Ein Service der

Artikel als PDF herunterladen

Die Finanzminister der Eurozone haben ein Insolvenzrecht für Staaten vorgeschlagen. So soll der „European Stability Mechanism“ nur dann finanzielle Hilfen für Mitgliedstaaten bereitstellen, wenn deren Schuldentragfähigkeit sichergestellt ist. Sonst droht der Schuldenschnitt. Weil die Schuldentragfähigkeit aber ein systematisch unklares Kriterium für Insolvenz ist, erhöht sich dauerhaft das Zahlungsausfallrisiko von Staaten im Euroraum. Das erhöht die Zinsen und belastet so Wachstum und Beschäftigung. Um den Euroraum nicht politisch und ökonomisch zu destabilisieren, muss die Europäische Zentralbank ein indirekter Lender of Last Resort für Staaten werden. Eine kritische Sicht auf die mögliche „Insolvenz“ bedeutet allerdings nicht, dass Regeln zur Begrenzung der Schulden grundsätzlich abzulehnen wären. Die bestehenden Regeln müssten aber deutlich verbessert werden.

Die in der Eurogruppe vertretenen Finanzminister der Eurozone haben vorgeschlagen, dass der „European Stability Mechanism“ (ESM) nur dann finanzielle Hilfen für Euromitgliedstaaten bereitstellt, wenn deren Schuldentragfähigkeit (debt sustainability) sichergestellt ist.1 Darüber hinaus soll die Einführung weiterer spezifischer „Collective Action Clauses“ in Staatsanleihen vorbereitet werden, die zu einer leichteren Restrukturierung, sprich Schuldenschnitten, von Staatsanleihen führen sollen. Die Ana­lyse der Schuldentragfähigkeit bzw. Debt sustainability analysis (DSA) wäre dann eine Bedingung dafür, ob ein Staat Kredite des ESM erhält oder einen Schulden­schnitt durchführen muss. Ohne dass die Eurogruppe es explizit macht, wird hier ein Insolvenzverfahren für Staaten vorbereitet, und zwar nach dem Vorbild des Internationalen Währungsfonds (IWF). In dessen Verfahren werden die Ergebnisse einer DSA auch als Kondition für eine Schuldenumstrukturierung genutzt.2

Die hier zu entwickelnde These ist, dass dieses Verfahren für die Eurozone nicht nur unangebracht, sondern auch ökonomisch und politisch hoch gefährlich ist. Eine DSA mag zwar eine interessante Art von Analyse sein. Ihre große analytische Schwammigkeit3 macht sie aber vollkommen ungeeignet als Insolvenzkriterium, zumal wenn ihre Ergebnisse als Kriterium für eine solch weitreichende Entscheidung wie einen staatlichen Schuldendschnitt verwendet werden.

Die Eurokrise hat gezeigt, dass das generelle Akzeptieren einer Staatspleite, ohne dass diese schon eingetreten sein muss, zu einer starken Volatilität der Zinssätze auf Staatsanleihen wegen des Ausfallrisikos führt. Da Renditen für Staatsanleihen die Grundlage für die Zinsen des Privatsektors und damit ein wesentlicher Bestimmungsgrund des Wirtschaftswachstums sind, wurde damit auch in vielen Ländern die Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung volatil, mit den entsprechenden Folgen für die politische Stabilität. Die Volatilität der Zinssätze wurde durch die Ankündigung der Europäischen Zentralbank (EZB), im Notfall Staatsanleihen aufzukaufen (im Rahmen des Outright-Monetary-Transactions-Programms – OMT), stark verringert, weil damit die Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Zahlungsunfähigkeit gesenkt wurde.

Die Einführung eines Insolvenzverfahrens würde dagegen die Gefahr in sich bergen, die in der Eurokrise ab 2010 zu beobachtende volatile Zins- und Wirtschaftsentwicklung wiederzubeleben. Die Mitglieder des Euroraums würden sich somit ohne Not in die Lage von Entwicklungsländern begeben, die die „Ursünde“4 begangen haben, sich in einer Währung zu verschulden, die sie selbst nicht kontrollieren können. Genau durch diese „Ursünde“ sind diese Entwicklungsländer in die Abhängigkeit von ausländischen Gläubigern und dem IWF geraten – so wie viele Euromitgliedstaaten in der Eurokrise.

