Nach langwierigem Tauziehen haben die Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union (EU) über ein Austrittsabkommen nun ihre finale Phase erreicht. Die Verhandlungsführer auf Seiten der EU stehen vor der Frage, ob sie der britischen Regierung doch noch entgegenkommen wollen, um einen harten Brexit zu vermeiden.
Aus ökonomischer Perspektive hätte ein Anstieg der Handelskosten zwischen dem Vereinigten Königreich und der Rest-EU grundsätzlich den Effekt, dass Preissignale verzerrt und so die komparative Spezialisierung zurückgedrängt würde. Da für die Spezialisierung aber auch der Handel mit Drittländern wesentlich ist, betrifft dies die beteiligten Wirtschaftsräume in unterschiedlichem Maße. Die entscheidende Frage ist, inwieweit durch Handelsumlenkung negative Produktivitätseffekte abgemildert oder gar vermieden werden können. Das Vereinigte Königreich ist in dieser Hinsicht in der schlechteren Ausgangsposition, da ein größerer Anteil seines bisherigen Exportvolumens in die EU geht als umgekehrt. Innerhalb der Rest-EU variiert die Betroffenheit mit der Wirtschaftsstruktur. Länder mit im Vergleich zum Vereinigten Königreich eher komplementärer Wirtschaftsstruktur sollten dabei mit stärkeren Handelseinbußen rechnen als solche mit ähnlicher Wirtschaftsstruktur. Auch hierbei ist ein Blick auf gegenwärtige Handelsmuster hilfreich. Was die relative Intensität des Warenhandels mit dem Vereinigten Königreich anbelangt, lag Deutschland 2018 mit einem Anteil von 6,2 % an der Gesamtausfuhr im Mittelfeld der EU-Länder (vgl. Abbildung 1). Dieser Anteil ist in jüngerer Zeit tendenziell rückläufig (vgl. Abbildung 2). Dabei zeigt das Branchenmuster ein gewisses Maß an Komplementarität. Während bei den Ausfuhren ins Vereinigte Königreich die Warengruppen Kraftfahrzeuge (27,6 %) und Maschinen (16,0 %)1 2018 relativ stark dominierten, ist die Struktur der Einfuhren aus dem Vereinigten Königreich wesentlich homogener.
Abbildung 1
Intensität des Warenhandels mit dem Vereinigten Königreich, 2018
BE = Belgien, CZ = Tschechien, FR = Frankreich, DE = Deutschland, EL = Griechenland, IE = Irland, IT = Italien, NL = Niederlande, PL = Polen, ES = Spanien.
Quelle: UN Comtrade, 2019; eigene Berechnungen.
Neben bestehenden Handelsmustern ist für die Prognose von Handels- und Wohlfahrtseffekten entscheidend, wie das Vereinigte Königreich zukünftig seine Handelsbeziehungen gegenüber der EU, aber auch gegenüber dem Rest der Welt regeln wird. Abgesehen von der Art der zukünftigen Anbindung an den EU-Binnenmarkt betrifft dies ebenso die Frage, inwieweit das Vereinigte Königreich an bestehende Handelsabkommen der EU mit Drittländern anknüpfen und welche neuen Abkommen es schließen kann. In gegenwärtigen Prognosestudien wird dies durch Gegenüberstellung verschiedener handelspolitischer Szenarien berücksichtigt. Von methodischen Detailunterschieden abgesehen zeigen sich dabei klare Gemeinsamkeiten im Umgang mit der regulatorischen Unsicherheit. So wird allgemein davon abgesehen, die kurzfristigen Entwicklungen in der Übergangsphase zu prognostizieren. Stattdessen richtet sich der Blick auf einen Szenariovergleich nach Abschluss der Anpassungsphase. Dabei werden die langfristigen Wachstumspfade von einem oder mehreren Brexit-Szenarien der Entwicklung ohne Brexit gegenübergestellt. Die Pfade unterscheiden sich dabei nicht in ihrer Dynamik (d. h. den Wachstumsraten), sondern lediglich in ihren Niveaus. Es ist diese Niveaudifferenz, die von den Studien als Brexit-Effekt identifiziert wird. Das muss bei der Interpretation immer beachtet werden.
