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Ein staatliches Investitionsprogramm zum Anschub schnelleren Wachstums wird in den Krisenländern der Europäischen Währungsunion von vielen gewünscht. Die Europäische Währungsunion hat dazu eine Investitions-Initiative gestartet. Aktuell wird diskutiert, ob diese zusätzlichen staatlichen Investitionen so viel vermehrtes Wachstum generieren, dass sie sich über steigende Steuereinnahmen selbst finanzieren. Der Autor stellt Überlegungen zum Keynes-Hicks-Multiplikator an und errechnet mit einem RWI-Konjunkturmodell die langfristigen Wirkungen staatlicher Investitionen auf die wesentlichen ökonomischen Parameter.

Sieben Jahre nachdem Europa von einer globalen Finanzkrise heimgesucht und eine Reihe von Notmaßnahmen ergriffen wurde, um ihr und der darauf folgenden Finanznot einiger Staaten zu begegnen, kristallisiert sich ein gemeinsames Problem heraus, unter dem selbst prosperierende Volkswirtschaften leiden: eine branchenübergreifende und in einem langfristigen Trend zu beobachtende Investitionsschwäche.1 Massive Zinssenkungen waren offenbar nicht hinreichend, um dieses Problem zu lösen. Neben der Gestaltung investitionsfreundlicher Rahmenbedingungen steht eine aktivere Fiskalpolitik auf der politischen Agenda.2 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass schnelleres Wachstum und höhere Wettbewerbsfähigkeit auf den globalen Märkten durch gezielte Investitionen geschaffen werden können, wenn es sein muss, auch um den Preis einer noch höheren Verschuldung. Die Politik steht jedoch nicht nur vor Problemen, bei denen der Rat der Ökonomen gefragt ist; oft haben die zu treffenden Entscheidungen auch noch eine demokratie-theoretische Dimension, da es um „die langfristige Stabilisierung eines europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“ geht, ein Ziel, das nicht ohne die breite Zustimmung souveräner Völker erreicht werden kann.3

Schnelleres Wachstum durch zusätzliche Investitionen der öffentlichen Hände, und zwar nicht nur, um eine momentane Wachstumsdelle zu überwinden, sondern als ein nachhaltiger volkswirtschaftlicher Effekt – das ist das Thema dieses Beitrages. Angesichts der Schuldenlast, die alle europäischen Staaten tragen, sind die mit zusätzlichen Investitionen verbundenen Mehrausgaben immer auch unter der Fragestellung zu betrachten, ob und wann sie sich „amortisieren“. Das ist nur scheinbar eine unternehmerische Frage, denn auch Staaten müssen ihren finanziellen Spielraum beachten.

Die aktuelle Diskussion zeigt wieder einmal, dass die ökonomische Zunft in einer kritischen Situation, in der die Politik eindeutige Handlungsempfehlungen bevorzugen würde, gespalten ist, in diesem Fall über die Frage, ob fiskalpolitische Maßnahmen der richtige Weg sind, um ein höheres Wachstum zu erzeugen. Ohne die Adressaten namentlich zu nennen, beschreibt Hans-Werner Sinn die Position der Befürworter einer aktiveren Fiskalpolitik wie folgt: „Immer wieder hört man bei der Diskussion um die schwarze Null und die Verletzungen des Fiskalpakts durch die Südländer und Frankreich die Behauptung, eine Volkwirtschaft könne durch eine schuldenfinanzierte Erhöhung der Staatsausgaben so viel 'Wachstum' erzeugen, dass sich diese Staatsausgaben selbst finanzieren und die Schulden letztendlich gar nicht steigen.“4

In seiner äußerst knappen Argumentation „beweist“ Hans-Werner Sinn im Rahmen des, wie er schreibt, „keynesianischen“ Modells, das wohl eher das neoklassische ist, mit nur wenigen Federstrichen und Formeln, dass sich in jeder Periode die Schuldenlast vergrößert. Folglich kann von einer Selbstfinanzierung keine Rede sein. Dabei übersieht er, dass sich nicht nur Schulden, sondern auch Investitionen akkumulieren, so dass der Kapitalstock durch investive Ausgaben wächst, was nicht ohne Auswirkungen auf das Einkommen einer Volkswirtschaft und damit auch auf die Staatseinnahmen bleiben kann. Aufgrund des fragmentarischen Charakters jenes Beweises fällt es Wolfgang Scherf nicht schwer, im Rahmen desselben Modells das Gegenteil herzuleiten: „Selbstfinanzierung ist theoretisch möglich.“5 Bemerkenswert ist, dass beide Autoren von ein- und derselben Theorie ausgehen, die ohne Zweifel dem sogenannten „Mainstream“ zuzurechnen ist.

Nach Karl R. Popper ist eine Theorie, mit der eine These und zugleich ihre Antithese bewiesen werden kann, „völlig nutzlos“.6 Bevor man jedoch eine derart radikale Konsequenz zieht, sollte man sich die zugrunde liegende Problematik, die theoretische, empirische und praktische Aspekte umfasst, genauer ansehen. In der Tat erweckt die neoklassische Multiplikator-Theorie7 in ihrer modernen Version hohe Erwartungen, die konjunkturelle Bewegung und vielleicht auch das Wachstum einer Volkswirtschaft beeinflussen zu können – eine theoriegeleitete Perspektive, der man auch in der oben zitierten Investitionsinitiative der europäischen Kommission begegnet. Andererseits liegen zahlreiche Studien vor, die die aus der Multiplikator-Theorie abgeleiteten optimistischen Aussichten durch empirische Schätzungen verschiedener Multiplikatoren erheblich dämpfen.8 In Ermangelung einer theoretischen Verarbeitung dieser Korrekturen fährt man in einschlägigen Lehrbüchern fort, die Multiplikator-Theorie im Kern unverändert zu propagieren.9 Daraus resultiert eine Unsicherheit, die gleichermaßen den theoretischen Ansatz wie seine praktische Anwendung infiziert. In den folgenden Überlegungen wird die Multiplikator-Theorie für die lange Frist formuliert und zumindest teilweise mit der empirischen Sachlage versöhnt. Daraus folgt eine erste, etwas konkretere Antwort auf die Frage, ob, wann und zu welchem Preis eine Selbstfinanzierung fiskalpolitischer Maßnahmen erreicht werden kann. Koppelt man darüber hinaus die Ergebnisse der Langfristanalyse mit den Ergebnissen von Simulationen mit ökonometrischen Modellen, die für die kurze Frist entwickelt worden sind, so lässt sich die Antwort auf das Problem der „Selbstfinanzierung“ noch präziser eingrenzen.