Solvenz ist kein Kriterium für Staaten

Wenn die „Schuldentragfähigkeit“ als Kriterium für einen möglichen Schuldenschnitt benutzt werden soll, dann wird sie damit zum Kriterium für die staatliche „Solvenz“. Ein souveräner Staat kann aber nicht wie ein Unternehmen insolvent gehen – so lange er ein souveräner Staat ist. Deswegen kann es schon ganz grundsätzlich kein Insolvenzkriterium für Staaten geben. Das Kriterium „Schuldentragfähigkeit“ hat mit Solvenz nichts zu tun und birgt große Gefahren, wenn man es als solches verwendet.

Warum aber wird überhaupt nach einem Kriterium für die staatliche Solvenz gesucht? Wie bei Unternehmen und Banken soll bei Staaten eine fundamentale Zahlungsunfähigkeit – die Insolvenz – von einer temporären Zahlungsunfähigkeit durch vorübergehende Illiquidität unterschieden werden. Eine temporäre Illiquidität würde zur Vergabe von Hilfskrediten an Staaten durch den ESM berechtigen; eine fundamentale Zahlungsunfähigkeit durch Insolvenz würde gerade nicht zu solchen Krediten berechtigen, sodass Schulden abgeschrieben werden müssten.

Mit der Drohung des staatlichen Schuldenschnitts soll der sogenannte „Moral Hazard“ von Regierungen verhindert werden. D. h., Regierungen sollen davon abgehalten werden, neue Schulden in der Hoffnung zu machen, von anderen „herausgehauen“ zu werden (bail-out), wenn die Schulden nicht mehr bedienbar sind. Drohende Schuldenschnitte sollen schon heute die Kreditzinsen für Staaten erhöhen und den Regierungen damit den Anreiz zu hoher Verschuldung nehmen. Den Finanzmärkten wird dann im Wesentlichen überlassen, „gute“ Regierungen, die in ihrer Verschuldung maßhalten, von „schlechten“ Regierungen zu trennen, die sich überschulden.

Für Banken und Unternehmen ist die Unterscheidung zwischen Solvenz und Illiquidität zentral. So erhalten Banken Liquiditätskredite von den Notenbanken, wenn sie illiquide sind, werden aber abgewickelt, wenn sie insolvent sind. Für Staaten ist diese Unterscheidung aber nicht angebracht und sogar kontraproduktiv. Staaten können nämlich nicht insolvent werden; sie können aber sehr wohl illiquide werden. Das Kriterium für die Solvenz von nichtstaatlichen Wirtschaftseinheiten ist das Eigenkapital. Ist dieses negativ – ist also das Vermögen geringer als die Schulden – liegt Insolvenz vor: Selbst bei Verkauf des gesamten Vermögens wäre nicht genug Geld da, um die Gläubiger auszuzahlen. In diesem Fall können Schulden restrukturiert oder das Unternehmen kann ganz aufgelöst werden. Illiquidität liegt vor, wenn ein Schuldner faktisch seinen Zahlungsverpflichtungen aus Mangel an Kasse nicht nachkommen kann, ob er nun solvent ist oder nicht.

Die Insolvenz und die folgende Auflösung eines Unternehmens sollen im Ideal zeigen, dass ein Unternehmen sich nicht am Markt behaupten kann und sein Geschäftsmodell nicht tragfähig ist. Die knappen Ressourcen, die es verwendet (Materialien, Mitarbeiter), sollten dann lieber von Unternehmen verwendet werden, die sich am Markt behaupten können. Die Insolvenz ist damit grundlegend für das Funktionieren des Konkurrenzmechanismus in der Marktwirtschaft.5

