberale Positionen vertritt.4 Die Frage ist dann nur, ob die entsprechenden Personen wegen oder trotz ihrer politischen Positionen berufen werden. Dass diese keine Rolle spielen und einzig die wissenschaftliche Qualifikation zählt, ist kaum anzunehmen.5

Unabhängigkeit

Bei alldem kann man sich fragen, ob die Mitglieder des Sachverständigenrats wirklich „unabhängig“ sind. Dabei kommt es darauf an, was man unter „Unabhängigkeit“ versteht. Sie sind formal unabhängig im Sinne von § 1 (3) des SVR-Gesetzes, sieht man einmal davon ab, dass bei den Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften die jeweiligen Interessengruppen nicht nur bei ihrer Bestellung mitreden, sondern auch eine Wiederbestellung nach Ablauf der ersten Amtszeit verhindern können, was aber wohl erst einmal geschehen ist.6 Das heißt aber nicht, dass sie völlig unvoreingenommen an ihre Fragestellungen herangehen, schließlich kann wohl niemand bei einer solchen Arbeit seine politischen Einstellungen völlig verleugnen.7

Dies bezieht sich nicht nur auf Werturteile im engeren Sinne, sondern auch auf die Interpretation empirischer Ergebnisse. Wenn z.B. Peter Bofinger die konjunkturellen Auswirkungen eines Mindestlohns anders einschätzt als die Ratsmehrheit, beruht das darauf, dass er die vorliegende empirische Information zum Mindestlohn anders beurteilt. Dabei spielt wohl auf beiden Seiten die selektive Wahrnehmung eine wesentliche Rolle: Wir sind alle immer geneigt, jene Informationen eher zur Kenntnis zu nehmen und stärker zu gewichten, die mit unseren bisherigen Vorstellungen vereinbar sind. Da dies unvermeidbar ist, kann man Annäherungen an objektive Ergebnisse (fast) immer nur dadurch erreichen, dass man die unterschiedlichen Auffassungen in offener Diskussion miteinander konfrontiert. Hier hat das von den Gewerkschaften nominierte Mitglied eine wichtige Funktion; ohne dieses würde zumindest gelegentlich eine Eindeutigkeit behauptet, die nicht existiert. Kann sich das Gremium nicht einigen, machen Minderheitsvoten Sinn; sie machen nach außen das Spektrum der wissenschaftlichen Auffassungen deutlich. Wenn allerdings regelmäßig eine 4:1-Mehrheit besteht, dürfte das abweichende und überstimmte Mitglied freilich kaum in der Lage sein, in allen Fällen, in denen es eine andere Auffassung vertritt, diese in einem Minderheitsvotum auch zum Ausdruck zu bringen.

Nützlichkeit

Ist die Arbeit des Sachverständigenrats aber auch nützlich, d.h. ist sie jene 2 Mio. Euro pro Jahr wert, die der Steuerzahler dafür aufbringt? Dies wurde nach der Überreichung des Gutachtens nicht nur von der Regierungsseite angezweifelt, sondern auch in der Presse und sogar in der Wirtschaftspresse, die ökonomischen Problemen im Allgemeinen gegenüber aufgeschlossen ist.8 Auf die umfangreichen Vorwürfe, die gegen den Rat erhoben wurden, indem er z.B. des Plagiats sowie der Täuschung der Öffentlichkeit bezichtigt wurde,9 ging er in seiner Erwiderung nur teilweise und nicht immer befriedigend ein.10 Dass insbesondere das jüngste Gutachten nicht unproblematisch ist, soll im Folgenden an drei Beispielen gezeigt werden.11

Beispiel 1: Mindestlohn

Für aufmerksame Beobachter der politischen Szene in Deutschland war seit langem offensichtlich, dass ein flächendeckender Mindestlohn kommen würde. Schließlich haben sich in der letzten Legislaturperiode auch die CDU/CSU und die FDP damit angefreundet, auch wenn man nicht von „Mindestlohn“, sondern von „Lohnuntergrenze“ sprach. Eine realisierbare Forderung, die nicht nur von 84% aller Befragten, sondern sogar von 85% der FDP-Anhänger als „Gebot der Gerechtigkeit“ angesehen wird, lässt sich in einer Demokratie auf Dauer nicht verhindern.12 Wenn man die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohns für problematisch hält, kann man dagegen argumentieren. Der Sachverständigenrat hat dies – zusammen mit anderen deutschen Ökonomen – seit längerem getan, wie in den Gutachten dokumentiert ist.

Die vorliegende empirische Evidenz über die Auswirkungen eines Mindestlohns ist jedoch bei weitem nicht so eindeutig, wie uns die Mehrheit des Sachverständigenrats glauben machen will. Nicht umsonst haben im vergangenen Jahr in den USA 600 Ökonomen, darunter sieben Nobelpreisträger, an Präsident Obama appelliert, den Mindestlohn von 7,25 US-$ auf 10,10 US-$ zu erhöhen, was kaufkraftmäßig in etwa dem deutschen Mindestlohn von 8,50 Euro entspricht.13 Man ist sich darüber einig, dass ein zu tiefer Mindestlohn unwirksam ist, ein zu hoher erhebliche Arbeitsplatzverluste nach sich ziehen kann. Darüber, wann er „zu hoch“ ist, gehen die Meinungen freilich weit auseinander. Man ist sich außerdem weitgehend darüber einig, dass die Beschäftigungswirkungen von der konkreten Ausgestaltung abhängen. Noch im Gutachten 2013/2014, als der Mindestlohn de facto beschlossene Sache war und sich nicht mehr verhindern ließ, hat sich der Rat jedoch mit seiner grundsätzlichen Ablehnung zufrieden gegeben und nichts dazu gesagt, wie man ihn sinnvoll ausgestalten könnte, damit die Arbeitsplatzverluste so gering wie möglich sein werden. Man mag dies Prinzipientreue nennen, aber damit verspielt man seinen – durchaus möglichen – politischen Einfluss.

Beispiel 2: TTIP

Eines der nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa in der Zivilgesellschaft am intensivsten diskutierten Probleme sind die Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Kanada (CETA) und den USA (TTIP). Je nachdem, wie sie ausgestaltet sein werden, werden sie für die Entwicklung in Deutschland sehr viel entscheidender sein als z.B. der Mindestlohn. Aber während jener in den Gutachten des Sachverständigenrats seit Jahren intensiv diskutiert wird, finden diese Abkommen im Gutachten 2012/2013, als die Verhandlungen schon etliche Monate liefen und die öffentliche Diskussion bereits begann, überhaupt keine Erwähnung, und im Gutachten 2013/2014 werden sie auf zweieinhalb Seiten abgehandelt. Das Problem der Investitionsschutzabkommen ist dem Rat gerade einmal sechs Zeilen wert (Ziffer 66). Dabei wird zugestanden, dass es Kritik an diesen Abkommen gibt, und es wird als Alternative zum Verzicht auf ein solches Abkommen nahegelegt, „TTIP als Gelegenheit für eine Reform von internationalen Investitionsregimen zu begreifen.“ (S. 39)