Die Multiplikator-Theorie ist Teil des IS-Modells und umfasst die Definition des Multiplikators, den wir hier der Kürze halber als Keynes-Hicks-Multiplikator (KHM) bezeichnen, sowie eine entsprechende ökonomische Interpretation – nicht nur der Modellvariablen, sondern auch der als realistisch angenommenen Zusammenhänge. Generell wird davon ausgegangen, dass die entsprechenden Prozesse auf dem Gütermarkt stattfinden, auf dem eine plötzlich auftretende Nachfrage durch ein entsprechendes Angebot relativ kurzfristig befriedigt wird. Aber das IS-Modell mitsamt der Multiplikator-Theorie ist auch ein unverzichtbarer Bestandteil von Erklärungen, die die sogenannte „lange Frist“ betreffen, z.B. im Rahmen des AS-AD-Modells. Diese Perspektive soll im Folgenden schwerpunktmäßig eingenommen werden, wenn der Realitätsgehalt des KHM und seiner Implikationen analysiert wird. Gegen eine solche Sicht wird von manchen Autoren gebetsmühlenartig der von Keynes stammende Spruch „in the long run we are all dead“ vorgetragen. Die Wahrheit dieses Satzes kann kaum bestritten werden, aber angesichts veränderter Erkenntnisbedürfnisse ist er inzwischen irrelevant geworden: In der Ökonomik geht es um die Volkswirtschaft, die uns alle sicherlich überleben wird. Wenn Keynes vor nicht überprüfbaren Spekulationen, die ferne Zukunft betreffend, warnen wollte, so geht es hier darum, dem trotz seiner Warnung florierenden „wishful thinking“ auf der Grundlage heutiger Erkenntnisse den Boden zu entziehen.

Die Konsumfunktion

Das Herzstück der Multiplikator-Theorie ist die Keynessche Konsumfunktion, die einen Zusammenhang zwischen dem verfügbaren Einkommen der Haushalte YD und den Konsumausgaben C herstellt. Dieser Zusammenhang kann in sehr guter Annäherung an die empirischen Verhältnisse durch eine lineare Funktion dargestellt werden:

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wobei der Parameter c0 als „autonomer Konsum“ und c1 als „marginale Konsumneigung“ des Durchschnittshaushaltes bezeichnet werden. Es sei angemerkt, dass c0 vor allem eine statistisch-technische Funktion hat und bei empirischen Schätzungen gelegentlich auch negative Werte annimmt. Die ökonomische Interpretation dieses Terms ist deshalb problematisch.

Für die empirische Schätzung der Parameter in (1) wird üblicherweise angenommen, dass der Konsum durch das permanente (und nicht durch das laufende) Einkommen bestimmt wird (Friedmansche Hypothese), wobei das permanente Haushaltseinkommen als geometrisch gewichteter gleitender Durchschnitt der beobachteten verfügbaren Einkommen der Haushalte angenommen wird.10 Die Schätzgleichung lautet:

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Mit der andersartigen Notation werden hier empirische – im Unterschied zu theoretischen – Größen bezeichnet, wobei11 Cprivp: Konsum der privaten Haushalte in Vorjahrespreisen; Yavhh: Verfügbares Einkommen der Haushalte; Cpripi: Preisindex des privaten Konsums.

Der auch als Gesamtmultiplikator bezeichnete Parameter c1 der Gleichung (1) bestimmt sich bei diesem Ansatz und der entsprechenden Operationalisierung nach der Formel:12 c1 = α/(1 - β). Er gibt den Effekt an, den eine einmalige, aber dauerhafte Erhöhung des Einkommens nach unendlich langer Zeit auf die Zielvariable hätte. In der Abbildung 1 ist die so bestimmte marginale Konsumneigung sowie eine direkte Schätzung von c1 anhand der Gleichung (1) mit Hilfe einer einfachen Regressionsgleichung aufgrund der laufenden Einkommen dargestellt. Der Unterschied zwischen beiden Kurven dokumentiert den ökonometrischen Fortschritt: Eine direkte Schätzung der Gleichung 1 wird inzwischen wegen nicht zu leugnender Autokorrelation in den Residuen abgelehnt. Dagegen genügt die indirekte Bestimmung den aktuellen Anforderungen der Ökonometrie.13

Abbildung 1
Marginale Konsumneigung
Durchschnitt der vorangegangenen zehn Jahre, berechnet anhand des laufenden (DIR) und des permanenten Einkommens (IND)
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Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Statistisches Bundesamt.

Ableitung des Keynes-Hicks-Multiplikators

Definitionsgemäß ergibt sich das Volkseinkommen als Nettonationaleinkommen zu Marktpreisen abzüglich einer saldierten Steuergröße:

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Gleichung (1) und (2) werden üblicherweise in die Nachfragegleichung eingefügt:

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mit I = (Netto-)Investitionen, G = Staatsausgaben, die sowohl investiver als auch konsumtiver Art sein können, und X = Nettoexporte. Im Zustand des (kurzfristigen) Gleichgewichts von Angebot und Nachfrage gilt:

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Nach einigen Umformungen erhält man:

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mit dem Keynes-Hicks-Multiplikator:

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Sämtliche Terme hinter m werden in der Standardinterpretation der Multiplikator-Theorie als „autonome Ausgaben“ betrachtet, sie sind „unabhängig vom Einkommen“.