Für Staaten kann es keine so definierte Insolvenz geben, weil sie kein Eigenkapital im buchhalterischen oder unternehmerischen Sinne haben.6 Kein Staat kann sich dazu verpflichten, im Falle negativen Eigenkapitals die öffentliche Infrastruktur zu verkaufen, um ausstehende Schulden zu tilgen; auch kann sich kein Staat verpflichten, sich im Notfall selbst zu liquidieren, um die Gläubiger auszuzahlen. Dazu kommt, dass der Staat nicht allein über sein jetzt bestehendes Vermögen verfügt, sondern auch über die zukünftigen Steuereinnahmen, die nicht seriös prognostiziert werden können. Damit macht das Konzept „Eigenkapital“, das für die Feststellung der Insolvenz von Privaten das Kernkriterium ist, für Staaten keinen Sinn.7

Die Insolvenzunfähigkeit von Staaten ist fundamental politisch: Ein Staat kann sein Vermögen nicht verpfänden, solange er souverän (also überhaupt ein Staat) ist. Staaten, die doch dazu gezwungen wurden, waren in der Geschichte oft nicht mehr souverän. Im 19. Jahrhundert setzte vor allem das britische Imperium notfalls durch Kanonenboote und „Regime Change“ seine Forderungen gegenüber staatlichen Kreditnehmern durch.8

Es ist auch kein Zufall, dass die prominenteste Befürworterin von Insolvenzverfahren für Staaten, die ehemalige Chefvolkswirtin des IWF, Anne Krueger, auf das US-Insolvenzverfahren für Kommunen („Chapter 9“ des US-Insolvenrechts) als Vorbild für ein staatliches Insolvenzverfahren verweist.9 Denn Kommunen sind selbst nicht souverän, sondern haben als subnationale Einheiten mit der föderalen Regierung eine souveräne Instanz über sich, die dafür sorgen kann, dass eine subnationale Einheit Teile ihrer Souveränität verliert, um Ausgaben- und Einnahmeanpassungen vorzunehmen und den Schuldendienst aufrecht zu erhalten.

Wird ein souveräner Staat nun unter ein übernationales Insolvenzrecht für Staaten gestellt – wie im Euroraum geplant –, so droht er, effektiv große Teile seiner Souveränität zu verlieren und wird damit zu einer nachgelagerten, subnationalen Einheit, die im Fall einer „Insolvenz“ das Eingreifen von außen akzeptieren muss. Natürlich muss die (Teil-)Aufgabe von Souveränität nicht automatisch problematisch sein. Ein Staat kann Teile seiner Souveränität freiwillig an andere, übernationale Ebenen abgeben. Nicht jede Aufgabe von Souveränität wird durch Kanonenboote erzwungen.

Massive Eingriffe von Gläubigern in das Haushaltsrecht zu ermöglichen, die zumeist zu starker Austerität und den damit verbundenen negativen Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft führen, dürfte aber kaum einen Anreiz zum freiwilligen Verzicht auf Souveränität geben. Das zeigt die jüngste Entwicklung im Euroraum: Die Austeritätspolitik der „Troika“ in den Staaten, die nicht mehr von den Finanzmärkten finanziert wurden, hat nicht nur die ökonomische Krise verstärkt, sondern auch die politische.10 Es ist ein Leichtes für die neuen Nationalisten, die Intervention der EU für die ökonomischen und sozialen Probleme von Ländern verantwortlich zu machen und (Haushalts-)Souveränität zurückzuverlangen, die in der Eurokrise tatsächlich abhanden gekommen ist.11

All das heißt nicht, dass Staaten nicht zahlungsunfähig werden können. Ganz im Gegenteil. Staaten hängen andauernd von den Finanzmärkten und deren Bereitschaft zur Kreditverlängerung ab. Bleibt diese aus, können Staaten akut zahlungsunfähig, also illiquide, werden. Das hat aber wenig mit ihrer fundamentalen Zahlungsfähigkeit, also ihrer Solvenz, zu tun. Insgesamt ist die Solvenz für Staaten also kein geeignetes Kriterium, an dem man einen Schuldenschnitt festmachen könnte.

Schuldentragfähigkeit: Ersatz für Solvenzkriterium?