In bisherigen Investitionsschutzabkommen ist es möglich, dass ausländische Firmen gegen einen Staat z.B. bei Verschärfungen der Umwelt-, Gesundheits- oder Sozialpolitik vor einem geheim tagenden Schiedsgericht, gegen welches es keine Rekursmöglichkeit gibt, wegen indirekter Enteignung auf Schadensersatz in Millionenhöhe klagen. So fordert z.B. Philip Morris 2,2 Mrd. US-$ von Uruguay wegen Gesundheitswarnungen auf Zigarettenpackungen, und der kanadische Konzern Lone Pine fordert über eine amerikanische Tochtergesellschaft 250 Mio. US-$ von Kanada wegen eines Moratoriums in Bezug auf die Gewinnung von Schiefergas durch Fracking, das aus Umweltschutzgründen erlassen wurde.14 Dies sind keine Einzelfälle; die Zahl solcher Klagen hat in jüngerer Zeit erheblich zugenommen.15 Ein solches Abkommen könnte jede zukünftige Umwelt-, Sozial- und Gesundheitspolitik zumindest erschweren (und verteuern), wenn nicht ganz unmöglich machen. Auf all dies geht der Sachverständigenrat nicht ein. Dabei hätte man sich angesichts dieser Problematik gewünscht, wie seiner Meinung nach die von ihm erwähnte „Reform von internationalen Investitionsregimen“ aussehen könnte.16

Dafür wird auf eine Studie aus dem ifo-Institut hingewiesen, die durch dieses Abkommen in Deutschland neue 110 000 Arbeitsplätze errechnet.17 Dies gilt freilich nur für das „Binnenmarktszenario“, wonach – vereinfacht gesprochen – die USA Teil der Europäischen Union würden. Unter dem realistischeren Szenario, dass die nicht-tarifären Handelshemmnisse soweit abgebaut würden wie im Durchschnitt bei den bisherigen Abkommen, ergeben sich nur 25 000 neue Arbeitsplätze, und wenn nur die Zollschranken abgebaut werden, sind überhaupt keine neuen Arbeitsplätze zu erwarten. Ein – zumindest basierend auf der angegebenen Quelle – unrealistisches Maximalszenario wird hier als gesicherte Erkenntnis für den zu erwartenden Beschäftigungszuwachs verkauft.18

Beispiel 3: Einkommensverteilung

Anhand von drei Bildern (Abbildung 71, S. 274) versucht uns der Sachverständigenrat zu überzeugen, dass die Bevölkerung die Einkommensverteilung sehr viel ungleicher einschätzt, als sie tatsächlich ist. Kapitel 7 I ist überschrieben: „Verteilung: Verzerrte Wahrnehmung“ (S. 272). Die subjektive Wahrnehmung wird aus den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ermittelt. Dabei wird die Methode aus einer am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln entstandenen Arbeit übernommen.19 In einer Umfrage werden fünf verschiedene Gesellschaftsformen vorgestellt und es wird gefragt, welche davon für Deutschland repräsentativ ist. Daraus wird eine Skala mit sieben Kategorien abgeleitet, welche die subjektive Wahrnehmung der Verteilung abbilden soll. Dieses Vorgehen ist hoch spekulativ und in keiner Weise wissenschaftlich abgesichert. Diese Skala wird den Ergebnissen einer Umfrage nach der Selbsteinschätzung des persönlichen Wohlergehens gegenübergestellt, die ebenfalls sieben Kategorien kennt. Dabei ergeben sich erhebliche Unterschiede. Dies ist freilich nicht überraschend. Selbstverständlich kann ich mit meiner persönlichen Situation zufrieden sein und dennoch die Auffassung vertreten, dass die Einkommen zu ungleich verteilt sind. Daraus kann man keine verzerrte Wahrnehmung ableiten.

Als drittes wird die Verteilung der Haushaltseinkommen dargestellt, wiederum anhand einer Sieben-Punkte-Skala. Über 30% haben ein Markteinkommen von weniger als 60% des Medianeinkommens, sind somit nach der üblichen Definition zunächst „arm“ bzw. „armutsgefährdet“. Dies wird wesentlich durch Umverteilungsmaßnahmen des Staates ausgeglichen, sodass beim Nettoeinkommen nur noch 15% unter dieser Schwelle liegen, sehr viel weniger, als die Wohlfahrtsverteilung – gemäß der höchst problematischen Skala – als niedrig einschätzen. Aber auch das rechtfertigt nicht die Behauptung einer verzerrten Wahrnehmung: Ich kann wegen der Ungleichheit im Markteinkommen diese Gesellschaft als sehr ungerecht empfinden, auch wenn mir bewusst ist, dass der Staat als Reparaturbetrieb dies zu erheblichen Teilen wieder ausgleicht. Dass das Institut der Deutschen Wirtschaft als Lobbyorganisation eine solche Arbeit veröffentlicht, ist verständlich, dass der Sachverständigenrat diesen Ansatz kritiklos übernimmt und aus den Ergebnissen diese Schlüsse zieht, stimmt bedenklich.

Abschließende Bemerkungen

Ist der Sachverständigenrat sein Geld nun wert oder nicht? Sollte man diese Steuergelder nicht besser anders einsetzen? Selbstverständlich gibt es andere Möglichkeiten, dieses Geld sinnvoll einzusetzen, aber man sollte wegen eines in Teilen problematischen Jahresgutachtens nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Schließlich hat der Rat im Laufe der Jahre in seinen Gutachten auch viele interessante und wertvolle Analysen angestellt. Außerdem hat er sich gebessert: Seit dem Jahresgutachten 2005/2006 werden bei allen Kapiteln die Quellen angegeben, auf die sich der Rat bezieht. Dies ermöglicht eine sachliche Diskussion, die so davor kaum möglich war.20 Auch die Diskussion, die sich am aktuellen Gutachten entzündet hat, wäre so nicht möglich gewesen.

Dies heißt nicht, dass man die Mängel dieses Gutachtens übersehen oder gar billigen sollte. Auch der Sachverständigenrat kann aber lernen, und es ist zu hoffen, dass er beim nächsten Gutachten sorgfältiger sein wird. Es wäre wünschenswert, wenn manche Auffassungen, die von der 4:1-Ratsmehrheit geteilt werden, etwas kritischer hinterfragt würden. Dazu benötigt man keine heterodoxe neue Theorie, aber vielleicht etwas mehr kritisches Potenzial. Es könnte möglicherweise auch helfen, wenn die Ratsmehrheit ideologisch etwas weniger homogen zusammengesetzt wäre.

