Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Besonders seit dem starken Anstieg der Staatsschuldenquoten nach dem Ausbruch der jüngsten weltweiten Finanzkrise und der Großen Rezession spielt das Thema sowohl in der öffentlichen als auch in der wissenschaftlichen Debatte eine prominente Rolle. Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina griff das Thema auf und richtete im Herbst 2011 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Wissenschaftlern mit ganz unterschiedlichen Ausgangsmeinungen ein. Diese setzte sich zum Ziel, einen konsensfähigen Kernbestand an Wissen aus der Verpackung mit unterschiedlichen Meinungen herauszuschälen und so einen Beitrag zum Abbau der verbreiteten Unkenntnis und Konfusion über Staatsverschuldung einerseits und des Lagerdenkens andererseits zu leisten.

Der gemeinsame Bericht zu den Staatsschulden soll zur Aufklärung über diese Thematik in Politik und Öffentlichkeit beitragen. Seine gedruckte Fassung ist auf einer Pressekonferenz in Berlin am 11. Juni 2015 der Öffentlichkeit vorgestellt worden.1 In diesem Beitrag werden die Ergebnisse der Arbeitsgruppe „Staatsschulden“ dargestellt.

Die zur Jahresmitte 2009 im Grundgesetz (GG) verankerte Schuldenbremse schreibt vor, dass sich der Bund ab 2016 nur noch in Höhe von 0,35% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) strukturell verschulden darf, die Länder ab 2020 gar nicht mehr. Bis zur GG-Änderung 2009 war dem Staat in allen deutschen Verfassungen seit derjenigen des Norddeutschen Bundes von 1867 die Aufnahme von Krediten unter der Bedingung eines außerordentlichen Bedarfs bis zur Höhe seiner „Ausgaben zu werbenden Zwecken“ und seit der GG-Änderung von 1969 bis zur „Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen“ erlaubt.2 Seit 2009 kommt der Begriff „Investitionen“ im GG nur noch in Art. 104 vor, in dem es um Finanzhilfen des Bundes „für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden“ geht. Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum als Bedingung für Wohlstandsmehrung hängen aber nicht nur von privaten Investitionen, die sich in Deutschland ohnehin auf einem relativ niedrigen Niveau bewegen, ab, sondern von hinreichenden staatlichen Investitionen in die materielle Infrastruktur und darüber hinaus in die immaterielle, wie Rechtssicherheit, Bildungssystem und effiziente Verwaltungsstrukturen.

Der Anteil der gesamten Staatsausgaben am BIP, die Staatsquote, betrug in Deutschland während der letzten zehn Jahre rund 45%. Einen so bedeutenden Sektor der Wirtschaft von der Kreditfinanzierung sogar seiner Nettoinvestitionen auszuschließen, ist angesichts des riesigen Ersparnisaufkommens in Deutschland und der Welt kontraproduktiv. Denn die Kreditnachfrage des Unternehmenssektors und des Sektors der privaten Haushalte bleibt weit dahinter zurück. Wenn die staatliche Kreditnachfrage die Lücke nicht schließt, werden die Nominalzinssätze extrem niedrig und die Realzinssätze negativ bleiben. Nahe der Nullzinsschranke verliert auch die Geldpolitik an Wirksamkeit; die EZB erreicht schon seit Jahren das von ihr gesetzte Ziel der Preisstabilität (unter, aber nahe bei 2% Preissteigerung p.a.) nicht mehr. In diesem Sinne leben wir im Euroraum in einer Deflation. Diese zeigt in vielen Eurostaaten außerhalb Deutschlands ihre typischen Symptome: hohe Arbeitslosenquoten, geringes, teils negatives Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum sowie hohe Insolvenz­raten.

