Der Zweck ökonomischen Handelns ist die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen, die den Wohlstand steigern. Dieser soll in der Regel durch wirtschaftliches Wachstum erreicht werden. Es ist klar, dass das Wachstum in Europa nicht erst seit Beginn der letzten Krisen lahmt. Daher haben wachstumsfördernde Maßnahmen nicht nur in den Wirtschaftsministerien der Mitgliedsländer, sondern auch auf EU-Ebene hohe Priorität. Der Schwerpunkt liegt auf der Reduzierung der Staatsschulden, der Förderung von Innovationen, der Verbilligung von Kapital oder auf der Wiederentdeckung der Industriepolitik, also auf Variablen, die schon in der Vergangenheit das Wachstum nicht dynamisieren konnten. Kann eine Strategie, die auf traditionelle Faktoren der Wachstumsförderung setzt, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas künftig wirklich steigern? Auf der diesem Heft zugrundeliegenden Konferenz zum 100-jährigen Jubiläum des Wirtschaftsdienst1 im Bundeswirtschaftsministerium wurden Faktoren adressiert, die eine neue Wachstumspolitik erfordern, die das Wohlfahrtsziel nicht als Wachstumsbremse, sondern als wachstumsfördernd ansieht.
Clemens Fuest und Susanne Wildgruber analysieren die Rolle der Steuerpolitik bei der Wachstumsförderung. Steuern sollten so gestaltet werden, dass sie langfristig Wachstum unterstützen. Grundsätzlich kann der Staat über die Stimulierung der Konsumnachfrage bei den privaten Haushalten und über Investitionsanreize bei den Unternehmen Wachstum fördern. Dabei sollten eine kurzfristige Wirkung und ein positives Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen ebenso beachtet werden wie der langfristige Einfluss auf das Steuersystem und die Rücknahmemöglichkeit bei Erfolg. Mit Bezug auf Erfahrungen in Großbritannien und den USA werden verschiedene Instrumente auf ihre Tauglichkeit untersucht. Ein Blick in die Literatur zeigt, dass Steuersenkungen sich positiv auf Investitionen in Sach- und Humankapital sowie auf Forschung und Entwicklung auswirken. Zudem sollten die Instrumente so eingesetzt werden, dass damit einhergehende Veränderungen der Steuerstruktur die beabsichtigte Wirkung nicht kompensieren oder schwächen.
Der Beitrag von Gustav Horn, Sebastian Gechert und Christoph Paetz beschäftigt sich mit dem Krisenmanagement nach 2008. Er analysiert zwei Strategien: eine beruht auf einer Fiskalpolitik, die durch gezielte Ausgaben und Steuersenkungen die Wirtschaft auf einen Wachstumspfad zurückbringen könnte, die andere setzt auf die Reduktion von Staatsschulden, die der Beseitigung von Unsicherheit dient und damit Investitionen und Konsum anregt. Seine Analyse ergibt positive Wirkungen in der Phase expansiver Finanzpolitik zu Beginn der Krise und negative im weiteren Verlauf durch die externe Sparpolitik insbesondere in den Krisenstaaten, die nicht nur auf stimulierende Maßnahmen verzichtete, sondern im Gegenteil stark restriktive Züge trug. Stabilisierungspolitik sollte zeitlich gezielter eingesetzt, und es sollte dabei auf die Trennung einer kurzfristigen Konjunkturpolitik von einer langfristigen Wachstumspolitik verzichtet werden, da auch durch kurzfristige fiskalpolitische Maßnahmen langfristig Voraussetzungen für ein höheres Wachstumsniveau geschaffen werden und umgekehrt.
Joachim Möller untersucht die Entwicklung von Erwerbsbevölkerung und Erwerbstätigen in Deutschland zwischen 1991 und 2015 und diskutiert die Voraussetzungen für die Aktivierung von Wachstumspotenzialen durch eine Steigerung des Arbeitsangebots. Er weist auf den Zusammenhang von Alterung der Bevölkerung und Innovationsfähigkeit der Volkswirtschaft hin. Eine einfache Beziehung besteht hier jedoch nicht. Zwar gibt es Argumente, die für eine Überlegenheit junger Erwerbspopulationen sprechen. Demgegenüber gibt es Studien, die zeigen, dass radikale Innovationen heute von älteren Menschen erbracht werden, da die Phase des Lernens und der Investition in Bildung länger ist als früher. Andere Untersuchungen haben ergeben, dass es bei der Innovationstätigkeit in Teams eher auf Diversität als auf das Alter ankommt. Eine Entwicklung der Zahl der Erwerbstätigen, die die negativen Effekte der Schrumpfung der Bevölkerung ausgleicht, muss auf mehrere Faktoren setzen, wie etwa Bildung, neue Arbeitszeitmodelle, Zuwanderung, Erwerbsbeteiligung und Ausschöpfung der Potenziale durch angemessene Arbeitsorganisation.
Alfred Kleinknecht setzt sich mit den Wachstumsstrategien der Angebotsökonomie auseinander. Ausgehend von der deutlich abwärts verlaufenden Wachstumsentwicklung der Produktivität in den USA, Japan, Deutschland und den Niederlanden seit 1950, wird gezeigt, inwiefern dieser Trend durch Maßnahmen, die auf die Angebotstheoretiker zurückgehen, verstärkt wurde. Kleinknecht konzentriert sich dabei auf Strukturreformen, die für eine Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsmärkte verantwortlich sind. Die neoklassische Theorie liefert hierfür selbst die Begründung: Niedrige Löhne zögern die Substitution von Arbeit durch Kapital und damit den Einsatz modernster Technik hinaus. Produktivitätspotenziale werden nicht ausgeschöpft. Damit können die von Schumpeter dargestellten Entstehungsfaktoren für Innovationen nicht zum Tragen kommen. Weitere Argumente zielen auf die negativen Effekte eines gelockerten Kündigungsschutzes. Durch häufigen Personalwechsel gehen sowohl im Unternehmen akkumuliertes Wissen als auch die Routinevorteile etablierter Teams verloren.