  • 1 P. Pinzler: Nützliche Ideologen: Warum Ökonomen und Politiker sich immer häufiger beschimpfen und einander doch brauchen, in: Die Zeit, Nr. 5, vom 29.1.2015, S. 23.
  • 2 Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, vom 14.8.1963, in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 700-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch Artikel 128 der Verordnung vom 31.10.2006 (BGBl. I S. 2407), http://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/Sonstiges/Gesetz_SRW.pdf (15.2.2015).
  • 3 Vgl. N. Potrafke: Minority Positions in the German Council of Economic Experts: A Political Economic Analysis, in: European Journal of Political Economy, 31. Jg. (2013), S. 180-187.
  • 4 Der Kronberger Kreis ist ein von der Stiftung Marktwirtschaft finanzierter Kreis rechts-liberaler Wirtschafts- und Rechtsprofessoren, der sich in Gutachten regelmäßig zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen äußert, http://www.stiftung-marktwirtschaft.de/wirtschaft/kronberger-kreis.html (20.2.2015).
  • 5 Wie einflussreich der Kronberger Kreis ist, zeigt sich unter anderem am Titel des aktuellen Gutachtens: „Mehr Vertrauen in Marktprozesse.“ Die Devise des Kronberger Kreises lautet „Mehr Mut zum Markt“.
  • 6 Wolfgang Franz war von 1995 bis 1999 Mitglied auf dem Ticket der Gewerkschaften, die sich gegen seine Wiederwahl aussprachen. Von 2003 bis 2013 war er dann Mitglied auf dem Ticket der Arbeitgeber.
  • 7 Es wäre der Transparenz dienlich, wenn der Sachverständigenrat auf seiner Website bei der Auflistung der heutigen und früheren Mitglieder angeben würde, wer jeweils auf dem Arbeitgeber- und wer auf dem Gewerkschaftsticket berufen wurde.
  • 8 Vgl. N. Häring: Die Entzauberung der Weisen, in: Handelsblatt, Nr. 231, vom 1.12.2014, S. 13.
  • 9 Ders.: Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen, 12.11.2014, http://norberthaering.de/index.php/de/newsblog2/27-german/news/173-wie-die-fuenf-wirtschaftsweisen-tricksen-und-manipulieren-eine-detailansicht-teil-1; http://norberthaering.de/index.php/de/newsblog2/27-german/news/189-wie-die-wirtschaftsweisen-tricksen-teil-5 (19.2.2015).
  • 10 Vgl. Antwortkatalog zu den Anfragen von Herrn Dr. Norbert Häring (Handelsblatt) zum Jahresgutachten 2014/15 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, 29.11.2014, http://www.handelsblatt.com/downloads/11054230/5/Die%20Antworten%20der%20Sachverständigen; sowie die Erwiderung von N. Häring: Erwischt beim Tricksen und Täuschen suchen die Wirtschaftsweisen ihr Heil im Tricksen und Täuschen, 5.12.2014, http://norberthaering.de/index.php/de/newsblog2/27-german/news/188-erwischt-beim-tricksen#1-weiterlesen (19.2.2015).
  • 11 Aus Platzgründen beschränken wie uns hier auf drei; man könnte eine ganze Reihe weiterer Beispiele anfügen.
  • 12 Siehe die Umfrageergebnisse unter http://de.statista.com/statistik/daten/studie/207474/umfrage/einstellung-zum-mindestlohn-in-deutschland/ (18.2.2015).
  • 13 500 Ökonomen, darunter vier Nobelpreisträger, haben sich gegen diese Erhöhung ausgesprochen. Vgl. hierzu G. Kirchgässner: On the Process of Scientific Policy Advice – With Special Reference to Economic Policy, CESifo Working Paper, Nr. 5144, Dezember 2014, S. 3 ff.
  • 14 Vgl. hierzu Corporate Europe Observatory: Still not loving ISDS: 10 reasons to oppose investors’ super-rights in EU trade deals, 16.4.2004, http://corporateeurope.org/international-trade/2014/04/still-not-loving-isds-10-reasons-oppose-investors-super-rights-eu-trade (18.2.2015).
  • 15 So stieg die Zahl der Fälle zwischen 1996 und 2011 von 38 auf 450. Siehe hierzu P. Eberhardt, C. Olivet: Profiting from Injustice: How Law Firms, Arbitrators and Financiers are Fuelling an Investment Arbitration Boom, Corporate Europe Observatory/Transnational Institute, Brüssel, Amsterdam 2012, S. 14, http://www.tni.org/sites/www.tni.org/files/download/profitingfrominjustice.pdf (20.2.2015).
  • 16 Zur ausführlicheren Diskussion siehe G. Kirchgässner: Zu neueren Entwicklungen bei der Einbeziehung privater Akteure in Prozesse der öffentlichen Verwaltung: Einige Bemerkungen, erscheint in: C. Fuchs et al. (Hrsg.): Staatliche Aufgaben, private Akteure, Bd. 1: Erscheinungsformen und Effekte, Wien 2015.
  • 17 G. Felbermyar et al.: Dimension und Effekte eines transatlantischen Freihandelsabkommens, in: ifo Schnelldienst, H. 4/2013, S. 22-30.
  • 18 Hier ist der von Häring erhobene Vorwurf der Täuschung der Öffentlichkeit nicht unplausibel. Vgl. N. Häring: Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen, 12.11.2014 ..., a.a.O.
  • 19 J. Niehus: Subjective Perceptions of Inequality and Redistributive Preferences: An International Comparison, mimeo, Institut der Deutschen Wirtschaft, Köln 2014.
  • 20 Das Gleiche galt auch für die Wissenschaftlichen Beiräte bei den Bundesministerien für Wirtschaft und für Finanzen; auch sie hielten früher ihre Quellen unter Verschluss.

Stuck in the Middle? – der Sachverständigenrat zwischen Bürger- und Politikberatung

Nach Übergabe des Jahresgutachtens 2014/15 erfuhr der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung heftige Kritik seitens der Politik. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi stellte die wissenschaftliche Kompetenz der Wirtschaftsweisen öffentlich infrage.1 Zuvor hatte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel mit Blick auf Ökonomen generell von den Gefahren einer „Wirtschaftstheologie“ gesprochen.2 Und beim Treffen der Nobelpreisträger in Lindau im August 2014 hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel der Ökonomenzunft mangelnde Prognosesicherheit, Praxisferne und eine unverständliche Sprache vorgehalten.3 Die Kritik an Wirtschaftswissenschaftlern im Allgemeinen und am Sachverständigenrat im Speziellen legt den Eindruck nahe, die Politik habe Probleme mit einer unabhängigen Beratung. Auf der anderen Seite klagen Volkswirte gerne und immer wieder, dass in der Politik zu wenig auf ihre Erkenntnisse gehört würde und dass die Öffentlichkeit wenig Wissen über grundlegende marktwirtschaftliche Zusammenhänge habe.

Liegt die Unzufriedenheit mit dem Politikberatungsprozess wirklich an der mangelnden Kompetenz der wissenschaftlichen Berater? Oder liegt sie eher an einem ungünstigen institutionellen Design der Beratung?

Funktionen wirtschaftswissenschaftlicher Politikberatung

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung wurde per Gesetz 1963 eingerichtet. Seine Aufgabe ist es, als unabhängiges Gremium die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland periodisch zu begutachten und zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit beizutragen. Gesetzliche Aufgabe ist es demnach, die Politik zu beraten und die Öffentlichkeit aufzuklären.4

Um die Frage zu klären, ob dies gemeinsam sinnvoll von einer Institution erfüllt werden kann, werden im Folgenden die Funktionen des Sachverständigenrates näher beleuchtet, Erfolgsfaktoren identifiziert und auf ihre Kompatibilität hin geprüft. Grundsätzlich kann man zwischen fünf Funktionen der Politikberatung unterscheiden: operative Beratungsfunktion, Konzeptionsfunktion, Aufklärungs- und Bildungsfunktion, Legitimationsfunktion und Filterfunktion.5 An dieser Stelle werden die operative Beratungsfunktion und die Aufklärungs- und Bildungsfunktion näher betrachtet.

