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Sowohl in der Korruptionsbekämpfung als auch in der Wettbewerbspolitik kommt die Umweltpolitik nur wenig vor, dennoch ist ihr Potenzial, insbesondere bei der Wettbewerbsverfälschung, hoch und wird zu Unrecht unterschätzt. Anlass für diese Feststellung ist diese Meldung des Bundesumweltministeriums: „Am 7. Januar 2019 leitete die britische Regierung ein formales Konsultationsverfahren gemäß OSPAR-Beschluss 98/3 ein. Es wurde angekündigt, dass dem Antrag von Shell stattgegeben und Ausnahmegenehmigungen für den Verbleib der Sockelkonstruktionen der drei Schwerkraftfundamentplattformen Brent Bravo, Brent Charlie und Brent Delta sowie der Stahlgerüst-Plattform Brent Alpha im Meer erteilt werden sollen. Ein Verbleib im Meer würde bei drei der Plattformen neben den eigentlichen, bis über die Wasseroberfläche ragenden Tragekonstruktionen auch insgesamt 62 großvolumige, ca. 65 m hohe Öltanks und Bohrkammern einschließen, gefüllt mit ca. 640 000 m3 ölhaltigem Wasser sowie 40 000 m3 ölhaltigem Sediment mit einem Anteil von über 11 000 t Rohöl (Schätzungen von Shell). Deutschland hat im April 2019 einen formalen Einwand bezüglich der vorgesehenen Genehmigung des Shell-Antrags an die britische Regierung übermittelt.“1

Das Brent-Öl-und-Gas-Vorkommen liegt am äußersten Rand der Wirtschaftszone Großbritanniens, direkt an der Grenze zu dem Teil, der Norwegen gehört. Das Feld war das erste Nordsee-Ölfeld, das nach der Ölkrise von 1973 eröffnet wurde. Es steht für ca. 10 % des gesamten geförderten Nordsee-Öls. Erschlossen wurde es durch die vier im Antrag aufgeführten Plattformen, die nun dort verbleiben dürfen sollen. Beantragt – und von der britischen Regierung bereits positiv beschieden – ist eine Ausnahme von dem 1998 gefassten Grundsatz der OSPAR (OSPAR steht für „Oslo“ und „Paris“ und ist ein multilaterales Übereinkommen zum Schutz des nord-östlichen Atlantiks), dass sämtliche Installationen nach Beendigung der Förderung abzuräumen seien. Das im Brent-Feld geförderte Öl wurde eine Zeit lang einem Lagertank mit dem Namen Brent Spar zugeführt und von dort mit Schiffen abtransportiert. Verbunden wurde das Feld später durch eine Rohölpipeline mit den Shetlands, was den Tank Brent Spar überflüssig machte, sodass er abzureißen war. Der Konflikt um die Bedingungen meeresumwelt-gerechter Entsorgung machte den Tank und damit das Feld weltweit bekannt. Die infrastrukturelle Erschließung des Brent-Feldes wurde mit einer Gaspipeline ans schottische Festland abgeschlossen. Nun steht der Abriss beim Pionier-Feld an. Dieser Antrag scheint eine Grundsatzentscheidung auf den letzten Drücker aus Anlass eines (ersten) Einzelfalls und damit einen Präzedenz-Fall zu erzwingen. Hier wird entschieden, wie ernst es mit dem zitierten OSPAR-Abräumgrundsatz ist.

Typischerweise sind drei Phasen bei Großprojekten zu unterscheiden: Anfangs die Investitionsphase, in der Kapital in Erwartung auf den zukünftigen Ertrag vorgeschossen wird. Dann folgt die Phase der Produktion, in der die Investitionen zunächst amortisiert werden. Vom anschließenden Nettogewinn beziehen viele Akteure ihr Einkommen aus den laufenden Aufwendungen. Schließlich steht die Desinvestitionsphase an, in der die installierten Infrastrukturen abzuwickeln sind, und aus Rückstellungen, die während der Phase des Nettogewinns gemacht wurden, finanziert werden.