Weil das staatliche Eigenkapital kein sinnvolles Solvenz­kriterium sein kann, wird mittlerweile das Konzept der Schuldentragfähigkeit als ein solches Kriterium verwendet. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, kann aber auch dieses nicht als Insolvenzkriterium genutzt werden. Das Konzept der Schuldentragfähigkeit setzt darauf, dass die Staatsschulden in % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) konstant bleiben. Die Schuldenstandsquote ( dt = Dt /Yt) ist definiert als:

Yt ist das nominale BIP; Dt-1 ist der Bestand an Schulden zu Beginn der Periode (Ende der letzten Periode); it ist der durchschnittliche Zins auf die Schulden12; Tt sind die Einnahmen des Staates (Steuern und Abgaben); At sind die Ausgaben des Staates ohne Zinszahlungen (die sogenannten Primärausgaben); SFAt ist das sogenannte „Stock-Flow Adjustment“ (Bestands-Fluss-Anpassung). Dies sind Veränderungen der Schulden, die nicht defizitwirksam werden. Dazu gehört z. B. die Aufnahme von Krediten, um davon finanzielle Forderungen zu kaufen (etwa bei der Bankenrettung). Tt- At ist der „Primärsaldo“, d. h. der Saldo der Staatsausgaben ohne Zinsen.

Schuldentragfähigkeit – also „debt sustainability“ – ist dann gegeben, wenn die Schuldenstandsquote in der Zukunft konstant bleibt. Bedingung für die Schuldennachhaltigkeit ist also, dass eine zukünftige Schuldenstandsquote, dt+n, geringer oder gleich der heutigen Quote, dt , ist. Steigt die Quote dauerhaft und auf ein hohes Niveau, sind Schulden nicht nachhaltig. Die dafür erforderliche Entwicklung der Schuldenstandsquote zwischen den zwei Zeitpunkten t und t+n ist durch die folgende Formel gegeben:

Dabei ist gt+n die Wachstumsrate des nominalen BIP. Diese Rate kann sich durch eine Veränderung der Preise oder des realen BIP ändern. Wichtig ist, dass sich die Formel auf die zukünftige Entwicklung bezieht, also auf die Entwicklung zwischen heute (t) und einem zukünftigen Zeitpunkt (t+n). Alle Ausdrücke mit dem Subskript t+n sind also zu prognostizierende Werte.

Lässt man den Ausdruck SFA erst einmal außen vor, entwickelt der IWF folgende Kriterien, nach denen Schulden entweder nachhaltig sind, nachhaltig gemacht werden können oder so unnachhaltig sind, dass Staaten „insolvent“ sind und ihre Schulden durch Restrukturierung verringert werden sollen:13

  1. So lange zu erwarten ist, dass das Wachstum des nominalen BIP größer als der Zins ist, (gt+n > it+n ), kann eine Regierung ein Primärdefizit realisieren (At+n > Tt+n ) und die Schuldenstandsquote kann trotzdem konstant bleiben, also „nachhaltig“ sein.
  2. Liegt das zu erwartende Wachstum des nominalen BIP aber unterhalb des Zinses (gt+n< it+n), muss die Regierung einen Primärüberschuss realisieren (At+n < Tt+n). Hier unterscheidet der IWF zwischen zwei Fällen:
  3. Nicht nachhaltige Fiskalpolitik, aber nachhaltige Schuldenstandsquote: Zwar ist die momentane Fiskalpolitik nicht nachhaltig, sodass ein Primärdefizit zu einem Anstieg von d führen würde, aber eine ausreichende Sparpolitik, die ökonomisch und politisch realistisch ist, könnte den Primärsaldo wieder auf ein Niveau bringen, der kompatibel mit einer nicht-steigenden Schuldenquote ist.
  4. Nicht nachhaltige Fiskalpolitik und nicht nachhaltige Schuldenstandsquote: Wenn allerdings das Primärdefizit und die Schuldenstandsquote so hoch sind, dass es keinen realistischen Weg zur Anpassung der Fiskalpolitik gibt, entstünde ein „Solvenzproblem“, sodass die Schulden durch einen Schuldenschnitt oder Ähnliches reduziert werden müssten.