Der KHM strebt für c1 → 1 gegen Unendlich und nimmt für c1 > 1 negative Werte an. Wie Abbildung 1 zeigt, kann er zwischen 2000 und 2004 nicht sinnvoll bestimmt werden. Der kleinste Wert der 10-Jahres-Schätzungen ist 5,7, durchschnittlich betrug er 10. Dies entspricht einer durchschnittlichen marginalen Konsumneigung der privaten Haushalte von 0,9. In der zeitlichen Abhängigkeit des Multiplikators manifestieren sich weitere Determinanten wie die Reaktion der Akteure auf Staatsverschuldung, Zinssätze, Vermögensentwicklung, usw., von denen aber in den folgenden Überlegungen abgesehen wird.

Interpretation der autonomen Ausgaben

Bei der Interpretation der autonomen Ausgaben ist vor allem zu beachten, dass sie Teil des IS-Modells sind, das mit Realgrößen operiert, die in Geldeinheiten gemessen werden und Forderungsströme darstellen. Des Weiteren wäre zwischen einer kurzfristigen und einer langfristigen Perspektive zu unterscheiden. Die autonomen Konsumausgaben sind per definitionem unabhängig vom (Haushalts-)Einkommen. Sie können kurzfristig vom vorhandenen Vermögen der Haushalte (aller Haushalte!) bestritten oder durch Kredite finanziert werden.

Negative autonome Ausgaben sind in der entsprechenden Theorie nicht vorgesehen. Formal betrachtet müsste es sich um eine Ersparnis handeln, die aber nicht aus dem laufenden Einkommen gespeist wird, sondern aus Vermögensübertragungen. Das sind aber Prozesse jenseits des Zusammenhanges zwischen Haushaltseinkommen und Konsum, und man fragt sich, warum sie – abgesehen von technisch-statistischen Gründen – in der Konsumfunktion berücksichtigt werden sollten.

Die Unterstellung, dass Investitionen, Staatsausgaben, Staatseinnahmen und Exporte unabhängig vom Einkommen Y sind, ist empirisch gesehen höchst problematisch. Bestenfalls können kurzfristige Schwankungen der Investitionen und der Exporte so interpretiert werden. Dass die Staatseinnahmen vom Einkommen Y abhängen, wird wohl nicht überraschen, aber dasselbe gilt auch für die Staatsausgaben.14

Wolfgang Scherf hat vorgeschlagen,15 die Staatseinnahmen nach dem Vorbild des Modells (1) in einen autonomen und einen einkommensabhängigen Term zu zerlegen. Wie muss man sich „autonome Staatseinnahmen“ vorstellen? Da sie per definitionem vom laufenden Einkommen unabhängig sind, könnte es sich beispielsweise um Verstaatlichungen handeln, die historisch aber relativ selten auftreten.

Standardinterpretation des Multiplikators

Die Annahme der Existenz von autonomen Ausgaben ist die logische Grundlage für eine kausale Interpretation der Gleichung (5), die aus einer Erhöhung des autonomen Konsums via Multiplikator auf eine Outputerhöhung schließt.16 Aus der Sicht kausalanalytischer Methoden17 handelt es sich hierbei um eine Überinterpretation eines funktionalen, bestenfalls korrelativen Zusammenhanges. Nur wenn die anderen autonomen Ausgaben konstant bleiben, kann man jene Schlussfolgerung ziehen. Und dies auch nur im umgekehrten Sinne, dass eine Ausdehnung des autonomen Konsums um c0 einen m-mal höheren Anstieg des Output voraussetzt.

Die nach den Diskussionen der 1930er und 1940er Jahre kaum noch infrage gestellte kausale Interpretation theoretischer, funktionaler Zusammenhänge liefert eine Legitimation konjunktureller Maßnahmen. Nehmen wir den niedrigsten bislang beobachteten 10-Jahres-Durchschnitt des Multiplikators in Höhe von 5,7, so müsste eine autonome Erhöhung der Staatsausgaben um 10 Mrd. Euro eine Steigerung des Volkseinkommens um 57 Mrd. Euro hervorrufen – eine völlig irreale Erwartung, die von der Politik zu Recht skeptisch betrachtet wird. Dieses Ergebnis, das aus der eben skizzierten kurzschlüssigen Interpretation des Multiplikators folgt, muss in praxi ersetzt werden durch realistischere Schätzungen aufgrund von Simulationsrechnungen, die mit umfassenderen ökonometrischen Modellen durchgeführt werden und wesentlich kleinere Werte für die Multiplikatoren diagnostizieren.18

Paul Krugman und Robin Wells errechneten einen Multiplikator je nach Art der fiskalpolitischen Maßnahmen zwischen 0 und 1,73.19 Dies entspricht den für die deutsche Volkswirtschaft gemessenen Werten. Die beiden Autoren thematisieren zwar die spezielle Abhängigkeit des Multiplikators von der Art der Staatsintervention, lassen aber das hauptsächliche Problem, dass die empirisch beobachteten Multiplikatoren weit hinter den theoretischen Erwartungen zurückbleiben, am Rande liegen.

Weit verbreitet ist die Erklärung, dass entwickelte Industriestaaten sehr offene Volkswirtschaften darstellen, so dass eventuelle Effekte von konjunkturellen Maßnahmen ins Ausland übergreifen und für das Inland verloren gehen. In der Krise 2008 f. waren die Bemühungen der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem sogenannten zweiten Konjunkturpaket groß, außenpolitisch ein koordiniertes Vorgehen zu erreichen. Die Behauptung einer Schwächung des KHM durch Außenwirkung ist in der langfristigen Perspektive, wie Gleichung (5) zeigt, nicht nachzuvollziehen: der KHM wird nicht geändert, sondern lediglich ein weiterer autonomer Term X hinzugefügt.

Eine entgegenwirkende Tendenz zum Multiplikatoreffekt stellt der sogenannte „Verdrängungseffekt“ dar, den Mankiw und Taylor erwähnen: „Wenn die Staatsausgaben für Güter und Dienste um € 20 Mrd. erhöht werden, so kann die Gesamtnachfrage um mehr oder auch um weniger als € 20 Mrd. ansteigen – je nachdem, ob Multiplikatoreffekt oder Verdrängungseffekt dominieren.“20 Da jedoch der Verdrängungseffekt, den die Autoren meinen, auf Zinserhöhungen beruht, die bei einer globalisierten Wirtschaft als Reaktion auf Nachfragesteigerungen zumindest kurzfristig kaum eine Rolle spielen, dürfte es bei den utopischen Werten für den KHM von zwei an aufwärts bleiben.