Für die dritte Phase müssen am Ende hinreichende Mittel transferiert sein. Hier liegt das strukturelle Problem, das kaum irgendwo wirklich gelöst ist. Die für die Desinvestition ökonomisch verantwortliche Rechtsperson verschwindet da regelmäßig. „Sterben“ bei Überschuldung in Form des Konkurses ist eben zugelassen. Also kommt es regelmäßig zu „vorzeitigen Todesfällen“ (premature deaths), wenn das Vermögen aufgebraucht ist. Für das Erbe mit negativem Vermögenswert findet sich naturgemäß niemand, der einzutreten bereit ist. Diese kaum angemessen regulierte ökonomische Struktur ist in Deutschland bestens bekannt. Dafür steht der Atomausstieg, die Beendigung des Steinkohlebergbaus mit seinen Ewigkeitslasten und andeutungsweise auch schon der Ausstieg aus dem Braunkohlebergbau in Brandenburg und Sachsen, wo der verantwortliche Konzern, Vattenfall, sich der undankbaren, weil schwer kalkulierbaren Aufgabe bereits entledigt hat.2 Bei einem so programmierten Ablauf liegt die unerledigte Aufgabe schließlich beim Staat. Seine Rolle ist, wie häufig, die eines „lender of last resort“. Ist er ein reicher und funktionierender Staat, ist die Chance groß, dass er mit der industriellen Altlast angemessen umgehen wird. Ist dies nicht der Fall, so ist nur noch die Umwelt selbst da, um in die Rolle eines „lender of last resort“ zu schlüpfen, was auch immer das im Detail heißt.

Wenn sich der ursprünglich Begünstigte der Last der Abfallbeseitigung entziehen will, sollte die Öffentlichkeit nach dem Muster der Brent-Spar-Kampagne die Beseitigung erzwingen. Es geht allein in der Nordsee um einen Vermögenswert von mehr als 1350 Anlagen auf See (die noch in Betrieb sind) – so das Ergebnis der OSPAR-Datenbank.3 (Die meisten von ihnen sind Stahl-Konstruktionen, was für den negativen Vermögenswert einiges ausmacht). Rechnet man je Anlage mit Beseitigungskosten von 100 Mio. Euro, so geht es um 135 Mrd. Euro. Das ist börsenwertrelevant. Öffentliche Empörung oder Skandalisierung ist bei dieser Größenordnung nur ein beschränkt scharfes Schwert.

Beim pionierhaften Abwicklungsvorgang im erst-entwickelten Nordsee-Ölfeld Brent scheint es in dieser Hinsicht eigentlich gut auszusehen: Die Eigner-Konzerne Shell und Exxon stehen prinzipiell zu ihrer Verpflichtung, das Feld abzuräumen. Shell ist sich des Skandalisierungspotenzials aufgrund des Namens Brent bewusst und hat wohl auch deshalb den Antrag über mehr als eine Dekade unter Einschluss einer breiten Palette von Stakeholdern vorbereitet. Nun kommt es zum Entscheid und das Ergebnis ist: Belassen der vier Plattformen in der Nordsee, sie ihrem Zerfalls-Schicksal überlassen, weil es nicht anders gehe. Die Industrie hat diese Strukturen in den 1970er Jahren konzipiert, ohne für den Abriss technisch vorzusorgen. Die OSPAR-Anforderung „OSPAR Decision 98/3 on the Disposal of Disused Offshore Installations“ vom Juli 19984 besagt zwar im Grundsatz „The dumping, and the leaving wholly or partly in place, of disused offshore installations within the maritime area is prohibited.“ Das ist eine Nulllösung, aber es gibt Ausnahmegenehmigungen für Stahl-Plattformen, die vor dem 9.2.1999 installiert worden sind und über einer Gewichtsgrenze liegen, und für Betonplattformen, sowohl schwimmend als auch schwerkraftgegründet, ohne Zeitlimit für die Einbringung.