Der erhebliche Rückstand beim Ausbau hochleistungsfähiger Kommunikationsnetze behindert nicht nur die Entwicklung des Marktes selbst, sondern auch die Entstehung innovativer Geschäftsmodelle bei den Anwendern der Netze, wie etwa Industrie-4.0-Szenarien, das Internet der Dinge und Machine-to-Machine-Kommunikation. Iris Henseler-Unger zeigt in ihrer Bestandsaufnahme der Netzentwicklung seit der Liberalisierung des Marktes, wie sich Technik, Anbieter und Netzausbau zueinander verhalten. Bemerkenswert ist, dass es Privatunternehmen sind, die den Breitbandausbau vorantreiben. Der Zustand der Netze in Deutschland macht, gemessen an der Vision der EU-Kommission von der Entstehung einer Gigabit-Gesellschaft, beachtliche Anstrengungen nötig. Rechnerisch gesehen könnte bei dem bestehenden Investitionsniveau durch eine relativ geringe staatliche Unterstützung eine ausreichende Netzkapazität erreicht werden. Dies erfordert aber den Übergang von dem von der Deutschen Telekom präferierten Ausbau bestehender Kupfernetze durch Vectoring-Technologien auf ein flächendeckendes Glasfasernetz.
Eine moderne Verkehrsinfrastruktur bildet die Voraussetzung für das Ausschöpfen von Wachstumspotenzialen in anderen Sektoren der Wirtschaft. Darüber hinaus birgt die Digitalisierung von Verkehrssystemen erhebliches Innovationspotenzial im Straßen- und Fahrzeugbau sowie bei Logistik-Dienstleistungen. Günter Knieps skizziert die zu erwartenden Veränderungen im Transportwesen durch eine umfassende informationstechnische Unterlegung. Die Informationstechnik stellt General-Purpose-Technologien (GPT) dar. Diese sind in vielen Bereichen einsetzbar, sorgen für entscheidende Veränderungen in der Arbeitsorganisation und können Produkt- und Serviceinnovationen hervorrufen. Fraglich ist, ob es bei GPT dem Staat obliegt, die Voraussetzungen für die Nutzung der neuen Technik zu finanzieren. Knieps verneint das und verweist auf überlegene Modelle, die auf eine Allokation der Kosten bei den tatsächlichen Nutzern der Technologie setzen.
Es ist unstrittig, dass der Bildungsstand in einer Gesellschaft entscheidend für das zu erreichende Wachstumsniveau ist. Ludger Wößmann geht in seinem Beitrag weiter und untersucht, wie der Bildungsstand am sinnvollsten zu messen ist und welche Maßnahmen tatsächlich dem Wachstumsziel dienen. Grundlage seiner Ausführungen ist die Beobachtung, dass die durchschnittliche Bildungsdauer im Ländervergleich keinen Bezug zu künftigen Wachstumsergebnissen aufweist. Vielmehr kommt es auf die Bildungsleistung, etwa dokumentiert durch Resultate der Pisa-Studien, an. Besonders bedeutsam sind hier Leistungen in Mathematik und den Naturwissenschaften. Längere Bildungszeiten und höhere Bildungsausgaben sind nicht entscheidend, wichtiger ist vielmehr das dabei erworbene Wissen. Wie können adäquate Bildungsstandards erreicht werden? Relevant ist also nicht nur Bildung in der Breite, sondern auch die Förderung von Kompetenzen an der Spitze.
Martin Hellwig erörtert den Zusammenhang von Bankenregulierung und Wachstum. Er weist die These, eine zu strikte Bankenregulierung, und hier vor allem die Erhöhung der Eigenkapitalquoten, schwäche die Kreditvergabe an Unternehmen und damit das Wachstum zurück. Diese Kritik berücksichtigt nicht, dass die geringe Ausstattung der Banken mit Eigenkapital erst zu einer extremen Belastung von Realwirtschaft und Staatshaushalten geführt habe. Wäre eine strikte Regulierung der Banken tatsächlich ein Wachstumshemmnis, hätte sich dies auch in den USA zeigen müssen, wo im Zuge der Krisenbewältigung eine viel umfangreichere Bankenregulierung eingeführt wurde als in Europa, die Wirtschaft sich aber wesentlich schneller erholte. Die Vorsicht, mit der in Europa auf die unzureichende Risikoabsicherung der Banken, die Bereinigung der Kreditbestände und die Abwicklung maroder Finanzinstitute reagiert wurde, hat dazu geführt, dass heute noch zu viele Banken extrem krisenanfällig sind. Weiterhin ist zu bedenken, dass nicht jeder Kredit an ein Unternehmen für stabiles Wachstum sorgt, wie der Immobilienboom, hervorgerufen durch unzureichend abgesicherte Kredite in den USA, gezeigt hat.
Die Vorträge auf der Konferenz haben facettenreich gezeigt, dass zahlreiche Ansätze für ein neues Wachstum in Europa vorhanden sind. Es liegt in der Hand der Wirtschaftspolitik dies auch umzusetzen.
- 1 Die Konferenz fand in Kooperation mit der Zeitschrift Intereconomics statt, die Ihren 50. Geburtstag beging, vgl. das Konferenzheft „New Growth for Europe“, in: Intereconomics, 51. Jg. (2016), H. 6, http://archive.intereconomics.eu/year/2016/6/.