Sparkurs hat Investitionsstau bewirkt

Der Sparkurs der Bundesfinanzminister Hans Eichel, Peer Steinbrück bis hin zu Wolfgang Schäuble („schwarze Null“) hat in den letzten 15 Jahren vor allem staatliche Investitionsprojekte getroffen, weil Kürzungen in diesem Bereich – zumindest zunächst – für die Öffentlichkeit weniger fühlbar sind und weniger Widerstand hervorrufen als die Absenkung von Sozialleistungen oder von Gehältern der Staatsbediensteten. Das Ergebnis liegt jetzt offen zutage. Es hat in Deutschland stark gestiegene Fallzahlen von unterlassenen Instandhaltungen und gestrichenen Erweiterungen der öffentlichen Infrastruktur gegeben. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), der Deutsche Landkreistag sowie der Deutsche Städte- und Gemeindebund haben den Rückstau an staatlichen Infrastruktur­investitionen für diese unterste staatliche Ebene geschätzt. Im neuesten Kommunalpanel stellt die KfW einen Anstieg des Investitionsrückstands von 118 Mrd. Euro (2013) auf 132 Mrd. Euro (2014) fest.3 Es mag zwar stimmen, dass kommunale Spitzenverbände bei solchen Schätzungen auch ihre eigenen Interessen verfolgen, weil sie sich von einer Investitionsoffensive deutlich höhere Einnahmen versprechen. Von den Rechnungshöfen des Bundes und der Länder wird man dies nicht sagen können. Zunehmend attestieren sie ihren Gebietskörperschaften eine Mitschuld am Verfall der Infrastruktur. So warf der Bundesrechnungshof dem Bundesverkehrsministerium im April 2014 erneut vor, für den Erhalt der Infrastruktur vorgesehene Mittel zweckentfremdet, nämlich für Neubauten statt für Sanierungen, eingesetzt zu haben.4

Abschmelzen des staatlichen Nettovermögens

Seit 2004 lagen die Abschreibungen auf den Vermögensbestand des Staatssektors höher als die öffentlichen Bruttoinvestitionen. Das heißt, die staatlichen Nettoinvestitionen waren negativ. Dies schlägt sich auch in der Nettovermögensbilanz des Staatssektors nieder (vgl. Abbildung 1). Hier zeigt sich, dass das staatliche Nettovermögen von 800 Mrd. Euro 1991 auf fast null in den letzten Jahren geschrumpft ist.

Abbildung 1
Deutschland: Nettovermögensbilanz des Gesamtstaats
Deutschland: Schulden des Gesamtstaats
in % des nominalen Bruttoinlandsprodukts
in Mrd. Euro in Abgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
31097.png

Quellen: Deutsche Bundesbank, Statistisches Bundesamt.

Das bedeutet, dass der Staat im wiedervereinigten Deutschland Kredite nicht nur für Investitionszwecke, sondern auch zur Finanzierung von laufendem Staatskonsum und Transferzahlungen aufgenommen hat, im Gegensatz zur Entwicklung in der alten Bundesrepublik in den 20 Jahren zuvor. Trotz der vorhandenen Messprobleme5 scheint die Entwicklung der Nettovermögensbilanz des Staates ein besserer Indikator für die Tragfähigkeit der Staatsfinanzen zu sein als die Entwicklung der Staatsschuldenquote (vgl. Abbildung 2), die üblicherweise als Prüfstein für die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen herangezogen wird. Denn die Staatsschuldenquote enthält keine Information darüber, wofür der Staat die aufgenommenen Kredite verwendet hat. Ob er diese vermögens- oder konsumwirksam verausgabt, ist aber das entscheidende Kriterium für die Beantwortung der Frage, inwieweit ein Anstieg der Staatsschuldenquote zukünftige Generationen belastet oder nicht. Mit einer Absenkung der Staatsschuldenquote ist für die zukünftigen Generationen nichts gewonnen, wenn dies durch Sparmaßnahmen auf Kosten der Instandhaltung und des zukunftsorientierten Ausbaus der Infrastruktur zustande kommt. Bei Staatsschulden ist nicht die Frage „wieviel“, sondern „wofür“ entscheidend, wenn es um Generationengerechtigkeit geht.

Abbildung 2

31110.png

Quelle: Statistisches Bundesamt.