Die operative Beratungsfunktion umfasst die Beratung von Entscheidungsträgern aus Politik und Ministerien bei der Planung und Umsetzung von wirtschaftspolitischen Maßnahmen.6 Die Beratungsempfänger erwarten konkrete Vorschläge, wie sie mit welchen Instrumenten ein politisch determiniertes Ziel erreichen können.7 Der Zeithorizont dieser Funktion der Politikberatung ist zumeist durch die Länge der Legislaturperiode bestimmt.8 Um die operative Beratungsfunktion erfolgreich erfüllen zu können, muss die Beratung insbesondere die spezifische Zielvorstellung der Adressaten berücksichtigen und entsprechend der Tagespolitik flexible Unterstützungsleistungen anbieten können. Dabei sollte sie direkt in die Entscheidungsprozesse eingebunden sein und sich am politisch Realisierbaren orientieren. Diese Kriterien verdeutlichen, dass die operative Beratungsfunktion eher von einem (regierungs-)internen Beratungsgremium erfüllt werden kann.

Die Aufklärungs- und Bildungsfunktion wiederum dient der umfassenden Information der Bürger über wirtschaftspolitische Zusammenhänge und die Wirkung politischer Maßnahmen. Diese Beratungsfunktion zielt als „Übersetzungsprozess zwischen Wissenschaft und Politik“9 auf die Öffentlichkeit als Adressat, auch wenn sie kein direkter Auftraggeber ist.10 In dieser Funktion übernimmt Beratung vielfach auch die Rolle eines „unbequemen öffentlichen Mahners“11 und ist eine wichtige Informationsquelle für die Bürger.12 Um die Funktion möglichst gut erfüllen zu können, sollte das Beratungsorgan durch eine externe Institutionalisierung in größtmöglicher Unabhängigkeit operieren und sich gerade nicht nach den Zielvorstellungen der Politik richten. Der Beratungshorizont geht zum Teil weit über eine Legislaturperiode hinaus. Ebenso sind Ansehen bzw. Glaubwürdigkeit sowie die Möglichkeit zur öffentlichen Kritik an der Politik entscheidende Erfolgsfaktoren dieser Funktion. Auch müssen die Beratungsaussagen für die breitere Öffentlichkeit verfügbar und vor allem verständlich sein.

Vergleicht man diese beiden Funktionen von Politikberatung und ihre Erfolgsfaktoren, wird schnell deutlich, dass die operative Beratungsfunktion nicht sinnvoll mit der Aufklärungs- und Bildungsfunktion gemeinsam von einer Institution erfüllt werden kann.

Wie leistungsfähig ist der Sachverständigenrat in der Politik- und Bürgerberatung?

Um die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Sachverständigenrates im Hinblick auf die ihm per Gesetz zugeschriebenen Aufgaben beantworten zu können, muss geklärt werden, inwieweit der Rat „zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit“ beiträgt.13

Hierzu wird zunächst eine Umfrage unter Abgeordneten und hochrangigen Mitarbeitern von Ministerien (Referatsleiter oder höher) herangezogen, die für das FAZ-Ökonomenranking 2013 und 2014 durchgeführt wurde.14 Die Ergebnisse zeigen, dass die Mitglieder des Sachverständigenrates in Politik und Ministerien im Vergleich zu anderen Ökonomen durchaus geschätzt werden: 2013 waren mit Peter Bofinger und Lars P. Feld zwei der Top-10-Ökonomen Mitglieder des Sachverständigenrates. 2014 waren es zudem mit dem Vorsitzenden des Rates Christoph M. Schmidt derer drei. Mit einiger Berechtigung kann demnach davon ausgegangen werden, dass der Sachverständigenrat zumindest in gewisser Weise seiner Aufgabe der Beratung der Politik nachkommt, denn seine Mitglieder werden von Abgeordneten und Mitarbeitern in Ministerien geschätzt. Daneben stehen insbesondere Leiter von Wirtschaftsforschungsinstituten hoch im Kurs – allen voran Hans-Werner Sinn auf Rang 1.

Im Hinblick auf die Öffentlichkeit als zweiten Adressaten des Sachverständigenrates kann das Medienranking, das eine weitere Säule des FAZ-Ökonomenrankings bildet, Aufschluss bieten.15 Mitglieder des Sachverständigenrates sucht man in den Top 10 nahezu vergebens: 2013 schaffte es kein Wirtschaftsweiser unter die Top 10 – im Jahr 2014 war es mit dem Vorsitzenden des Rates Christoph M. Schmidt auf Rang 6 immerhin einer. Nehmen Ökonomen am öffentlichen Diskurs zu wirtschaftlichen und wirtschaftpolitischen Themen teil, so sind dies wiederum vorrangig die Leiter von Wirtschaftsforschungsinstituten – 2013 und 2014 waren vier der Top-10-Kandidaten Vertreter eines Leibniz-Instituts. Und auch aktuelle oder ehemalige Bankenvolkswirte sind in deutschen Medien stark vertreten: 2013 und 2014 waren es ebenfalls jeweils vier. Neben aller fachlichen Kompetenz lässt dies darauf schließen, dass die professionelle Arbeit von Pressestellen wesentlich dazu beiträgt, dass diese Ökonomen in der Öffentlichkeit relativ präsent sind.

Wie kann der Sachverständigenrat (noch) mehr Wirkung entfalten?

Der Sachverständigenrat hat unzweifelhaft zumindest eine gewisse Wirkung in Politik und Öffentlichkeit. Gerade unter Politikern und Führungskräften von Ministerien wird der Rat geschätzt. Damit ist naheliegend, dass er seiner gesetzlichen Aufgabe zur Erleichterung der Urteilsbildung der wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen nachkommt.

Ob ihm das allerdings in Richtung der Öffentlichkeit gelingt, muss anhand der empirischen Fakten bezweifelt werden. So zeigt die Empirie, dass Aussagen wissenschaftlicher Experten in den Medien in der Regel nur etwa 1% bis 2% aller Aussagen ausmachen. Davon entfallen etwa zwei Drittel auf Ökonomen und ein Drittel auf Vertreter anderer Disziplinen.16 So bleiben sie unterhalb der Wahrnehmungsschwelle für das breitere Publikum und entfalten kaum Wirkung. Die Agenda wird vielmehr von Politikern, Interessenvertretern und Journalisten selbst bestimmt. Noch deutlicher fällt das Ergebnis aus, wenn man vergleicht, wie häufig sich Mitglieder des Sachverständigenrates im Vergleich zu anderen Ökonomen in den Medien zu Wort melden. Folglich kann auf Basis dieser Daten nicht davon ausgegangen werden, dass der Rat der fünf Weisen in der Öffentlichkeit ankommt und wesentlich zu einer Aufklärung der Bürger beiträgt. Damit kommt der Rat diesem Teil seiner gesetzlichen Aufgabe nicht oder nicht vollständig nach.

Ein Großteil der meistzitierten Ökonomen in deutschen Leitmedien sind hingegen Chefvolkswirte von Banken und Vertreter der Leibniz-Institute, die über eigene Pressestellen verfügen. Die Einrichtung einer kompetenten Pressestelle könnte auch beim Sachverständigenrat für mehr Wirkung in der Öffentlichkeit sorgen.