Abbildung 2
Deutsche Warenausfuhr ins Vereinigte Königreich
Quelle: Statistisches Bundesamt, 2019; eigene Berechnungen.
Davon abgesehen unterscheiden sich die Studien in der Art, wie sie den Brexit operationalisieren. Einige Studien modellieren den Brexit in sehr expliziter Form, indem sie einen Anstieg der Zollsätze im grenzüberschreitenden Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und den verbleibenden EU27 postulieren. Die Schwierigkeit besteht hier, plausible zukünftige Zollniveaus für einzelne Produktgruppen zu definieren. Im Extremfall eines harten Brexits ohne anschließendem Handelsabkommen mit der EU ist dies noch am ehesten möglich, da hier von einem Rückfall auf die Zollsätze nach dem Meistbegünstigungsprinzip gemäß den Regeln der Welthandelsorganisation ausgegangen werden kann. Sehr schwierig ist es in solchen Ansätzen auch, den zu erwartenden Anstieg von nicht-tarifären Barrieren im Handel zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU abzubilden. Das betrifft die administrativen Kosten der Zollabwicklung, aber auch zukünftige regulatorische Divergenzen im Hinblick auf Prozess- und Produktstandards. Gerade weil die Ansätze sich auf die längere Frist fokussieren, erscheint dies als nicht unbeträchtliches Manko. Deshalb bilden andere Autoren die Handelskosten nicht explizit in ihren Modellen ab, sondern isolieren den Gesamteffekt der Zugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt und/oder der Existenz von reinen Freihandelsabkommen in ökonometrischen Schätzungen. Problematisch ist, dass es sich hierbei notwendigerweise um aus Vergangenheitsdaten abgeleitete Beitrittseffekte handelt, deren Umkehrung als zukünftiger Brexit-Effekt identifiziert wird. Für die so unterstellte Reziprozität existiert aber kein empirischer Beleg, auch bedingt durch den Mangel an historischen Präzedenzfällen.
Ein großer Teil der Prognosestudien beschäftigt sich ausschließlich mit den Folgen des Austritts auf das Vereinigte Königreich selbst. Autoren, die (auch) die wirtschaftlichen Folgen für die EU und/oder Deutschland beziffern2 prognostizieren zum Teil gesamtwirtschaftliche Aggregate (Bruttoinlandsprodukt – BIP, Handelsvolumen), zum Teil führen sie explizite Wohlfahrtsmessungen nach der Equivalent-Variation-Methode durch. Vor dem Hintergrund, dass es sich jeweils um reine Niveaudifferenzen handelt, sind die geschätzten Effekte auf die Rest-EU als eher gering zu bezeichnen. Im Hinblick auf das Handelsvolumen der EU-Länder werden zwar – für den Fall eines harten Brexits – Verluste von um die 2 % gegenüber der Situation bei Verbleib in der EU erwartet. Die hiermit verbundenen Wertschöpfungsverluste werden jedoch überwiegend als deutlich geringer prognostiziert. Eine Ausnahme bildet die Studie von Vandenbussche et al.,3 die unter Berücksichtigung der innereuropäischen Produktionsnetzwerke auf höhere Schäden kommt, da sie auch die Effekte einer Verteuerung von Vorleistungen auf die Wertschöpfungsketten einbezieht. Auch hier bewegen sich die BIP-Effekte aber in einem Bereich von unter 2 %. Weitgehende Einigkeit zwischen den Studien besteht darin, dass die Rest-EU als Ganzes spürbar geringere Schäden zu erwarten hat als das Vereinigte Königreich. Ein anderes Ergebnis ist nur für das extreme Szenario denkbar, in dem das Vereinigte Königreich nach dem Austritt massive unilaterale Zollsenkungen gegenüber Drittstaaten beschließt. Angesichts des beträchtlichen Risikos einer solchen Strategie und ihrer Gefahren speziell für die britische Industrie erscheint ein solches Vorgehen aber als unwahrscheinlich.