Ein Verschuldungsverbot für staatliche Konsum- und Sozialausgaben sowie für Ausgaben zur Instandhaltung der öffentlichen Infrastruktur, mit den notwendigen Ausnahmen im Rezessions- und Katastrophenfall, wäre ökonomisch durchaus sinnvoll. Dies hatte der Sachverständigenrat für Wirtschaft im März 2007 in einer Expertise zu Beginn der Beratungen der Föderalismuskommission II vorgeschlagen.6 Darin empfahl er, staatliche Kreditaufnahme bis zur Höhe der Nettoinvestitionen der öffentlichen Hand weiterhin zuzulassen. Wie eine scharfe Kritik an der heute gültigen Schuldenbremse des GG liest sich seine damalige Einschätzung: [Aus dem Anstieg der Staatsschuldenquote] „jedoch die Forderung eines generellen Schuldenverbots abzuleiten wäre ökonomisch ähnlich unsinnig, wie Privatleuten oder Unternehmen die Kreditaufnahme zu verbieten. Ein solches Verbot ginge mit Wohlfahrtsverlusten einher […] eine hohe Schuldenstandsquote […] kann aber in gewissem Umfang unter intergenerativen Verteilungsgesichtspunkten gerechtfertigt sein, nämlich im Zusammenhang mit öffentlichen Investitionen, die das Vermögen kommender Generationen erhöhen oder, vermittelt über ihre Produktivitätseffekte, künftige Erträge hinterlassen und diese somit ‚reicher‘ machen.“7

Über diesen ökonomisch fundierten Rat hat sich die Föderalismuskommission II, in der bei der Entscheidung am 5. März 2009 nur Politiker und keine Sachverständigen mehr vertreten waren, hinweggesetzt. Es gibt Hinweise darauf, dass der abrupte Anstieg der Staatsschuldenquote als Folge der akuten Finanz- und Wirtschaftskrise den eher kurzfristig denkenden Politikern einen solchen Schrecken eingejagt hatte, dass als Gegengewicht ein zwar zeitlich gestrecktes, aber praktisch absolutes Schuldenverbot mehrheitsfähig wurde.8 Anders als in der Schweiz war diese Entscheidung sogar mit einem Eingriff des Bundes in die Finanzautonomie der Länder insofern verbunden, als diese durch die GG-Änderung ab 2020 auf einen strukturell stets ausgeglichenen Haushalt ohne Nettoneuverschuldung verpflichtet sind.9

Weitere wichtige Ergebnisse

Zu den wichtigsten Ergebnisse des Staatsschulden-Berichts hinsichtlich der Ursachen, Wirkungen und Begrenzungsmöglichkeiten zählen auch folgende: Die öffentliche Debatte über gestiegene Staatsschuldenquoten konzentriert sich fast nur auf den Zähler der Quote und lässt Entwicklungen im Nenner, dem nominalen BIP, unberücksichtigt. Historische Erfahrungen zeigen aber, dass erfolgreiche Rückführungen hoher Quoten fast nur über den Nenner, also den BIP-Zuwachs, zustande gekommen sind, so in England in den ersten 100 Jahren nach den Napoleonischen Kriegen und in den USA in den ersten 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch als die Staatsschuldenquoten Mitte der 1970er Jahre in der Bundesrepublik und in fast allen OECD-Ländern zu steigen begannen, hat der Einbruch im Trend des weltweiten Wirtschaftswachstums eine Schlüsselrolle gespielt. Der Schuldenzuwachs im Zähler der Quote konnte – auch angesichts steigender Arbeitslosigkeit – nur mühsam der verlangsamten Entwicklung des BIP im Nenner angepasst werden. Im Umkehrschluss lässt sich feststellen, dass ein Arbeitslosigkeit abbauendes hohes Wirtschaftswachstum ein empfehlenswerter Weg zur Rückführung hoher Staatsschuldenquoten ist und den besten Schutz gegen Staatsüberschuldung darstellt.