Aber die ausbaufähige Wirkung des Sachverständigenrates hat auch tieferliegende, institutionelle Ursachen: So zeigt eine Analyse von Funktionen wissenschaftlicher Politikberatung, dass die gleichzeitige Erfüllung der operativen Beratungsfunktion und der Aufklärungs- und Bildungsfunktion nicht sinnvoll möglich ist, da sich die Arten der Institutionalisierung teilweise widersprechen. Die Erfolgsfaktoren der operativen Beratung: „Berücksichtigung der Zielvorstellungen des Adressaten“, „(regierungs-)interne Institutionalisierung“ und „tagespolitische Ausrichtung“ widersprechen klar denen der Aufklärungs- und Bildungsfunktion: „größtmögliche Unabhängigkeit“, „(regierungs-)externe Institutionalisierung“ und „Langfristorientierung“. Versucht der Sachverständigenrat die beiden Aufgaben gemeinsam zu erfüllen, so sind Effizienzverluste und ein Einfluss, der hinter den Möglichkeiten zurückbleibt, wahrscheinlich.

Besser wäre es, wenn sich der Sachverständigenrat auf die Aufgabe der Bürgerberatung konzentrieren würde. Dies würde nicht ausschließen, dass der Rat auch von Politikern und Mitarbeiter in Ministerien weiterhin geschätzt wird – insbesondere dann, wenn die Wirtschaftsweisen über notwendige wirtschaftspolitische Strukturreformen aufklären und so zur Erleichterung der Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen beitragen würden. Da dieser Rat aber gerade nicht mit der Zielfunktion der jeweiligen Regierung übereinstimmen müsste, wäre Kritik seitens der Politik zwar weiterhin zu erwarten – sie wäre aber aufgrund der eindeutigen Ausrichtung des Sachverständigenrates offensichtlich unberechtigt. Für eine Beratung nach den Zielvorstellungen der Politik könnte zusätzlich ein von der Regierung berufener „Council of Economic Advisers“ eingerichtet werden. So könnte volkswirtschaftliche Expertise effektiver genutzt werden.

  • 1 Vgl. Die Welt vom 13.11.2014, S. 1.
  • 2 Vgl. Die Welt vom 12.11.2014, S. 10.
  • 3 A. Merkel: Rede der Bundeskanzlerin zum 5. Treffen der Nobelpreisträger [der Wirtschaftswissenschaften in Lindau], Berlin 2014, www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2014/08/2014-08-20-lindau.html.
  • 4 Vgl. Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, §1(1).
  • 5 Vgl. U. Papenfuß, T. Thomas: Eine Lanze für den Sachverständigenrat? – Plädoyer für eine differenziertere Analyse wirtschaftswissenschaftlicher Beratungsinstitutionen, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 8. Jg. (2007), H. 4, S. 339; sowie U. Papenfuß, T. Thomas: Funktionen wissenschaftlich fundierter Politikberatung: Aufklärung und Bildung als Beratungsansatz, in: Zeitschrift für Politikberatung, 3. Jg. (2011), H. 3-4, S. 429.
  • 6 Vgl. T. Theurl: Ökonomische Politikberatung: Erfolg durch Konkretisierung von Zielen, Aufgaben und Akteuren?, in: B. P. Priddat, T. Theurl (Hrsg.): Risiken der Politikberatung, Baden-Baden 2004, S. 15.
  • 7 Vgl. G. Kirchgässner: Politik und Politikberatung aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie, in: Liberal, 30. Jg. (1998), H. 2, S. 46.
  • 8 Cassel nennt diese Form von Beratung Politikerberatung, vgl. S. Cassel: Politikberatung und Politikerberatung, Bern 2001.
  • 9 Vgl. J. Habermas: Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, in: R. Reich (Hrsg.): Humanität und politische Verantwortung, Zürich 1964, S. 69.
  • 10 Vgl. G. Kirchgässner: Ideologie und Information in der Politikberatung: Einige Bemerkungen und ein Fallbeispiel, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Bd. 41, 1996, S. 10.
  • 11 Ebenda, S. 4 ff.
  • 12 Diese Beratungsfunktion nennt Cassel Politikberatung im engeren Sinne, vgl. ebenda.
  • 13 Vgl. Gesetz über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, §1(1).
  • 14 Für eine genaue Beschreibung des FAZ-Ökonomenrankings sowie Robustheitstests vgl. J. Haucap, T. Thomas, G. G. Wagner: Welchen Einfluss haben Wissenschaftler in Medien und auf die Wirtschaftspolitik?, in: Wirtschaftsdienst, 95. Jg. (2015), H. 1, S. 68-75; sowie J. Haucap, T. Thomas: Wissenschaftliche Politikberatung: Erreicht der Rat von Ökonomen Politik und Öffentlichkeit?, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 3, S. 180-186.
  • 15 Insgesamt wurden vom schweizerischen Medienanalyseinstitut Media Tenor International für das Ökonomenranking 2014 zwischen dem 1.8.2013 und dem 31.7.2014 in den Politik-, Wirtschafts- und Finanzteilen von 30 deutschen Leitmedien alle 3506 Zitate deutscher Ökonomen ausgewertet.
  • 16 Werden wissenschaftliche Experten in deutschen Leitmedien gehört, so sind dies in der Regel zu zwei Dritteln Ökonomen und zu einem Dritten Vertreter anderen Disziplinen – in erster Linie Politikwissenschaftler und Staatsrechtler. (J. Haucap, T. Thomas, G. G. Wagner: Zu wenig Einfluss des ökonomischen Sachverstands? Empirische Befunde zum Einfluss von Ökonomen und anderen Wissenschaftlern auf die Wirtschaftspolitik, in: DICE Ordnungspolitische Perspektiven, Nr. 70, 2015, S. 11, erscheint in ListForum.)

Wirtschaftspolitische Beratung in den Niederlanden

Bei der Vorbereitung der wirtschaftspolitischen Strategien in den Niederlanden spielt das niederländische Büro für Wirtschaftspolitische Analyse (Centraal Planbureau (CPB)) eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Beitrag wird zunächst kurz auf die Geschichte des CPB eingegangen und darauf, wie es zu seinem Namen kam. Anschließend wird beschrieben, welche Rolle das Büro für Wirtschaftsanalyse heute spielt. Zum Schluss einige Bemerkungen zu der Frage, was andere Länder aus den Erfahrungen mit dieser Institution wirtschaftspolitischer Beratung lernen können.

Die Geschichte des CPB beginnt im Frühjahr 1945. Damals erhielt Jan Tinbergen von der gerade neu angetretenen Regierung den Auftrag, einen Vorschlag für die Errichtung eines neuen Instituts vorzulegen,1 in dem Ökonomen regelmäßig einen Plan für die künftige Wirtschaftspolitik ausarbeiten sollten. Tinbergen hatte 1935 im Auftrag der damaligen sozialdemokratischen Opposition einen wichtigen Beitrag zum Plan zur Konjunkturstabilisierung entwickelt, der eine Reihe von Maßnahmen zur Überwindung der Krise enthielt („Plan van de Arbeid“).2 Die darin präsentierten Vorschläge hatten einen unverkennbar keynesianischen Charakter (auch wenn Keynes' „Allgemeine Theorie“ noch gar nicht erschienen war!), wobei die Wirkungen der Vorschläge mithilfe eines makroökonometrischen Modells quantifiziert wurden, was zu dieser Zeit einer Revolution gleichkam. Die damalige Regierung stand den Vorschlägen allerdings ablehnend gegenüber.