Ein Verbleib ist aber auch nur zu erlauben, nachdem sie „topless“ gemacht worden sind. Die Ausdrucksweise der Ölförderunternehmen, dass sie Ölförderplattformen rückbauen, ist in diesem sehr eingeschränkten Sinne zu verstehen. Sie bauen lediglich die Förderplattform ganz oben auf der Fundamentplattform ab. Mit dem von der britischen Regierung vorgelegten Entscheidungsentwurf zum Brent-Feld wird die OSPAR-Entscheidung 98/3 nun erstmals im Detail ausgelegt. Dieser Präzedenzfall wird den Maßstab für die übrigen Abwicklungsvorgänge in der Nordsee (90 % bezogen auf die Förderleistung) setzen.

Für den Präzedenzfall-Charakter entscheidend ist die Normierung der Verfahrensweise. Das für die Ölindustrie zuständige britische Ministerium für Business, Energy & Industrial Strategy (BEIS) hatte zusammen mit dem Offshore Petroleum Regulator for Environment and Decommissioning (OPRED) erstmals 2009 „Guidance Notes. Decommissioning of Offshore Oil and Gas Installations and Pipelines“ ausgearbeitet. Im November 2018 wurden sie in aktualisierter Form vorgelegt. Dieses Dokument ist für den Einzelfall und auf Dauer prägend.

Über die Ausnahmen beschließt aber kein OSPAR-Gremium, sondern derjenige Staat, auf dessen Territorium die Installationen errichtet worden sind. Die multilaterale Ebene hat keine Hoheit über die Ausführungsverordnungen zu ihrer generellen Direktive. Positiv an der OSPAR-Regelung ist, dass sie nicht einfach nur als Geschäft zwischen dem Förderunternehmen und dessen gastgebendem Staat ausgelegt werden kann. Es gibt immerhin die Konsultationspflicht, entsprechend haben Drittstaaten Rechte. In diesem Fall nimmt Deutschland dieses Recht zum Schutz eines öffentlichen Gutes wahr. Betroffen sein können eines Tages alle Nordsee-Anrainer, nicht Großbritannien allein. Umweltfolgen betreffen (potenziell) alle Anrainer, Folgen für die Sicherheit der Schifffahrt betreffen sämtliche Schifffahrtsnationen, weit über den Kreis hinaus, der in OSPAR vertreten ist.

Abbildung 1
Ölplattformen in der Nordsee
Ölplattformen in der Nordsee

Quelle: OSPAR Commission: Offshore Installations, https://www.ospar.org/work-areas/oic/installations (27.9.2019).

Der am Ende entscheidende Staat hat die Konzessionen vergeben und aus der Öl- bzw. Gasförderung über Dekaden erhebliche Einnahmen generiert, denn bei der Gewinnung natürlicher Ressourcen ist regelmäßig neben den Kapitaleignern auch der Staat begünstigt. Die Forderung, dass er sich an den Kosten der Endphase, dem Abräumen, beteilige, liegt somit nahe. Ausnahmen von der generellen Anforderung an die infrastrukturelle Abfall­entsorgung werden Kosten für ihn senken. Insofern ist zu erwarten, dass er nicht nur im Interesse der Ölunternehmen, sondern auch im eigenen Interesse an einer Minderung des Aufwands in der Phase der Beendigung des Projekts hat. Das Setting, dass der Staat über die Ausnahmen souverän entscheidet, ist im Hinblick auf die gegebene kommerzielle Interessenlage unprofessionell. Es besteht ein Interessenskonflikt.

Wegen des Präzedenzfall-Charakters besteht die Gefahr, dass dieses Vorgehen für sämtliche Installationen gilt. Die Folgen in Form ersparter Abriss-Kosten begünstigen (potenziell) weitere Nordsee-Anrainer, aber nur diejenigen mit ebenfalls großen Installationen erheblich. Abbildung 1 zeigt, wie sich diese auf Staaten verteilen. Die altinfrastrukturelle Hauptlast liegt bei zwei Staaten: neben Großbritannien bei Norwegen. Die Positionierung Norwegens ist deshalb von besonderer Aussagekraft.