Bezieht man noch das Stock-Flow-Adjustment, SFA, mit in die Analyse ein, bedeutet ein positiver Wert der SFA, dass die Anpassung des Primärsaldos bei i > g für die Nachhaltigkeit der Staatsschulden größer sein müsste. Das wird natürlich besonders wichtig, wenn die Schulden durch eine staatliche Rekapitalisierung des Bankensektors erhöht werden. Vielfach haben sich die Schulden in Europa nach der Krise nicht durch hohe Primärdefizite erhöht, sondern durch die kreditfinanzierte Rekapitalisierung des Bankensystems, die zwar nicht defizit- aber schuldenstandwirksam wurden.14

Probleme der Schuldentragfähigkeitsanalyse für die Solvenzbestimmung von Staaten

Die Schuldentragfähigkeitsanalyse – die DSA – birgt große Probleme. Diese rühren daher, dass es von der DSA abhängt, ob ein Schuldenschnitt durchgeführt werden soll oder nicht. Weil die verschiedenen Größen der Schuldenstandsquote nicht unabhängig voneinander sind, kann die Abhängigkeit der Staatsfinanzierung von dieser Analyse zu einer selbst erfüllenden Erwartung eines Zahlungsausfalls führen, was die Wirtschaftsentwicklung möglicherweise massiv belastet.

Der IWF und andere Befürworter einer DSA als Kriterium für eine staatliche Insolvenz und der darauf folgenden Restrukturierung von Staatsschulden sehen Veränderungen der Zinsen für Staatsanleihen vor allem als abhängig von der Fiskalpolitik des Staates, also dem Primärsaldo, sowie vom Wachstum.15 In dieser Lesart kann ein Ansteigen der Zinssätze nur durch eine nachhaltige Fiskalpolitik vermieden werden. Solange die Fiskalpolitik „nachhaltig“ agiert, kann sie nicht zu Zinserhöhungen führen.

Aber es gibt auch den umgekehrten Effekt: Steigen Zinssätze aus Angst vor einer möglichen zukünftigen Zahlungsunfähigkeit des Staates – ohne dass diese in der Gegenwart vorliegen muss –, so führt das dazu, dass die Schulden allein wegen der Zinssteigerung weniger nachhaltig werden, und zwar aus zwei Gründen: Erstens erhöhen steigende Zinsen an sich die Zins-Wachstumsdifferenz und machen damit die Schulden weniger tragfähig im Sinne der DSA. Zweitens sind die Wachstumsraten des nominalen BIP auch abhängig von den Zinsen. Steigende Zinsen führen selbst über teurere Investitionen zu einem schwächeren Wachstum oder sogar einem Rückgang des nominalen BIP. Das erhöht weiter die Zins-Wachstumsdifferenz, und zudem auch den gesamten Ausdrucküber das im Nenner stehende nominale BIP-Wachstum hinaus.

Dazu kommen die Effekte einer „nachhaltigen“ Fiskalpolitik auf die Schuldenstandsquote. Der Schwenk von einem Primärdefizit zu einem Primärüberschuss durch Ausgabenkürzungen und Steuer- und Abgabenerhöhungen kann negative Folgen für das nominale Wachstum haben. Je größer der fiskalische Multiplikator ist, desto stärker sinkt das nominale Wachstum durch eine fiskalische Anpassung und kann im Extremfall den positiven Effekt von Überschüssen auf die Schuldenstandsquote überkompensieren.16 Dieser Effekt ist in den Empfehlungen des IWF zur fiskalischen Stabilisierung oft stark unterschätzt worden – wie der IWF selbst mehrfach eingestanden hat.17 Besonders wahrscheinlich ist eine solche Überkompensierung natürlich, wenn die fiskalische Anpassung bei gleichzeitigen Zinssteigerungen stattfindet, die das nominale BIP zusätzlich schwächen. Genau diese negativen Dynamiken haben wesentlich dazu geführt, dass etwa die griechische Staatsschuldenquote so stark gestiegen ist, obwohl die absoluten Schulden seit 2012 nahezu unverändert blieben. All diese Probleme entstehen, weil ein DSA zukunftsgerichtet ist, sodass Erwartungen genau über diese Zukunft schon eine wesentliche Rolle für die heutige Entwicklung haben.

