Seit 100 Jahren veröffentlicht der Wirtschaftsdienst Analysen, Berichte und Kommentare aus der Wissenschaft zu aktuellen volkswirtschaftlichen Themen. Dies dient der Unterstützung der Wirtschaftspolitik, trägt zur Entscheidungsfindung bei, untermauert politische Maßnahmen durch eine wissenschaftliche Begründung und regt Debatten an. Es zeigt sich über die Jahrzehnte, dass Änderungen wirtschaftspolitischer Paradigmen, Stile und Gepflogenheiten zwar den wissenschaftlichen Fortschritt in gewissem Maße widerspiegeln, aber meist dem Lauf der Ereignisse geschuldet sind – und diese wiederum bewirken eine Revision der wissenschaftlichen Analysen. So brachten große Krisen stets neue Instrumente hervor, drängende ungelöste Probleme verlangten nach neuen Ansätzen. Über größere Zeiträume betrachtet haben sich die Erfahrungen von Diktatur, Kriegen und Krisen in spezifischen Instrumenten niedergeschlagen, wie etwa bei der Unabhängigkeit der Zentralbank, der Einführung internationaler Handelsregularien, der antizyklischen Konjunkturpolitik oder des Streikrechts – Maßnahmen, die letztlich auch das Konzept der sozialen Marktwirtschaft prägten. In neuerer Zeit hatte eine schwere Krise innovative Formen der Bankenregulierung und der Kontrolle von Staatsbudgets zur Folge.
Dieses Heft setzt die Tradition des Wirtschaftsdienst fort, Ergebnisse aus der Wissenschaft für die wirtschaftspolitische Gestaltung nutzbar zu machen. Diesmal geht es um die Frage, ob die derzeit eingesetzten wirtschaftspolitischen Instrumente ausreichen, um die aktuellen oder in nächster Zeit auf uns zukommenden Probleme der deutschen und – damit untrennbar verbunden – der europäischen Wirtschaft zu bewältigen. Es bedurfte wohl einer schweren Krise, um zu erkennen, dass die spezifische Art der Europäisierung der Wirtschaft einerseits und die Entfesselung der Finanzmärkte andererseits die Wirtschaftspolitik (und damit deren wissenschaftliche Beobachter und Interpreten) auf eine Art und Weise herausforderten, der das bis dahin entwickelte Instrumentarium kaum gerecht werden konnte. Alte Überzeugungen, wie etwa der Glaube an den bei Abwesenheit von Regulierung „nahezu vollkommenen Finanzmarkt“ wurden erschüttert, der Erklärungsgehalt von Theorien, die der Wirtschaftspolitik zugrunde liegen, wurde auf den Prüfstand gestellt.
Beschäftigt man sich mit der Zukunft, geht es immer auch um die Vergangenheit. Es ist nicht nur zu fragen, welche neuen Instrumente zu entwickeln sind, sondern auch, ob die bereits bestehenden langfristig taugen. Zurzeit ist z.B. unklar, ob das Instrumentarium, das angesichts der letzten Krise (oft ad hoc) entwickelt und eingesetzt wurde, Instabilitäten in Zukunft verhindern und die hauptsächlich betroffenen Länder auf einen stabilen Wachstumspfad zurückführen kann. Taugt etwa eine Kapitalmarktstrategie, die auf den Ausbau eines Nicht-Bankensektors mit weniger regulierten Geschäftsmodellen setzt als im traditionellen Bankgeschäft, zur Gewährleistung von Stabilität im Kreditwesen? Oder dient sie nur dazu, riskante Transaktionen von Banken fernzuhalten und sie auf andere Unternehmen zu verschieben, in denen die Risiken unter Umständen viel schlechter zu kontrollieren sind? Im Zuge des Krisenmanagements entstanden weiträumige Feldversuche mit teils heftig umstrittenen wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Oft war schnell zu handeln, ohne dass die Operationalisierung von Programmen und Indikatoren getestet oder die Wirkung von Maßnahmen vorher geprüft werden konnten. Unklar ist etwa, ob die Fülle von Institutionen und Instrumenten zur Stabilisierung und Koordinierung der Fiskalpolitik in Europa ein konsistentes, operationalisierbares und praxistaugliches System ergeben oder ob eine Straffung und Konsolidierung der Maßnahmen notwendig wird, um die angestrebten Ziele mit möglichst geringem Aufwand und ohne unerwünschte Nebenwirkungen zu erreichen.