Aber 1945, nach Kriegsende, hatten sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt: Die neue Regierung stand keynesianischen Vorstellungen viel positiver gegenüber als ihre Vorgängerin in den 1930er Jahren. Einige Minister sprachen dabei von „Planung“, aber in der Parlamentsdebatte über das Gründungsgesetz zum CPB zeigten sich Unstimmigkeiten über das Wort „Planung“. Zwar waren die Abgeordneten mit einem Amt, das die Regierung beraten und Prognosen erstellen sollte, einverstanden. Aber die Vorstellung, dass die Wirtschaft „zu planen sei“, wurde abgelehnt. Die Begriffe „Planungsamt“ im Namen bzw. die Abkürzung „CPB“ blieben,3 später allerdings mit dem Zusatz „Niederländisches Büro für Wirtschaftspolitische Analyse“.

„Beratung und Prognose“ – so lassen sich die Aufgaben des CPB beschreiben. Das CPB untersucht die Folgen der Wirtschaftsentwicklung für den öffentlichen Haushalt und für die Volkswirtschaft, und es analysiert die ökonomischen Folgen von Politikänderungen. Die Ergebnisse werden der Politik und anderen Interessierten zur Verfügung gestellt.4 Das CPB ressortiert zwar beim Wirtschaftsministerium, ist aber von der Regierung völlig unabhängig. Es wird aus öffentlichen Mitteln finanziert, externe Aufträge werden nur von EU-Institutionen oder von der OECD angenommen. Momentan beschäftigt das CPB etwa 110 Mitarbeiter, darunter rund 60 Wirtschaftswissenschaftler/Wirtschaftsmathematiker.5

Natürlich legen auch andere wie z.B. die Nederlandse Bank und verschiedene (universitäre) Forschungsinstitute, die OECD, die Europäische Kommission oder der Internationale Währungsfonds Prognosen der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Niederlande vor, aber faktisch verfügt das CPB in den Niederlanden über ein Monopol. Das gilt erst recht für die Einschätzung der Konsequenzen politischer Maßnahmen.

Es gab in der Vergangenheit Versuche, ein alternatives Büro zu gründen, aber diese Versuche waren am Ende nicht erfolgreich. Zwischen 2005 und 2008 existierte auch in den Niederlanden eine Art Sachverständigenrat als ein unabhängiges Beratungsgremium der Zweiten Kammer. Die Ratsmitglieder selbst entschieden aber, dass eine Fortsetzung nicht zweckmäßig wäre.6 Nicht nur sollte der Rat ein breiteres Spektrum an Fragestellungen als ursprünglich vorgesehen beurteilen, die Ratsmitglieder waren auch der Meinung, dass sich die Parlamentarier zu oft aus den Gutachten nur der Argumente bedienten, die ihrer eigenen Sache nützten. Im Allgemeinen vertraut man daher auf die Analysen und Erkenntnisse des CPB, auch wenn es durchaus Situationen oder Zeiten gab, in denen das CPB weniger erfolgreich war, wie z.B. in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Dennoch: Rolle und Bedeutung des CPB sind auch heute noch unumstritten.

Die Arbeit des CPB

Seit Aufnahme seiner Tätigkeit erstellt das CPB Prognosen über die voraussichtliche Entwicklung der niederländischen Wirtschaft. Sie werden in zwei Veröffentlichungen dokumentiert: dem „Zentralen wirtschaftspolitischen Plan“ (Centraal Economisch Plan (CEP)), der seit 1948 vorgelegt wird, und seit 1961 auch im „Makroökonomischen Bericht“ (Macro-Economische Verkenning (MEV)). Der CEP erscheint im Frühjahr (in der Regel im März) und enthält eine erste Prognose für die wirtschaftliche Entwicklung im jeweiligen und im folgenden Jahr.7 Dieses Material wird zur Vorbereitung des neuen Staatshaushalts herangezogen. Die Beschlussfassung der Regierung darüber erfolgt im Allgemeinen im Frühjahr; die Beratungen können sich aber bis in den Sommer hinziehen. Traditionell wird in den Niederlanden am dritten Dienstag im September, dem „Prinsjesdag“, der Haushalt des kommenden Jahres vorgelegt. Der Throninhaber verliest dann die Thronrede, die die Grundzüge der Regierungspolitik im kommenden Jahr enthält. An diesem Tag legt die Regierung auch den Staatshaushalt, die „Miljoenennota“, und den „Makroökonomische Bericht“ vor, in dem die Folgen der künftigen Regierungspolitik bzw. von Änderungen des politischen Kurses für die Wirtschaftsentwicklung im nächsten Jahr dargelegt werden.8 CEP und MEV bilden für Regierung und Opposition, Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie für die Wirtschaft die Grundlagen der Entwicklung und Formulierung ihrer jeweiligen eigenen Strategie. Das erwartete Wirtschaftswachstum, die Inflationsrate, die Entwicklung der Beschäftigung und die möglichen Folgen für das Einkommen sind wichtige Eckdaten für den Haushalt, dienen aber auch den Tarifpartnern als Leitfaden für die Tarifverhandlungen. Für die Unternehmen ist insbesondere die erwartete konjunkturelle Entwicklung im In- und Ausland von Interesse. Das CPB untersucht auch, welche Folgen sich aus der Wirtschaftsentwicklung und relevanter Maßnahmen für die Einkommen ergeben, was regelmäßig Gegenstand parlamentarischer Debatten ist – nicht anders als in anderen Ländern, wo Ministerien oder Forschungsinstitute Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung vorlegen und diese im politischen Raum diskutiert werden.

Noch weitaus bemerkenswerter, vor allem aus der Sicht des Auslands, ist die Rolle, die das CPB bei Parlamentswahlen spielt. Im Vorfeld der Wahlen zum Abgeordnetenhaus, wenn die Regierung nur noch geschäftsführend im Amt ist, legt das CPB eine mittelfristige Prognose der wirtschaftlichen Entwicklung vor. Darin wird dargelegt, wie sich die Wirtschaft und der Haushalt bei unveränderter Fortführung der Politik entwickeln würden. Diese Informationen werden auch allen politischen Parteien zur Verfügung gestellt. Die Parteien, die das möchten, können in Zusammenarbeit mit dem CPB – in leicht vergleichbarer Weise – berechnen lassen, welche wirtschaftlichen Folgen es hätte, wenn ihr Wahlprogramm mit allen relevanten Vorschlägen umgesetzt würde.9 Die Ergebnisse dieser Berechnungen werden dann vom CPB veröffentlicht.10 Dies erleichtert es den Wählern zu bestimmen, welche Partei sie wählen sollten, je nachdem ob sie z.B. der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Einkommensgleichheit oder Steuersenkungen den Vorzug geben wollen. Für die politischen Parteien bedeutet es, dass sie sich keine diffusen Aussagen wie „die Arbeitslosenquote muss gesenkt werden“ usw. leisten können, sondern dass sie bei all ihren Vorschlägen auch alle Konsequenzen, z.B. für den Staatshaushalt offenlegen müssen. Das erschwert es ihnen, mit leeren, d.h. unfundierten Versprechungen Wähler zu gewinnen. Im Laufe der Zeit erklärten sich immer mehr Parteien bereit, an dieser Analyse der Wahlprogramme teilzunehmen; bei den letzten Parlamentswahlen 2013 waren es schon zehn Parteien.11

Damit endet die Aufgabe des CPB aber noch nicht. Nach den Wahlen muss schließlich eine neue Regierung gebildet werden. In den Niederlanden bedeutet das immer: eine Koalition. Aber auch dann dient die Basis­analyse des CPB als Grundlage der Politik für die nächsten vier Jahre. In den folgenden Verhandlungen wird unter anderem anhand vorangegangener CPB-Analysen eine neue Finanz- und Sozialpolitik formuliert. Dabei können auch die Analysen der einzelnen Parteiprogramme relevant sein. Nach Abschluss der Verhandlungen wird das CPB erneut gebeten zu ermitteln, welche Folgen der beabsichtigte Koalitionsvertrag für den Haushalt und für die wirtschaftliche Entwicklung während der Legislaturperiode haben wird. Ein Koalitionsvertrag hat erst dann Bestand, wenn das CPB erklärt hat, dass die angekündigten wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu den erklärten Zielen führen werden. Wenn nicht, wenn z.B. das erwartete Budgetdefizit zu hoch ist, muss nochmals über den Koalitionsvertrag gesprochen werden.