Von ähnlich großer Bedeutung für die Entwicklung der Staatsschuldenquoten sind Finanzkrisen. Nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems fester Wechselkurse hat es als Folge des Abbaus von Kapitalverkehrskon­trollen eine Häufung von internationalen Finanzkrisen gegeben.10 In Ländern, die davon betroffen waren, erklären die staatlichen Rettungsmaßnahmen einen großen Teil des Anstiegs der Staatsschuldenquoten, weil Schulden von angeschlagenen Finanzinstituten in die Staatskasse übernommen wurden. Finanzkrisen gehen spekulative Kreditexzesse voraus. So hat sich in Deutschland die Schuldenstandsquote des Finanzsektors von derjenigen aller anderen inländischen Sektoren (Summe der Schuldenstandsquoten der privaten Haushalte, des Staates und der nicht-finanziellen Kapitalgesellschaften), die sich zuvor auf fast gleicher Höhe entwickelt hatten, in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre nach oben abgekoppelt und ist bis zur jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise geradezu explodiert.11 Solche spekulativen Exzesse im Vorfeld von Finanzkrisen einzudämmen oder durch eine Regulierung der Finanzmärkte überhaupt unmöglich zu machen, würde eine wichtige Ursache steigender Staatsschuldenquoten ausschalten.

Der Bericht behandelt auch die Frage, wann Staaten überschuldet sind. Weit verbreitet ist die Auffassung, dass eine Staatsschuldenquote von ca. 90% und höher sich negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirke.12 Im Bericht wird diese These auf der Basis empirischen Materials aus 14 Industrie­ländern für den Zeitraum von 1880 bis 2008 widerlegt: Es lässt sich keine Wachstumsverlangsamung für Jahre beobachten, in denen der oben genannte Schwellenwert überschritten wurde. Aber selbst wenn sich eine Korrelation ergeben hätte, ist damit das Kausalitätsproblem nicht gelöst: Haben hohe Staatsschuldenquoten das Wachstum beeinträchtigt oder hat niedriges Wachstum die Staatsschuldenquoten erhöht? Wie Panizza und Presbitero 2013 in einer Übersichtsanalyse herausgearbeitet haben,13 ist diese Kausalitätsproblematik bisher ungelöst. Jedenfalls ist die Höhe der langfristig tragbaren Staatsschuldenquoten je nach den Umständen von Land zu Land sehr unterschiedlich. Deshalb kann ein einheitlicher Schwellenwert – ganz gleich auf welcher Höhe – der Heterogenität der Bedingungen nicht gerecht werden.

Ausführlich werden in dem Bericht auch die Verteilungswirkungen behandelt, einschließlich der Frage, unter welchen Bedingungen Staatsschulden künftige Generationen belasten oder vielleicht sogar begünstigen. Ob und, wenn ja, in welchem Ausmaß eine Tragfähigkeitslücke der öffentlichen Finanzen unter verschiedenen demografischen Projektionen existiert, wird im Bericht ebenso thematisiert wie die Frage, ob die massive Zentralbankgeldschöpfung seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise letztendlich eine große Inflation auslösen wird. Auch die Multiplikatorwirkungen kreditfinanzierter Staatsausgaben auf die wirtschaftliche Aktivität werden diskutiert, mit dem Ergebnis, dass diese in Rezessionsphasen signifikant höher als in Boom-Zeiten sind und dass die These, in Zeiten einer Krise würden drastische Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten zu einer Zunahme der wirtschaftlichen Aktivität führen („expansive Konsolidierung“),14 skeptisch zu beurteilen ist.