Was genau ist problematisch an der Multiplikator-Theorie? Sicherlich nicht die mathematische Ableitung, wohl aber die Annahmen, die in diesem Zusammenhang getroffen werden und die zu fantastischen Erwartungen über die Wirkung von autonomen Investitionen oder Staatsausgaben führen. Im Folgenden soll eine Modifikation dieser Theorie vorgeschlagen werden, die mit einem Minimum an Korrekturen auskommt.

Modifikation der Multiplikator-Theorie

Die erste Korrektur besteht in der Beseitigung der Annahme, dass die einzelnen Parameter in (c0 + I + G - c1T + X) komplett „autonom“ sind. Aus Gleichung (5) folgt:

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Der Term s0 umfasse jetzt nicht nur die autonomen Konsumausgaben, sondern alle autonomen Ausgaben, in die die anderen Terme zerlegt werden könnten, insbesondere die autonomen Investitionen und Staatsausgaben.21 Wie verträgt sich dies mit dem unterstellten Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage sowie der hier eingenommenen Perspektive einer Langfristigkeit der Betrachtung? Autonome Ausgaben können vom vorhandenen Vermögen bestritten werden, das aber irgendwann verbraucht ist, wenn es aus dem laufenden Einkommen nicht ersetzt wird. Sie können durch Kredite finanziert werden, die aber letztlich aus dem laufenden Einkommen zurückgezahlt werden müssen. Autonome Staatsausgaben speisen sich aus Privatisierungen, die irgendwann ihr definitives Ende finden. Daraus ergibt sich langfristig:22

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Aus den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) lässt sich schließen, dass sich die Multiplikator-Theorie nach diesen realistischen Korrekturen in einen recht unspektakulären Zusammenhang verwandelt hat. Aus Gleichung (7) ergibt sich nämlich nach einfachen Umformungen die Ersparnis SH der Haushalte:

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wobei

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die Ersparnis des Staates und

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die der Haushalte ist, definiert mit der marginalen Sparneigung (sH = 1 - c1). Dabei wurden die autonomen Konsumausgaben ebenfalls gleich Null gesetzt, da sich Haushalte nicht ständig entsparen können.

Die modifizierte Multiplikator-Theorie in der Gleichung (9) stimmt formal mit der entsprechenden Formel des IS-Modells überein23 und ist mit der Auffassung gut verträglich, wonach Investitionen vom Zinssatz und vom Output abhängen.24 Ob die Möglichkeit einer Nettoinvestition realisiert wird, hängt nach (9) davon ab, ob die Ersparnis der Haushalte von den Nettoexporten und den Staatsausgaben „aufgefressen“ wird oder nicht. Strukturell nachlassende Nettoinvestitionen könnten neben einem gewachsenen Kapitalstock ihre Ursache darin haben, dass ein zu großer Teil der Ersparnis in die Exporte fließt. Das würde nahelegen, das im deutschen Stabilitäts- und Wachstumsgesetz von 1967 formulierte Ziel eines ausgeglichenen Außenhandels doch etwas ernsthafter ins Auge zu fassen.

Selbstfinanzierung investiver Ausgaben des Staates?

Die Frage der Selbstfinanzierung konjunktureller Ausgaben des Staates infolge gesteigerten Rücklaufs von Steuereinnahmen (und möglicherweise geringeren Staatsausgaben) wurde in dem oben zitierten Beitrag von Wolfgang Scherf für möglich erklärt. Wie sich in der Diskussion herausgestellt hat, sind dem Theoretiker allerdings die Größenordnungen der Parameter (z.B. des KHM) durchaus unklar. In Anbetracht dessen, dass die kurzfristigen Effekte konjunktureller Maßnahmen gut erforscht sind, bleibt die Frage, welche Wirkungen sich langfristig einstellen, nach wie vor diskussionswürdig. Unstrittig sollte jedenfalls sein, dass einmalige Impulse wie die 2008 und 2009 beschlossenen Konjunkturpakete schon nach wenigen Jahren abklingen, so dass deren langfristige Wirkung gleich Null gesetzt werden kann. Trotzdem sind sie nützlich, um konjunkturelle Tiefs abzuschwächen und zu verkürzen. Die Frage, welche Effekte dauerhaft erhöhte Staatsausgaben haben, lässt sich mit Hilfe der modifizierten Multiplikator-Theorie beantworten. Dabei setze ich im Folgenden voraus, dass (eventuell schuldenfinanzierte) zusätzliche Staatsausgaben komplett für Investitionen (Straßen, Schienen, Brücken, Schulgebäude, militärisches Gerät etc.) verwendet werden.25 In den VGR wird zwischen Staatskonsum und investiven Ausgaben des Staates unterschieden, so dass gilt:

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Damit wird aus Gleichung (9):

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Den Staatskonsum CSt kann man nur mit erheblichen sozialen Verwerfungen zurückfahren. Im Fall des privaten Konsums CPr , der das Sparen der Haushalte SH determiniert, dürfte schon der Versuch einer Einflussnahme durch den Staat erhebliche Probleme bereiten. Diese Größen darf man also langfristig, wenn auch stark vereinfacht, als nicht manipulierbar und damit als konstant ansehen. Angesichts der Art der staatlichen Investitionen, ISt , kann man zunächst davon ausgehen, dass private Investitionen nicht negativ betroffen sein werden; folglich muss nach Gleichung (13) die (eventuell kreditfinanzierte) zusätzliche Investition realwirtschaftlich auf Kosten des Nettoexports X gehen, der deshalb auch die Größenordnung determiniert, in der die Volkswirtschaft beeinflusst werden kann. Sollte es Anhaltspunkte für einen negativen Effekt (eine Art „crowding out“) geben, so sind die hier abgeleiteten langfristigen Effekte auf der Grundlage einer Analyse der kurzen Frist zu korrigieren.