Darüber hinaus kann es dazu kommen, dass Zinssätze für Staatsschulden steigen werden, wenn das Wachstum in einer Wirtschaftskrise nachlässt oder gar negativ wird. In der Finanzkrise ab 2008 hat sich in vielen Staaten die Schuldenlast erhöht, weil das BIP eingebrochen ist und die automatischen Stabilisatoren zu höheren Defiziten geführt haben. Dieser Mechanismus erhöht für sich allein schon die Schuldenstandsquote. Dazu kam noch die Refinanzierung von Banken durch staatliche Kredite, die zusätzlich die Schuldenstandsquote erhöht hat.

Antizipieren die Finanzmärkte nun, dass auch eine offizielle DSA als Teil eines Insolvenzverfahrens für Staaten feststellen wird, dass sich die Schuldenstandsquote durch eine Wirtschaftskrise längerfristig erhöht und damit ein Schuldenschnitt droht, werden sie wegen des Risikos eines Zahlungsausfalls rasch höhere Zinssätze von den Staaten verlangen – und damit die Schuldenstandsquote weiter nach oben treiben. Diese Zinssteigerung liegt aber nicht an der vermeintlich zu laschen Haushaltspolitik der Regierung, sondern an einer Wirtschaftskrise, auf die sie nur bedingt Einfluss hat. Durch die Zinssteigerungen haben Staaten dann kaum mehr eine Möglichkeit, eine antizyklische Fiskalpolitik zur Stützung der Konjunktur durchzuführen. Sie werden ganz im Gegenteil eine prozyklische Politik betreiben müssen und damit das Wachstum weiter schwächen, mit den entsprechenden negativen Folgen für die Beschäftigung.

Aber selbst wenn es all diese Probleme der Interaktion zwischen der DSA und der Wirtschaftsentwicklung nicht gäbe, wären die Ergebnisse einer DSA kein klares Kriterium für die Schuldentragfähigkeit. Denn die Prognosen der für eine DSA wesentlichen Größen Wachstum, Inflation und Zinsen sind sehr unsicher.18 Die meisten ökonomischen Prognosen enthalten für einen Prognosezeitraum von mehr als 18 Monaten kaum noch Informationen.19 Der Zeithorizont, für den eine Schuldentragfähigkeitsanalyse durchgeführt wird, ist aber in der Regel sehr viel länger.

Eine weitere Unsicherheit kommt dazu: Laut IWF hängt die Beurteilung der Schuldennachhaltigkeit davon ab, welcher zukünftige Pfad des Primärsaldos „ökonomisch“ und „politisch“ realistisch ist, d. h., wie viel Austerität ein Staat seinen Bürger auch politisch zumuten kann. Dies ist ein stark qualitatives Urteil, das noch einer sehr viel größeren Unsicherheit unterliegt als die reine ökonomische Prognose. Und natürlich korrelieren beide Prognosen: Je optimistischer die ökonomische Prognose, desto optimistischer ist auch die Prognose der ökonomischen und politischen Realisierungsmöglichkeit. Umgekehrtes gilt für pessimistische Prognosen. Ein solches höchst unsicheres Urteil über zukünftige politische Entwicklungen wird umso problematischer, wenn davon die Restrukturierung von Staatsschulden abhängt mit ihren schweren ökonomischen Folgen.

Darüber hinaus erfordert das Konzept der Schuldentragfähigkeit allein, dass die Schuldenstandsquote nicht steigen darf. Es ist allerdings vollkommen unklar, welches Anfangs- und Endniveau vorherrschen soll.20 Zwischenzeitlich ging die Hypothese von Reinhard und Rogoff21 herum, nach der das Wirtschaftswachstum ab einer Staatsschuldenquote von 90 % abnehmen würde. Einen ökonomischen Mechanismus, wie das möglich sei, haben die beiden Autoren nicht geliefert. Dieser Wert hat sich auch schnell als Ergebnis von schwerwiegenden Fehlern der Autoren herausgestellt.22 Auch steigen Zinssätze nicht ab einer bestimmten Höhe von Schulden.23

Insgesamt zeigt sich damit auch, dass die Schuldentragfähigkeit kein geeignetes Maß ist, um die Insolvenz eines Staates festzustellen und es als Kriterium für einen Schuldenschnitt anzuwenden.