Seit 1994 erfolgen Planung und Umsetzung der niederländischen Haushaltspolitik auf ähnliche Art und Weise. Auch dabei spielt das CPB eine wichtige Rolle. Je nachdem, wie hoch das Haushaltsdefizit und die Steuer- und Sozialabgabenbelastung zum Ende der bevorstehenden Legislaturperiode höchstens sein dürfen, berechnet das CPB, wie sich die öffentlichen Einnahmen, Ausgaben und das Defizit unter bestimmten gesamtwirtschaftlichen Annahmen, über Wachstum, Inflationsrate, und relative Preisverhältnisse entwickeln werden und was dies für die Einnahmen und Ausgaben bedeutet. Das Ergebnis hängt natürlich wesentlich von den Annahmen bezüglich des Wachstums (und den geplanten Maßnahmen!) ab. In der Vergangenheit unterstellte die Regierung häufig ein „behutsames“ Wachstum. Das begrenzte zwar die Möglichkeiten für eine Anhebung der Ausgaben, hatte aber den Vorteil, dass der angenommene Wert in der Regel übertroffen wurde. Hierdurch konnte das Haushaltsdefizit schneller gesenkt bzw. ein größerer Haushaltsüberschuss realisiert werden als bei günstigeren Annahmen zu erwarten gewesen wäre, was einen rascheren Schuldenabbau als verkündet ermöglichte. Die Kommunikation des besser als erwarteten Ergebnisses erhöhte mutmaßlich das Vertrauen der Verbraucher und Produzenten, was seinerseits konjunkturfördernd wirkte. Vor allem in den 1990er Jahren hat die Entscheidung für diese Art der Haushaltspolitik wesentlich zu einer günstigeren wirtschaftlichen Entwicklung beigetragen.

Außer diesen regelmäßigen Veröffentlichungen hat das CPB in den vergangenen Jahren auch zahlreiche Untersuchungen zu Einzelfragen vorgelegt, so z.B. zu den Themen Wohnungs- und Gesundheitswesen, zur europäischen Integration und zum Rentensystem. Darüber hinaus wurde eine Reihe langfristig orientierter Sondierungsstudien herausgegeben; die bekannteste dürfte „Scanning the Future“12 sein, eine für das CPB außergewöhnliche Studie, da sie weniger auf Modellberechnungen, sondern vor allem auf Szenario-Analysen basierte.

Um das Jahr 2000 leistete das CPB einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung eines Standards für gesellschaftliche Kosten-Nutzen-Analysen. Bei vielen großen Infrastrukturprojekten versuchten Befürworter und Gegner von solchen Projekten mit Hilfe von Kosten-Nutzen-Analysen, ihre Standpunkte zu untermauern. Die Ergebnisse dieser Analysen unterschieden sich stark, da sie vielfach sehr unterschiedliche Annahmen machten und von normativen Vorstellungen geprägt waren. 2000 wurde daher vom CPB ein Leitfaden für die Anwendung solcher Analysen herausgegeben. Ziel war es, eine ausgewogenere und objektivere Diskussion zu ermöglichen.

Ferner veröffentlicht das CPB zahlreiche Diskussionspapiere, Präsentationen, Memos, Hintergrunddokumente, politische Analysen und Arbeitspapiere. In Kombination mit den umfangreichen Datenbeständen, die das CPB zugänglich macht, leistet das Institut einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über finanz- und sozialpolitische Themen.

Es kann also mit Fug und Recht festgestellt werden, dass das CPB einen sehr wichtigen Beitrag zur Vorbereitung der finanz- und wirtschaftspolitischen Strategien der niederländischen Regierung leistet. Indessen nutzen auch internationale Organisationen wie der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und die EU regelmäßig seine langjährigen umfangreichen Erfahrungen und Kenntnisse.

Welchen Status hat das CPB?

So sehr der Beitrag des CPB im Allgemeinen auch bis heute geschätzt wird, bedeutet es nicht, dass das Institut gegen jede Kritik gefeit wäre. Bei manchen Gelegenheiten, vor allem in Krisen, wurde das CPB sowohl von den Medien als auch von politischen Parteien und Wissenschaftlern kritisiert. So hätte das CPB früher vor krisenhaften Entwicklungen warnen müssen, oder man monierte eine vermeintlich politische Färbung strategischer Empfehlungen. Das CPB selbst analysiert regelmäßig die Treffsicherheit seiner Prognosen.13 Wie einflussreich das CPB für die Regierungspolitik sein kann, illustriert die folgende Anekdote: Als 1975 deutlich wurde, dass die Strategie zur Bekämpfung der Ölkrise nicht sehr erfolgreich sein würde, wurde nach Alternativen gesucht. Just zu diesem Zeitpunkt publizierte das CPB ein neues makroökonometrisches Modell, ein sogenanntes Jahrgangs- oder Vintagemodell. Mit diesem Modell wurden als Folge der Ölkrise wirtschaftliche Stagnation, steigende Arbeitslosigkeit und rasch anwachsende Haushaltsdefizite prognostiziert. Zur Milderung dieser krisenhaften Entwicklung empfahl das CPB eine strikte Lohnmäßigung. Für eine klar sozialdemokratisch geprägte Regierung – Finanzminister war damals Wim Duisenberg – war dies eine unangenehme Botschaft. Die Regierung sah sich gezwungen, sich intensiv mit dem Modell zu beschäftigen. Aber nach gründlicher Analyse kam auch sie zu dem Ergebnis, dass an der Politik der Lohnmäßigung kein Weg vorbei führen würde.14

Auch während der letzten Finanz- und Wirtschaftskrise wurde kritisiert, dass das CPB die Krise nicht vorhergesehen habe. In der Tat hatte es – wie die meisten anderen nationalen Institute und Institutionen – weder erkannt, dass es angesichts der fast unkontrollierbaren Entwicklung der internationalen Finanzströme zu einer Krise kommen würde, noch dass sie das dann in den Niederlanden und in der Welt beobachtete Ausmaß annehmen würde. Das CPB hat dazu 2009 eine Monographie über die Wirtschaftskrise und 2011 über die Eurokrise publiziert.15

Der politische Einfluss der Regierung und damit die Unabhängigkeit des CPB wird immer ein heikles Thema bleiben. Die Ernennung seines Vorstands, die Auswahl der zu untersuchenden Politikfelder (Agenda-Setzung) und die Reichweite der strategischen Empfehlungen begegnen immer wieder dem Vorwurf, die Regierung nehme zu stark Einfluss auf die Arbeit des CPB. Aber bislang verliefen alle diese Diskussionen stets im Sand.