Die Nettoinvestition I erhöht den Kapitalstock K (I = ΔK).Die den Output steigernde Wirkung der Nettoinvestition kann über eine Cobb-Douglas-Produktionsfunktion

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geschätzt werden. Eine empirische Bestimmung der Kapitalelastizität über den Zeitraum verfügbarer Daten zum Kapitalstock von 1971Q1 bis 2011Q4 ergibt β = 0,83, wobei Y = Volkseinkommen (deflationiert), L = Zahl der Erwerbstätigen und K = Nettoanlagevermögen (deflationiert). Unter der vereinfachenden Bedingung stagnierender (konstanter) Beschäftigung kann die Änderung des Einkommens aufgrund der Stärkung des Kapitalstocks durch die zusätzlichen Investitionen des Staates in erster Näherung durch die erste Ableitung nach K multipliziert mit I berechnet werden:

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Gleichung (15) erklärt die abnehmende Wirkung von Investitionen in alternden Volkswirtschaften (und damit auch ihre abnehmende Bedeutung) mit dem wachsenden Kapitalstock, ohne auf die von Mancur Olson behauptete Bremswirkung von sich ansammelnden Organisationen mit Sonderinteressen zurückgreifen zu müssen.26 Eine einfache Umstellung der Gleichung (15) führt auf:

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Mit g als Wachstumsrate des Output (hier gemessen durch das Volkseinkommen) und r als die durchschnittliche Kapitalrendite. Für das empirisch gemessene β = 0,83 < 1 ergibt sich eine zentrale These Pikettys, die allerdings nicht mehr aber auch nicht weniger ausdrückt als eine abnehmende Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals (g < r) .27

Nach (15) ist neben dem Sparverhalten der Haushalte das Verhältnis zwischen Volkseinkommen und dem Umfang des Kapitalstocks für das Wachstum des Output entscheidend. Mit zunehmendem Alter einer Volkswirtschaft nimmt der Kapitalstock infolge der Akkumulation von Nettoinvestitionen zu, während der Output vergleichsweise dazu unterproportional wächst – ein Prozess, der, wie unter anderem Pikettys Daten zeigen, durch schwere Kriege und Krisen unterbrochen werden kann. Kommt zu dem geringen strukturellen Wachstum des Output die mittelfristig wirkende konjunkturelle Komponente hinzu, können die Nettoinvestitionen schnell einmal Null oder negativ werden, ohne dass man in Panik verfallen müsste.28

Empirische Messungen für Y/K im Zeitraum von 1970 bis 2014 ergeben Werte zwischen 0,21 und 0,30, im Durchschnitt 0,25. Multipliziert mit β erhält man einen realistischerweise anzunehmenden Langfrist-Multiplikator von m' = 0,21 für den zusätzlichen jährlichen Effekt von staatlichen Investitionen auf das Volkseinkommen. Demnach dürfte es knapp fünf Jahre dauern, bis sich das Volkseinkommen so gesteigert hat, dass die Höhe der jährlich erfolgenden zusätzlichen Investitionen erreicht wird. Aber nur ein Bruchteil davon fließt über die direkte Besteuerung zurück in die Staatskasse! Nimmt man für die auf diese Weise generierten Staatseinnahmen einen Durchschnittswert an, indem man die direkte Besteuerung in Anlehnung an die empirischen Verhältnisse durch T = tY mit t = 0,15 modelliert, so würde es ca. 32 Jahre dauern, bis der Staat auf eine Neuverschuldung verzichten könnte, um die zusätzlichen investiven Ausgaben zu finanzieren. Die inzwischen akkumulierte Gesamtverschuldung berechnet sich aus der jährlichen Verschuldung in Höhe von I = ISt minus dem erhöhten Steueraufkommen:

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also

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Angesichts eines Nettoexports von ca. 200 Mrd. Euro sollte man meinen, dass 10 Mrd. Euro zusätzliche Investitionen volkswirtschaftlich störungsfrei verkraftbar sind. Das würde nach 32 Jahren die Verschuldung des Staates um ca. 155 Mrd. Euro erhöhen – wobei Zinsen und Zinseszinsen nicht einberechnet sind. Geht man von einem Zinssatz von 4% aus, so würden nach 32 Jahren jährlich ca. 6,2 Mrd. Euro Zinsen anfallen. Von einer Selbstfinanzierung, wie sie manchem Theoretiker vorschwebt, kann folglich nur sehr eingeschränkt die Rede sein – zumindest, wenn man die kurzfristigen Effekte außer Acht lässt.

Die kurze Frist – verlängert

Eine realistisch und langfristig spezifizierte Multiplikator-Theorie, wie sie hier vorgestellt wurde, berücksichtigt weder Spillover- noch Kreislaufeffekte. Die Einbeziehung dieser und ähnlicher Effekte, beispielsweise mit Hilfe eines ökonometrischen Modells mittlerer Größenordnung wie dem RWI-Konjunktur-Modell, könnte zu einem wesentlich optimistischeren Resultat führen. Solche Modelle weisen durch die in ihnen verankerte empirische Messung einer Vielzahl von Parametern einen sehr hohen Realitätsgehalt auf. Dem steht entgegen, dass sie für die kurze Frist (maximal drei Jahre) konstruiert wurden. Für eine längerfristige Prognose wird das RWI-Modell von seriösen Anwendern als heillos überstrapaziert angesehen. Im Fall der Simulation wirtschaftspolitischer Maßnahmen könnte man jedoch wie folgt argumentieren: Die Güte eines Modells wird von den Erbauern üblicherweise anhand einer Ex-post-Prognose über den Stützbereich getestet und mit Hilfe dieser Tests auch verbessert. Der Stützbereich umfasst bei dem erwähnten Modell einen Zeitraum von zehn Jahren, das sind 40 Quartale, und mehr als 150 verschiedene Variablen, die dabei berücksichtigt werden. Über diesen Zeitraum hinweg sollte es möglich sein, eine realitätsnahe Simulation einer dauerhaften Erhöhung staatlicher Investitionen um 10 Mrd. Euro pro Jahr nicht nur durchzuführen, sondern auch zu rechtfertigen.29