Es ist zu erwarten, dass durch die Krise aufgeworfene Fragen weiterhin Gegenstand heftiger Kontroversen sein und für einige Zeit bleiben werden: Wieviel Kompetenz soll die Europäische Zentralbank haben? Wieviel Zentralisierung braucht und verträgt die Governance der Europäischen Union? Wieviel Ungleichheit verkraftet ein europäisches Wirtschaftssystem? Oder: Welche Wachstumsstrategie ist angesichts der vielfältigen Ursachen und Determinanten schleppender Wirtschaftsentwicklung in der EU zu entwerfen? Eine Reihe von Themen, die in diesem Heft adressiert werden, betreffen Probleme, die seit Langem bestehen, aber nicht angepackt werden. Hier sind – oft bereits mehrfach vorgetragene – Lösungen immer wieder zu prüfen und gegebenenfalls zu modifizieren, und es ist zu diskutieren, warum die Politik untätig ist oder mit der Wahl ihrer Instrumente nicht erfolgreich. Diees betrifft etwa Bildung und Verteilung oder Arbeitsmarktpartizipation und Wachstumsschwäche.
Gleichzeitig entwickeln sich in rasantem Tempo neue Herausforderungen. Internationale Migrationsströme verlangen Anpassungsleistungen, für die die grundsätzliche politische Richtung und die zur Umsetzung notwendigen Instrumente noch zu entwickeln sind – ganz abgesehen vom notwendigen europäischen Konsens. Innovationen in der Produktion und auf den Märkten, wie etwa die unter „Industrie 4.0“ diskutierten Phänomene oder die Sharing Economy, drängen auf Antworten aus verschiedenen wirtschaftspolitischen Richtungen: Technologiepolitik, Arbeitsmarktpolitik und Wachstumsstrategien sind hier ebenso gefragt wie Konsumentenschutz und Wettbewerbspolitik. Die internationale Vernetzung fordert die Wettbewerbsfähigkeit der EU heraus. Die vor nicht allzu langer Zeit wiederentdeckte Industriepolitik sieht sich mit Industrie 4.0 konfrontiert: 3D-Druck und eine auf Vernetzung beruhende neue Form der Arbeitsorganisation sollen die Produktivität drastisch erhöhen. Ein zukunftsgerichteter Ansatz in der Industriepolitik bietet die Chance auf eine neue Gestaltung nach europäischen Prioritäten. Eine sogenannte High-Road-Strategie wird vorgestellt, die nachhaltig und qualitativ orientiert ist und bei der der Schwerpunkt der Innovationstätigkeit nicht auf der Senkung der Arbeitskosten, sondern der Material- und Energiekosten sowie auf Kreativität in der Entwicklung von Gütern und Dienstleistungen liegt. Hier ist in der Tat Raum für „policy innovation“, für neue – europäisch geprägte – industriepolitische Ansätze, die auf einer High-Road-Strategie beruhen.
Eine ähnlich kreative Leistung wird von der Politik in Bezug auf die Sharing Economy verlangt. Offensichtlich besteht in der Bevölkerung ein Bedürfnis, insbesondere Dienstleistungen auch von privat zu privat auszutauschen und damit komplizierte Regulierungen und kostentreibende Zwischenhändler zu umgehen. Die Nachfrage nach solchen Angeboten ist überraschend groß, ihre Einordnung in das traditionelle Wirtschaftsgefüge mit seinen Regelungen von fairem Wettbewerb über angemessene Besteuerung und Konsumentenschutz bis hin zu Gewerbeordnungen fällt schwer. „Einfach verbieten“ würde vielleicht wichtige Innovationen ausbremsen, „einfach gewähren lassen“ kann zu nicht überschaubaren Wettbewerbs- und Marktordnungsproblemen führen. Auf die Instrumente, die die Politik zur Regulierung der neuartigen Geschäftsmodelle entwickelt, darf man gespannt sein. Erste Versuche deuten auf ein hohes Maß an Kreativität hin.
Die wissenschaftliche Analyse der Wirtschaftspolitik darf bei der Erörterung von Instrumenten und Programmen nicht stehenbleiben. Es ist immer wieder zu fragen, ob die Art der Implementierung neuer politischer Maßnahmen zum Ziel führt. Sind die verwendeten Indikatoren präzise definiert und operationalisierbar, erzeugen sie die Informationen, die die Wirtschaftspolitik braucht? Ist die Implementierung effizient oder belastet sie die Zielgruppen über Gebühr und zieht damit Ressourcen von wichtigeren Zielen und gravierenderen Problemen ab? Wie meist im Wirtschaftsdienst bleiben auch nach der Lektüre dieses Heftes noch viele Fragen offen, aber die richtigen Fragen zu stellen, entspricht der hier vertretenen Diskussionskultur ebenso wie wissenschaftlich abgesicherte Antworten zu präsentieren.