Seiner Monopolstellung war sich das CPB stets bewusst, ebenso wie der Notwendigkeit, die eigenen Arbeiten immer wieder kritisch bewerten zu müssen. Um seine Qualität, wo nötig, zu verbessern, hat das CPB in den letzten 20 bis 25 Jahren regelmäßig externe Kommissionen beauftragt, die politische Relevanz16 und die wissenschaftliche Fundierung17 seiner Arbeit zu untersuchen. Die letzte Kommission, mit Martin Hellwig als Vorsitzendem, machte deutlich, dass die starke Orientierung auf Makromodelle in Zukunft verbreitert werden sollte.18 Zur weiteren Verbesserung der wissenschaftlichen Qualität intensivierte das CPB auch seine Beziehungen zu den Universitäten. Der eigene Mitarbeiterstab wurde ermuntert, Dissertationen anzufertigen und Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften zu veröffentlichen, was auch zunehmend der Fall ist.

Zusammenfassung

Das CPB leistet seit fast 70 Jahren einen sehr wichtigen Beitrag zur Vorbereitung der finanz- und wirtschaftspolitischen Strategien der niederländischen Regierung. Stellung und Anerkennung der Arbeit des CPB haben gewiss mit der sehr pragmatischen politischen Kultur in den Niederlanden zu tun. Ob das CPB und seine Rolle ohne Weiteres als Muster für andere Länder wie z.B. Deutschland taugen, ist daher fraglich, nicht zuletzt ist seine Stellung ja auch im internationalen Raum singulär. Allein die Schaffung eines CPB-ähnlichen Instituts würde z.B. in Deutschland vermutlich wenig ändern. Deutschland verfügt bereits über eine Reihe renommierter Wirtschaftsforschungsinstitute und Beratungsorgane. Ein Institut wie das CPB ist nur dann erfolgreich, wenn die wichtigsten wirtschaftspolitischen Akteure – Regierung, Opposition, Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Medien – seine Prognosen und wirtschaftspolitischen Bewertungen akzeptieren. Die politische und gesellschaftliche Kultur Deutschlands unterscheidet sich erheblich von der der Niederlande und dürfte, so wünschenswert dies vielleicht aus den hier dargelegten Gründen für eine rationale und pragmatische Wirtschaftspolitik sein mag, nicht leicht zu verändern sein.

  • 1 Vgl. zu den Anfängen des Centraal Planbureau: J. Tinbergen: Central Planning in the Netherlands, in: The Review of Economic Studies, 15. Jg. (1947/48), H. 2, S. 70-77.
  • 2 Het Plan van de Arbeid: rapport van de commissie uit N.V.V. en S.D.A.P. (Vorsitzender J. W. Albarda), Arbeiderspers, Amsterdam 1935.
  • 3 Auch der jährliche Bericht heißt bis heute „Zentraler wirtschaftspolitischer Plan“.
  • 4 Alle wichtigen Gutachten und Prognosen werden veröffentlicht.
  • 5 F. Bos, C. Teulings: The Dutch CPB: What can be learned from the world’s oldest fiscal watchdog?, 2012, http://www.voxeu.org/article/what-can-be-learned-world-s-oldest-fiscal-watchdog.
  • 6 Vgl. http://nl.wikipedia.org/wiki/Raad_van_Economisch_Adviseurs (nur auf Niederländisch).
  • 7 Aktuelle Fassung des CEP (2014), siehe http://www.cpb.nl/publicatie/centraal-economisch-plan-2014.
  • 8 Aktuelle Fassung des MEV (2015), siehe http://www.cpb.nl/publicatie/macro-economische-verkenning-mev-2015.
  • 9 Die Kosten werden aus dem CPB Budget bezahlt, mithin aus dem öffentlichen Haushalt.
  • 10 Das CPB veröffentlicht diese Ergebnisse in der Publikation „Keuzes in Kaart“, siehe http://www.cpb.nl/publicatie/keuzes-in-kaart-2013-2017.
  • 11 Das waren alle dann (2012) in der Zweiten Kammer bereits vertretenen Parteien. Die mittlerweile zehn neuen Parteien haben ihr jeweiliges Programm nicht evaluieren lassen.
  • 12 Central Planning Bureau: Scanning the future: a long-term scenario study of the world economy 1990-2015, Den Haag 1992, SDU. Spätere langfristige Studien der CPB beschäftigen sich z.B. mit Europa (CPB: Quantifying four scenarios for Europe, Den Haag 2003) oder dem Wohlfahrtsstaat (CPB: Reinventing the welfare state, The Hague 2006).
  • 13 Vgl. www.cpb.nl, überwiegend in niederländischer Sprache.
  • 14 Es sollte dann übrigens noch sieben Jahre dauern, bis 1982 mit dem berühmten Wassenaar-Pakt diese Politik dann vollständig akzeptiert war.
  • 15 Beide Bücher sind nur auf niederländisch publiziert. C. van Ewijk, C. Teulings: De grote recessie, Het Centraal Planbureau over de kredietcrisis, Amsterdam 2009; sowie C. Teulings et al.: Euro in crisis. Het Centraal Planbureau over schulden en de toekomst van de Eurozone, Amsterdam 2011.
  • 16 Der letzte Bericht stammt vom Februar 2013 und trägt den Titel „Uit de lengte of uit de breedte, rapport van de Commissie Beleidsgerichte Toetsing van het CPB“. Verfasser dieses Berichts war die Frijns-Kommission, http://www.cpb.nl/artikel/uit-de-lengte-uit-de-breedte.
  • 17 Der letzte Bericht stammt vom März 2010; er trägt den Titel „Focusing on quality – Report from the CPB Review Committee 2010“. Nach seinem Vorsitzenden Hellwig-Kommission genannt, file:///C:/Users/Van%20Paridon/Downloads/focusing-on-quality-report-from-the-cpb-review-committee-2010%20(1).pdf.
  • 18 In M. Hellwig et al.: Focussing on Quality, Paragraph 2.2: Quantitative forecasting models appear to be playing a central role in most research areas in the CPB, 2010, S. 6.

Title:German Council of Economic Experts: How Policy-Oriented Should Its Advice Be?

Abstract:The German Council of Economic Experts (GCEE) has the legal mandate to independently assess the state of the German economy, to formulate its expert opinion regarding issues of economic policy and to alert readers to any undesirable developments which threaten to arise in this context. While this might not always be easily palatable for representatives from the political realm, the GCEE bases its analyses transparently on the current state of the economic literature and on empirical evidence to contribute to the formation of an informed judgement regarding economic policy issues among policy makers, economic actors and the general public. The GCEE’s function is to offer advice to the government and provide information to the public. A survey of politicians and ministry officials shows that this advice is valued by the respondents. However, the members of the council are barely visible in the media and therefore contribute only minimally to the effective information of the broader public. One reason for this shortcoming is that fulfilling both duties is hardly possible from an institutional economics perspective. A useful comparison can be made with the the Netherlands, where the CPB, the Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis – a government-financed but independent institution – has played a central role in forecasting economic developments and in analysing the consequences of policy changes in the Netherlands.

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DOI: 10.1007/s10273-015-1802-2