Entsprechende Simulationen mit dem Konjunkturmodell des RWI Version KOMO 61 ergeben überraschend plausible Resultate (vgl. Tabelle 1), von denen die wichtigsten sind:

  • Die zusätzlichen Investitionen erreichen einen maximalen Effekt auf das BIP im zweiten Jahr. Ein erster Höhepunkt der Beschäftigung wird im dritten Jahr erreicht. Der Effekt schwächt sich durch den von der zusätzlichen Nachfrage verursachten starken Preisauftrieb ab und mündet in eine möglicherweise schwingende Bewegung auf einem niveaumäßig höher gelegenen Wachstumspfad, der aber keine höheren Wachstumsraten aufweist.
  • Spillover-Effekte stimulieren nur in den ersten vier Jahren die privaten Investitionen; in den folgenden Jahren findet eine Verdrängung statt, die außerdem durch höhere Importe und geringere Exporte flankiert wird.
  • Es ist anzunehmen, dass die wachsenden Importe nicht nur die vom Staat ausgelöste Nachfrage, sondern zum Teil auch den zunehmenden privaten Konsum befriedigen.
  • Der Beschäftigungseffekt pendelt sich auf ca. 330 000 ein, wobei diese Zahl angesichts des betagten Alters des KOMO und auf dem Hintergrund eventueller struktureller Veränderungen in der Volkswirtschaft mit Skepsis zu betrachten ist.30 Das Maximum beim Rückgang der Arbeitslosigkeit liegt zwischen dem zweiten und dritten Jahr, danach klingt die Wirkung stark ab. Demnach wird längerfristig vor allem die selbständige Tätigkeit stimuliert.
  • Das stimulierte Wachstum erreicht kurzfristig, d.h. nach drei Jahren, einmalig einen Selbstfinanzierungseffekt von 92%. Davor und danach liegt er niedriger und scheint sich nach acht Jahren auf 62% einzupendeln.

Mit Blick auf kurzfristige Effekte hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sie umso kleiner sind, je offener eine Volkswirtschaft ist, da ein Teil der stimulierten Nachfrage durch das Ausland befriedigt wird.31 Für die langfristige Betrachtung ist, wie mir scheint, wichtiger, dass die staatlichen Investitionen nach und nach private Investitionen ersetzen. Schreibt man die Zeitreihe der Bruttoinvestitionen fort, so dürfte ab dem 14. Jahr keine Steigerung des Kapitalstocks mehr stattfinden.32

Tabelle 1
Ergebnisse der Simulation einer dauerhaften Erhöhung der Staatsinvestitionen – Differenz zur Basislösung
Jahr der Simulation: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
Arbeitsmarkt                    
   Erwerbstätige, in 1000 145,7 292,4 334,0 328,6 316,1 310,3 307,8 319,8 334,8 349,9
   Arbeitslose, in 1000 -56,9 -151,1 -151,8 -108,8 -76,6 -67,0 -60,8 -48,2 -38,9 -40,6
Reales Bruttoinlandsprodukt, in Mrd. Euro 12,2 15,1 14,7 13,7 13,3 13,1 13,0 13,6 14,0 14,3
   Darunter folgende Realgrößen:                    
   Privater Konsum 5,7 10,0 9,9 9,7 11,1 12,9 14,9 18,1 21,5 25,1
   Staatskonsum 0,5 1,9 2,1 2,0 1,9 1,9 1,8 1,9 1,9 2,0
   Bruttoanlageinvestitionen 13,2 13,9 13,0 11,3 9,8 8,8 7,5 6,5 5,2 3,9
      Ausrüstungen 2,5 2,8 1,6 0,5 -0,3 -1,1 -1,7 -2,3 -3,0 -3,6
      Bauten 10,2 10,5 10,8 10,3 9,6 9,4 8,8 8,4 7,6 7,0
   Vorratsveränderung 0,8 0,1 -0,6 -0,3 0 0 0 0,1 0 0
   Exporte -2,0 -2,9 -3,2 -3,7 -4,4 -5,9 -6,6 -7,7 -8,9 -10,4
   Importe 6,0 7,9 6,5 5,3 5,0 4,6 4,6 5,2 5,8 6,2
      Außenbeitrag -8,0 -10,8 -9,7 -9,0 -9,4 -10,5 -11,2 -12,9 -14,7 -16,6
Preisindex, 1995 = 100                    
   Privater Verbrauch -0,1 0 0,2 0,5 0,8 1,2 1,5 1,9 2,3 2,7
   Bruttoinlandsprodukt 0 0,2 0,5 0,8 1,1 1,4 1,9 2,3 2,7 3,2
   Tariflöhne, Index 0 0,1 0,3 0,4 0,4 0,4 0,4 0,4 0,4 0,4
   Lohnstückkosten 0 0 0 0,01 0,01 0,01 0,01 0,01 0,02 0,02
Verteilung, in Mrd. Euro                    
   Volkseinkommen 11,0 16,8 21,6 26,6 33,2 39,8 48,5 57,2 67,1 77,8
      Arbeitnehmerentgelte 5,5 12,5 16,4 19,4 22,4 25,9 29,8 33,8 37,9 42,2
      Unternehmens-/Vermögenseinkommen 5,5 4,3 5,1 7,1 10,8 13,8 18,7 23,4 29,2 35,6
   Verfügbares Einkommen 5,5 10,8 13,4 17,2 23,2 30,2 38,0 47,1 56,9 67,6
Einnahmen des Staates, in Mrd. Euro 5,4 10,9 14,1 16,5 19,4 22,9 26,7 30,7 35,2 40,0
   Darunter: Steuern 3,7 6,9 8,7 10,1 12,0 14,5 17,0 19,6 22,5 25,8
   Sozialversicherungsbeiträge 1,6 3,8 5,2 6,1 7,0 8,0 9,2 10,5 12,0 13,3
Ausgaben des Staates, in Mrd. Euro 10,8 12,5 14,9 18,2 21,8 25,7 30,0 34,4 39,1 43,8
   Darunter: monetäre Sozialleistungen -0,4 -0,9 0,1 2,0 4,0 6,1 8,3 10,8 13,5 16,3
   Bruttoinvestitionen 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0 10,0
Finanzierungssaldo, in Mrd. Euro -5,3 -1,6 -0,8 -1,7 -2,5 -2,8 -3,3 -3,7 -3,8 -3,8
Verschuldung des Staates, in Mrd. Euro 5,3 6,9 7,7 9,4 11,8 14,7 17,9 21,7 25,5 29,3

Quelle: eigene Berechnungen mit dem KOMO 61.