Die beantragte Ausnahmegenehmigung betrifft zweierlei: erstens die gesamte Installation im Meer stehen zu lassen und zweitens öl- und chemikalienhaltige flüssige Abfälle in den Kammern dieser Konstruktion zu belassen. Wird dem stattgegeben, dann gilt folgendes Szenario: Die Plattformen werden einem Prozess der natürlichen Verrottung anheimgegeben. Erwartet wird eine Öffnung der Kammern, (vermutlich später) auch ein Zusammenbruch der gesamten Struktur, in einem Zeitraum von 250 bis etwa 1000 Jahren. Die damit verbundene Gefahr ist somit, dass es gleichsam plötzlich zu einem Austritt einer erheblichen Menge von Schadstoffen (in Meeresbodennähe) kommt, bzw. dass ein Strukturzusammenbruch an der Meeresoberfläche andere Fahrzeuge bzw. Einrichtungen gefährdet und mit in den Abgrund reißt.

Es grenzt an Absurdität, aber die OSPAR-Regeln schrei­ben vor, dass auch die Option, die Plattformen ihrem natürlichen Zerfall zu überlassen, im Ausnahmeantrag mit einem Umwelt-Assessment zu bewerten ist. Darüber hinaus ist die Frage zu beantworten, mit Hilfe welcher Management-Methode Schäden für Dritte im Zaum gehalten werden sollen. Die Bewertung der Umweltschäden ist aufgrund des langen Zeitraums eigentlich nicht möglich. Angesichts dessen haben die Antragsteller das Umwelt-Assessment einfach auf Grundlage der heutigen Umweltsituation verfasst. Ein Managementplan, z. B. um vorzusorgen, dass im Falle eines Strukturbruchs keine Schiffe zu Schaden kommen, würde einer Märchenerzählung gleichen.

Die erste der Plattformen war als Stahlkonstruktion ausgeführt, während die drei jüngeren Plattformen Schwerkraftfundamentplattformen sind. Die OSPAR-Regelung von 1998 präformiert bereits die Legitimität der Option, die Schwerkraftfundamente aus Beton im Feld zu belassen. Massive Sicherheitsrisiken bei einer Bergung sind dafür ausschlaggebend. Bei der Sockelkonstruktion aus Stahl mag das anders sein, und sie steht für die meisten Nachfolgefälle. Entscheidend dafür, dass sich das Verfahren nicht durchsetzt, ist der technische Fortschritt, durch den das Decommissioning mehr Optionen erhält. Die Genehmigungsgestaltung der britischen Behörden vermittelt aber den Eindruck, dass hieran kein Interesse besteht.

Dem Argument, dass es unausweichlich sei, die immensen Mengen an belastetem Wasser in den Kammern am Fuß der Konstruktion und damit im Meer zu belassen, wird von dem britischen Gutachter, den die deutsche OSPAR-Delegation engagiert hat, deutlich widersprochen. Dabei hätte man erwarten können, mit dem Konflikt um die Brent Spar sei die Diskussion über schmutzige Reste, Öl und Chemikalien, auf Dauer geklärt.

Es geht vordergründig für Shell (und Exxon) um viel Geld. Es handelt sich zudem um einen potenziell wettbewerbsverzerrenden Vorgang, wenn Shell ein Milliardenbetrag „erlassen“ wird. Auch da aber ist es so: Da der Vorgang nicht über den Markt läuft, ist unklar, ob die EU-Wettbewerbsbehörde sich zuständig sieht. Aus Umweltsicht wichtiger aber ist, was diese Entscheidung als Präzedenzfall bringt. Das Stillschweigen Norwegens spricht Bände. Am 16.10.2019 findet in London ein von Deutschland beantragtes „Consultative Meeting“ (unter OSPAR) statt. Die Durchführung wird auch von anderen Staaten und der EU unterstützt. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.


DOI: 10.1007/s10273-019-2522-9