Wann Staaten zahlungsunfähig werden

Staaten können zwar nicht im gleichen Sinn wie Unternehmen insolvent werden, weil weder das Eigenkapital noch die Schuldentragfähigkeit eine solche Insolvenz anzeigen können. Staaten können aber sehr wohl zahlungsunfähig, also illiquide werden, wenn sie nicht genug Zahlungsmittel zur Begleichung ihrer Zahlungsverpflichtungen haben. Ob ein Staat zahlungsunfähig wird, hängt aber nicht von der Höhe seiner Schulden relativ zum BIP ab, sondern von der Art der Finanzierung.

Dazu ist es sinnvoll, den Kreditbedarf des Staates in jeder Periode genauer zu betrachten. Dieser absolute – in Euro ausgedrückte – Bedarf ist:

Eine Komponente des Kreditbedarfs (f) ist das staatliche Defizit (Primärausgaben, Zinsdienst abzüglich der Einnahmen, also At + it Dt-1- Tt ). Dazu kommen noch die in der jeweiligen Periode auslaufenden Kredite, die durch neue Schulden getilgt werden, also Øt Dt. Dabei ist Øt-1 der Anteil der ausstehenden Schulden, die in der jeweiligen Periode t durch Neukredite getilgt werden müssen. Tatsächlich zahlt kein Staat seine Kredite vollkommen zurück, sodass die Gesamtschuld aus immer wieder neu – und zu neuen Konditionen – aufgenommenen Anleihen besteht.

Ein Staat ist illiquide, also zahlungsunfähig, wenn er nicht genug Geld hat bzw. rechtzeitig erhält, um seinen Schuldendienst in Höhe von (it + Ø) Dt-1 zu leisten. Da Staaten immer darauf angewiesen sind, ihre Kredite zu verlängern, würden selbst fiskalische Überschüsse einen Staat nicht gänzlich von den Finanzmärkten unabhängig machen. Sie sind damit in der Tendenz zu jeder Zeit auf die Finanzmärkte angewiesen. Jeder Staat kann damit im Prinzip zu jeder Zeit zahlungsunfähig werden.

Das ist der wesentliche Punkt: Da die Solvenz eines Staates nicht bestimmt werden kann, gibt es kein Kriterium dafür, wann ein Staat „fundamental“ zahlungsunfähig ist. Er ist faktisch dann zahlungsunfähig, wenn er seine ausstehenden Kredite nicht verlängern kann. Und das ist der Fall, wenn ihm Kreditgeber diese Verlängerung verweigern. Wie hoch die Schulden absolut oder im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung sind, spielt dabei keine Rolle – wenn nicht etwa wie im Euroraum geplant der Schuldenschnitt per Regulierung an einen bestimmten (erwarteten) Verlauf der Schuldenstandsquoten gebunden wird. Staaten haben damit ein ähnliches Risiko wie Banken, die auch regelmäßig – wenn auch in viel kürzeren Abständen – von der Refinanzierung der Einleger abhängig sind.24 Für Banken gibt es deswegen die Zentralbank, die im Notfall ausreichend Liquidität zur Verfügung stellt bzw. die Einlagensicherung, auf die sich die Bankanleger verlassen können.

Und wie zwischen den Einlegern der Banken,25 so gibt es auch zwischen den Gläubigern der Staaten ein Koordinierungsproblem:26 Fürchten einige Kreditgeber, dass andere Kreditgeber ihre Forderungen nicht verlängern werden, laufen sie Gefahr, auf ihre eigenen Forderungen verzichten zu müssen. So werden sie ihre Forderungen selbst nicht verlängern und ihr Geld zurückverlangen; weil das das Risiko der staatlichen Zahlungsunfähigkeit erhöht, werden auch andere Anleger das Gleiche tun, sodass sich die anfängliche Erwartung der staatlichen Zahlungsunfähigkeit erfüllt. Wie bei Banken, so können auch die Anleger bei Staatsanleihen in eine Rationalitätsfalle tappen, in der ihr individuell rationales Handeln kollektiv zu nicht intendierten Ergebnissen führt. Umgekehrt kann die Erwartung an einen Staat, er sei immer zahlungsfähig, dazu führen, dass niemand sein Geld zurückverlangt bzw. immer ausreichend viel refinanziert wird. Auch hier wird die Erwartung – nun positiv – selbsterfüllend. D. h., wie bei Banken, gibt es auch beim Staat verschiedene Gleichgewichte, die jeweils von den Erwartungen der Gläubiger abhängen.