Kurze und lange Frist zusammengedacht

In Modellen wie dem KOMO 61 wird das reale Bruttoinlandsprodukt additiv aus seinen Hauptkomponenten berechnet, für die spezielle funktionelle Zusammenhänge hypothetisch angenommen und empirisch geschätzt werden. Eine Produktionsfunktion, wie sie mit der Gleichung (14) für die lange Frist verwendet worden ist, kommt in diesem Modell nicht vor. Ob die produktivitätssteigernden Wirkungen eines wachsenden Kapitalstocks zumindest in den ersten Jahren der Simulation durch das Modell approximiert werden, ist nicht bekannt. Eine bloße Addition des langfristigen Zuwachses zu den kurzfristigen Effekten wäre deshalb problematisch. Andererseits sind die kurzfristigen Effekte bedeutender und stellen deshalb für die langfristigen Prozesse die Rahmenbedingungen dar. Extrapoliert man die sich mittelfristig einstellende Abwärtstendenz der Investitionen, so gibt es nach 14 Jahren kein zusätzliches Wachstum mehr. Werden die wirkungslos gewordenen zusätzlichen Staatsausgaben an diesem Punkt eingestellt, hätte das in etwa den gleichen Effekt wie bei ihrer Einführung, nur mit negativem Vorzeichen versehen.

Fazit

Zusätzliche staatliche Investitionen, die nicht aus den laufenden Staatseinnahmen finanziert werden, sind mit einem wachsenden Schuldenberg verbunden, selbst dann, wenn eine Selbstfinanzierung der zusätzlichen Staatsausgaben nach längerer Zeit erreicht werden kann. Eine grobe Abschätzung ergibt für die kumulierten Schulden (ohne Zinsen) mindestens das 15-fache der Investitionssumme. „Grob“ ist diese Abschätzung, weil eine relativ einfache Produktionsfunktion verwendet und deren Entwicklung mit der ersten Ableitung angenähert wird. Entsprechende Rechnungen ergeben auf der theoretischen Grundlage einen langfristigen Multiplikator von 0,21 für den zusätzlichen Effekt staatlicher Investitionen auf das Volkseinkommen.

Ob der Fall einer Selbstfinanzierung eintritt, hängt von den vergleichsweise stärkeren kurz- und mittelfristigen Effekten der zusätzlichen Staatsausgaben ab, die mit Hilfe ökonometrischer Modelle simuliert werden können. Dabei ist jedoch nicht auszuschließen, dass die hier dargestellten Ergebnisse modellabhängig sind. Mit Hilfe des KOMO 61 kann man vorhersagen, dass die Effekte zusätzlicher staatlicher Investitionen nach 14 Jahren durch eine Art „crowding out“ der privaten Investitionen neutralisiert sein werden. Sollte sich das empirisch erhärten lassen, muss eine Selbstfinanzierung wohl gänzlich als utopisch angesehen werden.