Verhältnis des Realzinssatzes zur Wachstumsrate

Das wichtigste Kriterium für die Einschätzung der Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen bei anhaltender Nettoneuverschuldung wird in der öffentlichen Debatte so gut wie überhaupt nicht zur Kenntnis genommen: das langfristige Verhältnis des Realzinssatzes zur Wachstumsrate der Wirtschaft (oder das Verhältnis des Nominalzinssatzes zur nominalen Zuwachsrate des BIP).15 Liegt der Realzinssatz langfristig unterhalb der Wachstumsrate der Wirtschaft, kann der Primärsaldo des öffentlichen Haushalts ohne Gefahr für die Tragbarkeit der Schulden im Defizit gefahren werden. Dann können und sollten als frei verfügbare Potenziale für die Wohlstandsmehrung Defizite in den öffentlichen Haushalten (und nicht „schwarze Nullen“) angestrebt und realisiert werden, z.B. zur Finanzierung von Instandsetzungsmaßnahmen und Erweiterungen der öffentlichen Infrastruktur, für Investitionen in Bildung und Forschung, in Kinder- und Immigrantenversorgung etc. sowie zur Finanzierung von Steuersatzsenkungen oder noch besser von stets investitionsfördernden Abschreibungsvergünstigungen, die den schwächelnden privaten Investitionen in Deutschland auf die Beine helfen könnten. Wenn demgegenüber der Realzinssatz langfristig über der Wachstumsrate der Wirtschaft liegt, kann ein Anstieg der Staatsschuldenquote nur dann vermieden werden, wenn der Staat Primärüberschüsse erwirtschaftet.

In der Bundesrepublik lag die Emissionsrendite der öffentlichen Anleihen bis 1973 fast in jedem Jahr unterhalb der Zuwachsrate des nominalen BIP.16 Damals war die Zuwachsrate der Staatsschulden viel höher als in den folgenden Jahrzehnten und trotzdem verharrte die Staatsschuldenquote unter oder um die 20%. Seitdem – d.h. nachdem die Bundesbank, befreit von den Fesseln fester Wechselkurse, ab 1974 ihre Geldpolitik nach monetaristischen Grundsätzen gestaltete – war es eher umgekehrt. Die „intertemporale Budgetbeschränkung“ erforderte also in dieser Periode bei der Gestaltung der Staatsfinanzen Primärüberschüsse. Weil diese selten realisiert wurden, zeigte die Staatsschuldenquote seit Mitte der 1970er Jahre einen steigenden Trend, obwohl die Zuwachsrate der Staatsschulden in den nachfolgenden Jahrzehnten geringer war als in den 25 Jahren zuvor. Erst seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise, verbunden mit dem Verlust des bestimmenden Einflusses der Bundesbank auf den Kurs der Geldpolitik der EZB, zeigt sich ein erneuter Wechsel des Verhältnisses: Die Emissionsrendite der öffentlichen Anleihen liegt in Deutschland jetzt wieder unterhalb der Wachstumsrate der Wirtschaft.

In der Arbeitsgruppe war umstritten, ob dies von Dauer sein wird. Carl Christian von Weizsäcker und andere bejahten diese Frage und verwiesen auf das weltweit enorm gewachsene und weiter wachsende Aufkommen an Ersparnissen, das durch die Kreditaufnahme privater Unternehmen für Investitionen und privater Haushalte für Immobilieninvestitionen und Konsumausgaben nicht absorbiert werden könne. Deswegen zeichne sich das Szenario eines negativen natürlichen Realzinses ab, wenn nicht eine weiter zunehmende Staatsverschuldung die klaffende Absorptionslücke auf den Kapitalmärkten der Welt schließen werde.17 Lars Feld und andere hielten es für unwahrscheinlich, dass die Emissionsrendite der öffentlichen Anleihen langfristig unterhalb der Wachstumsrate der Wirtschaft verharren werde. Deswegen sei weiterhin Vorsicht bei der Neuverschuldung geboten; die „intertemporale Budgetbeschränkung“ habe nach wie vor Gültigkeit. Eine dritte Meinung innerhalb der Arbeitsgruppe, vertreten von Gerhard Illing und anderen, ging davon aus, dass der Zinssatz zwar nicht langfristig und dauerhaft unter der Wachstumsrate des BIP liegen werde. Aber in den Jahren mit Zinssätzen unterhalb der Wachstumsrate solle der Staat die Gunst der Stunde nutzen und sich sehr langfristig, d.h. auf 20 bis 30 Jahre, verschulden, um neben Steuererleichterungen für Investitionen der Privatwirtschaft auch seinen eigenen großen Nachholbedarf an öffentlichen Investitionen zu finanzieren.