Die spezifischen Auswirkungen auf Deutschland werden von den Studien als im EU-Vergleich durchschnittlich bis leicht überdurchschnittlich identifiziert. Absolut betrachtet sind wenig überraschend stärkere Einbußen als in den kleineren EU-Ländern zu erwarten. Relativ zur Wirtschaftsleistung dagegen wird ein Land wie Irland als unmittelbarer Nachbar deutlich stärker betroffen sein. Auch für die Niederlande erwarten die Studien prozentual stärkere Verluste. Auf sektoraler Ebene wären gemäß der Studie von Felbermayr et al.4 vor allem die deutsche Pharmabranche sowie der Fahrzeug- und Maschinenbau negativ betroffen, bedingt durch die in diesen Bereichen besonders engen Handelsverflechtungen mit dem Vereinigten Königreich. Im Dienstleistungsbereich wären geringfügige Zugewinne denkbar, allerdings ist hier die regulatorische Unsicherheit besonders hoch. Zudem muss darauf hingewiesen werden, dass in den dargestellten Simulationsergebnissen einige Nebenresultate des Brexits nicht enthalten sind, die speziell für Deutschland relevant sind. Dies betrifft zum einen den monetären Effekt des Austritts auf das EU-Budget, der Deutschland als Netto-Zahler besonders betrifft. Auch die zukünftige Gestalt der Kapitalflüsse aus dem und ins Vereinigte Königreich ist ungeklärt. Und schließlich verändert der Brexit auch politökonomisch das Machtgefüge in der EU, vor allem da so ein Regulierungsbestrebungen gegenüber zumeist skeptisch eingestelltes Mitglied die EU verlässt.
- 1 Eigene Berechnungen basierend auf UN Comtrade Data Base, 2019, https://comtrade.un.org/ (9.10.2019).
- 2 S. Brakman, H. Garretsen, T. Kohl: Consequences of Brexit and options for a „Global Britain“, in: Papers in Regional Science, 97. Jg. (2018), H. 1, S. 55-72; R. G. Campos, J. Timini: An estimation of the effects of Brexit on trade and migration, Banco de Espana Occasional Paper, Nr. 1912, 2019; S. Dhingra, H. Huang, G. Ottaviano, J. Paulo Pessoa, T. Sampson, J. Van Reenen: The costs and benefits of leaving the EU: trade effects, in: Economic Policy, 32. Jg. (2017), H. 92, S. 651-705; G. J. Felbermayr: Brexit: A Hard-but-Smart Strategy and Its Consequences, in: Intereconomics, 54. Jg. (2019), https://archive.intereconomics.eu/year/2019/3/brexit-a-hard-but-smart-strategy-and-its-consequences/ (9.10.2019), H. 3, S. 178-183; M. Lawless, E. L. Morgenroth: The product and sector level impact of a hard Brexit across the EU, in: Contemporary Social Science, 14. Jg. (2019), H. 2, S. 189-207; G. Mion, D. Ponattu: Estimating the impact of Brexit on European countries and regions, Policy Paper, 2019, Bertelsmann Stiftung; H. Oberhofer, M. Pfaffermayr: Estimating the Trade and Welfare Effects of Brexit: A Panel Data Structural Gravity Model, CESifo Working Paper Series, Nr. 6828, 2017.
- 3 H. Vandenbussche, W. Connell, W. Simons: Global Value Chains, Trade Shocks and Jobs: An Application to Brexit, CESifo Working Paper Series, Nr. 7473, 2019.
- 4 G. Felbermayr et al.: Ökonomische Effekte eines Brexit auf die deutsche und europäische Wirtschaft, ifo Forschungsberichte, Nr. 85, 2017