  • 1 Vgl. M. Gornig, A. Schiersch: Investitionsschwäche in der EU: ein branchenübergreifendes und langfristiges Phänomen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 27, 2014, S. 657.
  • 2 Mitteilung der Europäischen Kommission: Eine Investitionsinitiative für Europa, 2014, http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=COM:2014:903:FIN (2.4.2015).
  • 3 Vgl. B. Preissl: Europa: Eindämmung der Krise, und dann?, in: Wirtschaftsdienst, Sonderheft 2014, S. 2-5.
  • 4 H.-W. Sinn: Eine Anmerkung zur Selbstfinanzierungsthese und zum keynesianischen Modell, in: ifo Schnelldienst, 67. Jg. (2014), Nr. 23/2014, 12.12.2014, S. 3 f.
  • 5 W. Scherf: Selbstfinanzierungseffekte antizyklischer Finanzpolitik, in: Finanzwissenschaftliche Arbeitspapiere der Justus-Liebig-Universität Gießen, Nr. 91, 2014, S. 2; auch auf Ökonomenstimme am 5.1.2015, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2015/01/selbstfinanzierungseffekte-antizyklischer-finanzpolitik/ (6.5.2015).
  • 6 K. R. Popper: Was ist Dialektik?, in: Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie, Berlin, Bonn, Bad-Godesberg 1975, S. 178.
  • 7 Dogmengeschichtlich wird in diesem Zusammenhang in der Regel auf einen Vortrag von J. R. Hicks aus dem Jahr 1936 mit dem Titel „Mr. Keynes and the 'Classics': A Suggested Interpretation“, in: Econometrica, 5. Jg. (1937), H. 2, S. 147-159, hingewiesen. Dort wird eine „multiplier equation“ formuliert, die den hier interessierenden Zusammenhang aber explizit gar nicht deutlich macht.
  • 8 Vgl. z.B. R. Barrell, D. Holland, I. Hurst: Fiscal multipliers and prospects for consolidation, in: OECD Journal: Economic Studies, 2012, Nr. 1. Die Autoren stützen sich bei ihrer Analyse von 18 OECD-Volkswirtschaften auf NiGEM, das „National Institute Global Econometric Model“; dabei spielen theoretische Überlegungen und die Besonderheiten der deutschen Volkswirtschaft nur eine Nebenrolle.
  • 9 Vgl. O. Blanchard, G. Illing: Makroökonomik, München 2004, S. 136 f.
  • 10 Vgl. J. Wolters: Der Zusammenhang zwischen Konsum und Einkommen: Alternative ökonometrische Ansätze, in: RWI-Mitteilungen, 43. Jg. (1992), S. 117.
  • 11 Vgl. dazu ausführlich G. Quaas: Die Konsumfunktion in ökonometrischen Modellen für Deutschlands Volkswirtschaft, in: A. Wagner (Hrsg.): Empirische Wirtschaftsforschung heute, Stuttgart 2009, S. 99-110.
  • 12 Vgl. J. Wolters: Dynamische Regressionsmodelle, in: W. Gaab, U. Heilemann, J. Wolters: Arbeiten mit ökonometrischen Modellen, Heidelberg 2004, S. 55.
  • 13 Der „Gesamtmultiplikator“ in der Terminologie der ökonometrischen Literatur ist nicht identisch mit dem KHM, sondern liegt diesem zugrunde.
  • 14 Vgl. U. Heilemann: Die Bestimmung der Einnahmen und Ausgaben des öffentlichen Sektors im RWI-Konjunkturmodell, in: Mitteilungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, 30. Jg. (1979), S. 189.
  • 15 W. Scherf: Kommentar zu Georg Quaas: Eine realistische Interpretation des Keynes-Hicks-Multiplikators, Ökonomenstimme, 2015, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2015/01/eine-realistische-interpretation-des-keynes-hicks-multiplikators/.
  • 16 Vgl. beispielsweise O. Blanchard, G. Illing, a.a.O., S. 88.
  • 17 Vgl. W. Saris, H. Stronkhorst: Causal Modelling in Nonexperimental Research, Amsterdam 1984, insbesondere S. 297.
  • 18 Vgl. G. Quaas, M. Klein: Multiplikatoren der deutschen Volkswirtschaft, Berlin 2012. Dieselben: Einnahmen- und ausgabenseitige Multiplikatoren der deutschen Volkswirtschaft, in: Wirtschaftsdienst, 92. Jg. (2012), H. 10, S. 692-698.
  • 19 P. Krugman, R. Wells: Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2010, S. 835 f.
  • 20 N. G. Mankiw, M. P. Taylor: Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2008, S. 876.
  • 21 Ergänzende Ausführungen findet man unter http://www.forschungsseminar.de/mt.pdf.
  • 22 Ich ziehe es vor, an dieser Stelle inhaltlich zu argumentieren. Formal gesehen ist die Summe aller autonomen Ausgaben und Einnahmen auch kurzfristig gleich Null. Das ergibt sich aus den entsprechenden Identitätsgleichungen der VGR. Damit dürfte die hier vorgenommene Modifikation der Multiplikator-Theorie auch mit ihren kurzfristigen Anwendungen verträglich sein.
  • 23 Man beachte, dass in die hier abgeleitete Formel nur die vom Einkommen abhängigen Terme eingehen, während in der Standardformulierung die autonomen Ausgaben enthalten sind.
  • 24 Vgl. O. Blanchard, G. Illing, a.a.O., S. 136 ff.
  • 25 Der Nachteil, dass die Umsetzung von Investitionsprogrammen zeitverzögert erfolgt, wenn die entsprechenden Projekte planerisch nicht vorbereitet worden sind, ist bei einer langfristigen Betrachtung irrelevant. Vgl. OECD (Hrsg.): The Effectiveness and Scope of Fiscal Stimulus, in: OECD Interim Report, März 2009, S. 128.
  • 26 Vgl. M. Olson: Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, Tübingen 1991.
  • 27 Vgl. T. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 44. Erst auf der S. 288 erfährt man, dass diese These eventuell etwas mit der Cobb-Douglas-Produktionsfunktion von 1928 zu tun hat.
  • 28 Vgl. G. Quaas: „Konjunktureller Abschwung“? „Investitionsschwäche“? Ein Kommentar zur jüngsten Gemeinschaftsdiagnose, Beitrag zur Ökonomenstimme vom 15.10.2014, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2014/10/konjunktureller-abschwung-investitionsschwaeche-ein-kommentar-zur-juengsten-gemeinschaftsdiagnose/.
  • 29 Investitionen sind nicht nur langfristig nachhaltig wirksam, sondern erzeugen auch kurzfristig die größten Effekte.
  • 30 Das KOMO 61 wurde ausgewählt, damit die hier vorgestellten Ergebnisse von einem möglichst breiten Kreis von Lesern überprüft werden können. Angesichts des Schwerpunktes dieses Beitrags bei der langen Frist sollte die Aktualität des verwendeten Modells nachrangig sein. Zu beachten ist weiterhin, dass für die Simulation eine nicht-akkommodierende Geldpolitik unterstellt worden ist; bei einem Leitzinssatz nahe Null ist das die realistischere Annahme. Außerdem werden dadurch die von Mankiw und Taylor thematisierten speziellen „Verdrängungseffekte“ ausgeschlossen.
  • 31 Vgl. R. Barrell, D. Holland, I. Hurst, a.a.O., S. 75 f.
  • 32 Die eben zitierten Autoren berechnen für Deutschland ebenfalls einen Zeitraum von 14 Jahren, bis sich die Volkswirtschaft trotz eines dauerhaften Impulses wieder auf ihrem Gleichgewichtspfad einfindet. Vgl. ebenda, S. 81.

Title:The Costs of Additional Growth – Effects of Enhanced Governmental Investments in the Short and in the Long Run

Abstract:In the long run, all autonomous expenditures are zero. With this premise, the multiplier theory can be reduced to a well-known relationship between savings, investment and exports. If investment is enhanced by additional government expenditures, the best scenario implies a growing stock of capital. The corresponding increase in income can be assessed with the help of a production function. Only a tiny part of the increased income is gained by the government. A self-financing effect could eventually be reached after 32 years. But according to a more realistic scenario, the accumulation of capital would be terminated after 14 years because governmental investment crowd out private investment. Thus, the “costs” of additional growth for that period would be enduring increases in governmental expenditures which could never be paid back.

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DOI: 10.1007/s10273-015-1831-x

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