Schlussbemerkungen

Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass ein Schuldenverbot nicht in die Verfassung eines Zentralstaats, der Verantwortung für die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung trägt, gehört. In den USA haben viele Einzelstaaten als Folge ihrer Erfahrungen mit Schuldenkrisen im 19. Jahrhundert „Balanced Budget Requirements“, teils in ihren Verfassungen und teils in Gesetzesform. Trotz mehrfacher Anläufe auf der bundesstaatlichen Ebene in Washington, D.C., die ich seit den 1980er Jahren selbst intensiv mitverfolgt habe, sind die Versuche, ein „Balanced Budget Amendment“ in der Verfassung der USA zu verankern, nicht gelungen. Die kollektive Vernunft war stark genug, dieses Anliegen von Politikern, die den Sprung des Denkens von der mikroökonomischen auf die makroökonomische Ebene nicht schaffen, zu verhindern.

In der EU oder dem Euroraum wäre eine Schuldenbremse der jeweiligen Mitglieder, also auch der Bundesrepublik, nur dann vertretbar, wenn es eine europäische Regierung und ein EU-Parlament mit eigenen steuer- und ausgabenpolitischen Rechten gäbe, die die Verantwortung für die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Euroraum übernähmen.18 Ohne Souveränitätsverzichte auf fiskalpolitischem Gebiet, ähnlich denen in der Geldpolitik, kann Europa diese höhere Integrationsstufe nicht erreichen und wird auf wackeligen Füßen stehen bleiben. Wir brauchen einen die Integration fördernden europäischen Zentralstaat, der – ausgestattet mit eigenen steuer- und ausgabenpolitischen Rechten – die Verantwortung für die Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Euroraum tragen kann und tragen will.

  • 1 C.-L. Holtfrerich, L.P. Feld, W. Heun, G. Illing, G. Kirchgässner, J. Kocka, M. Schularick, W. Streeck, U. Wagschal. S. Walter, C. C. von Weizsäcker: Staatsschulden: Ursachen, Wirkungen und Grenzen, Berlin 2015, http://www.bbaw.de/publikationen/stellungnahmen-empfehlungen/bericht-staatsschulden (16.7.2015).
  • 2 J. Isensee, P. Kirchhof: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 3. Aufl., Heidelberg 2010, S. 20.
  • 3 KfW-Kommunalpanel 2015. Pressemitteilung vom 29.5.2015, https://www.kfw.de/KfW-Konzern/Newsroom/Aktuelles/Pressemitteilungen/Pressemitteilungen-Details_277952.html (20.7.2015).
  • 4 O.V.: Kaputte Straßen, Rechnungshof gibt Verkehrsministerium Mitschuld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.4.2014, http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/kaputte-strassen-rechnungshof-gibt-verkehrsministerium-mitschuld-12912260.html (20.7.2015).
  • 5 Diese gibt es deshalb, weil der Wert des Bruttovermögens des Staates schwieriger festzustellen ist als derjenige privater Unternehmen und Haushalte. Denn für die Sachvermögenswerte des Staates, z.B. für das Autobahnnetz, gibt es meist keine Marktpreise. Das Statistische Bundesamt errechnet den Bruttovermögensbestand der öffentlichen Hand, soweit es sich nicht um Geldforderungen aus vom Staat gewährten Krediten handelt, approximativ aus den Ausgaben für frühere öffentliche Investitionen und schätzt die jährlichen Abschreibungen darauf.
  • 6 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Staatsverschuldung wirksam begrenzen, Expertise im Auftrag der Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, Wiesbaden März 2007.
  • 7 Ebenda, S. 1.
  • 8 Lars P. Feld, in der entscheidenden Phase Berater des Bundesfinanzministeriums, hat als Mitglied der Arbeitsgruppe „Staatsschulden“ die Ansicht vertreten, dass es ohne die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 in der Föderalismuskommission II und im Parlament nicht zu dem Beschluss gekommen wäre, die Schuldenbremse in der jetzt gültigen Form in das GG zu übernehmen. Weil für die Neuregelung des Art. 115 in Verbindung mit Art. 109 des GG entsprechend der Entscheidung der Föderalismuskommission II die Zweidrittelmehrheit der damals regierenden Großen Koalition im Bundestag (29.5.2009) und Bundesrat (12.6.2009) notwendig war, die Bundestagswahl am 27.9.2009 aber kurz bevorstand, handelten Regierung und Parlament unter Zeitdruck.
  • 9 Ein anderes Mitglied der Arbeitsgruppe „Staatsschulden“, Gebhard Kirchgässner, der die Entstehung der Schweizer Schuldenbremse von seiner Heimatuniversität St. Gallen aus nächster Nähe verfolgt hatte, vertrat die Ansicht, dass diese in der Schweiz deswegen erfolgreich sei, weil die Kantone über Steuerautonomie verfügen, die es für die deutschen Bundesländer bei den großen Steuerquellen (Einkommen- und Umsatzsteuer) nicht gibt, siehe auch: G. Kirchgässner: Die Schuldenbremse der Bundesländer – eine Fehlkonstruktion?, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 10, S. 721-724.
  • 10 B. Eichengreen: International financial crises: Is the problem grow­ing?, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 2002, H. 1 (Festschrift für C.-L. Holtfrerich: Wirtschaftspolitik nach dem Ende der Bretton-Woods-Ära), S. 89-102.
  • 11 C.-L. Holtfrerich et al.: Staatsschulden, a.a.O., S. 29-30, Schaubilder 9 und 10.
  • 12 C. M. Reinhart, K. Rogoff: Growth in a time of debt, in: American Economic Review, 100 (2010), S. 573-578; S. G. Cecchetti et al.: The real effects of debt, Bank for International Settlements Working Paper, Nr. 352, Basel 2011; B. Égert: The 90% public debt threshold: the rise and fall of a stylized fact, OECD Economic Department Working Paper, Nr. 1055, Paris 2013.
  • 13 U. Panizza, A. F. Presbitero: Public debt and economic growth in advanced economies: a survey, in: Swiss Journal of Economics and Statistics, 2013, S. 175-204.
  • 14 A. Alesina, S. Ardagna: The design of fiscal adjustments, in: Tax Policy and the Economy, 27. Jg. (2013), S.19-68; A. Alesina, C. Favero, F. Giavazzi: The output effect of fiscal consolidation plans, in: Journal of International Economics, 96. Jg. (2015), S. S19-S42.
  • 15 Finanzwissenschaftler kennen natürlich die entscheidende Bedeutung dieses Verhältnisses für die Grenzen der Staatsverschuldung und weisen in ihren Lehrbüchern darauf hin, z.B. C. B. Blankart: Öffentliche Finanzen in der Demokratie. Eine Einführung in die Finanzwissenschaft, 8. Aufl., München 2011, S. 370-372.
  • 16 C.-L. Holtfrerich et al.: Staatsschulden, a.a.O., S. 52, Schaubild 18.
  • 17 So argumentiert seit seinem Auftritt auf dem Economic Forum des IWF am 8.11.2013 auch Larry Summers, der ehemalige US-Finanzminister und jetzige Harvard-Professor, https://www.youtube.com/watch?v=KYpVzBbQIX0 (25.7.2015).
  • 18 Wie am 24.7.2015 bekannt wurde, strebt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, zusammen mit der EU-Kommission und Elmar Brok vom EU-Parlament, eine solche Wirtschaftsregierung für den Euroraum zurzeit an, siehe: http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/eurozone-soll-finanzminister-und-eurosteuer-bekommen-a-1045206.html (26.7.2015).

Title:Public Debt: Causes, Effects, and Limits

Abstract:This article summarises results of the report on public debt questions published in June 2015 by an interdisciplinary group of scholars appointed by Germany’s National Academy of Science. The 11 authors of the report embarked on their task in 2012 from very diverse points of view on the topic. Thus, a consensus report could only be achieved through a very long process of retrieving the load­bearing skeleton of the public debt issue from the flesh of personal opinions (strong priors, as C.P. Kindleberger called them). In a nutshell, the report calls into question the longer-term wisdom of the “debt brake” inserted into Germany’s constitution in 2009.


DOI: 10.1007/s10273-015-1861-4

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.