Wesentlich dafür, welches Gleichgewicht eintritt, sind Institutionen. Bei Banken führt die Existenz der Einlagensicherung sowie der Zugriff auf die Zentralbank zur Liquiditätsversorgung dazu, dass Einleger in der Regel nicht um ihre Gelder fürchten und damit einen Run unterlassen. Weil schon die reine Existenz dieser Institutionen einen Erwartungsanker für die Gläubiger setzt, kommt es im Regelfall gar nicht dazu, dass die Liquiditätshilfen beansprucht werden. Da bei Banken das Eigenkapital auch ein sinnvolles Solvenzkriterium abgibt, ist es im Prinzip für die Kreditgeber letzter Instanz möglich, Insolvenz von Illiquidität zu unterscheiden und einer insolventen Bank keine weitere Liquidität bereitzustellen. Das ist aber bei Staaten wegen des fehlenden Solvenzkriteriums nicht möglich.

Wie bei Banken, sind auch bei Staaten Institutionen wesentlich dafür, ein negatives Gleichgewicht mit Zahlungsunfähigkeit auszuschließen, und zwar vor allem ein Kreditgeber letzter Instanz. In der Eurozone ist die Zentralbank formal als Kreditgeber letzter Instanz für Banken zuständig. Die gesamte Geldpolitik bestand bis zur Krise wesentlich im Verleih (und der simultanen Schaffung) von Zentralbankgeld an Geschäftsbanken. Die Staatsfinanzierung ist explizit durch die europäischen Verträge ausgeschlossen. Der Aufkauf von schon umlaufenden Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt im Rahmen des Quantitative Easing (QE) war deswegen eine stark umstrittene Intervention der EZB.27 Besonders vor der Ankündigung des OMT 2012 und dem QE-Programm waren die Staaten der Eurozone zur Refinanzierung vollkommen auf die privaten Finanzmärkte angewiesen, die wiederum durch das Fehlen eines Kreditgebers letzter Instanz für Staaten individuell vollkommen rational ihre Kredite nicht verlängert haben, wenn sie davon ausgehen mussten, dass es ein kollektiv schädliches Gleichgewicht geben könnte, das zur Zahlungsunfähigkeit von Staaten führen würde. So zeigen etwa De Grauwe et al.28 empirisch, dass die wesentlichen Bestimmungsgründe für die Zinsveränderungen von verschiedenen Industriestaaten nicht die Schuldenstandsquoten waren, sondern ob ein Land Mitglied des Euroraums ist. Mitgliedsländer können nicht darauf bauen, dass die Zentralbank ihnen in letzter Instanz (direkt oder indirekt) den notwendigen Finanzierungsbedarf sichert.

Ökonomische Volatilität

Damit haben sich die Mitglieder der Eurozone freiwillig in eine Situation begeben, in der normalerweise nur Entwicklungsländer sind, nämlich in einer Währung verschuldet zu sein, die sie selbst nicht kontrollieren können. So sind viele Entwicklungsländer in US-Dollar verschuldet. Das macht sie so abhängig von internationalen Gläubigern und dem IWF und führt immer wieder zu Finanzkrisen. Deswegen haben Eichengreen et al.29 solch eine Verschuldung in Fremdwährung auch als „Original Sin“, also als „Ursünde“ bezeichnet. Wer in einer Währung verschuldet ist, die er nicht kontrollieren kann, ist immer auf den guten Willen der Finanzmärkte angewiesen. Damit sind Länder, deren Staaten sich in einer Fremdwährung verschulden, auch sehr viel anfälliger für schwankende Zinssätze. Damit entwickeln sich ihre Wirtschaften sehr viel volatiler als in Ländern, die sich in eigener Währung verschulden können.30 Viele Entwicklungsländer mit Verschuldung in Fremdwährung haben aber einen Vorteil gegenüber Mitgliedern des Euroraums: Sie können ihre Währungen abwerten und über verbilligte Exporte Wirtschaftswachstum wiedererlangen (freilich oft zum Preis einer erhöhten Inflation). Die wirtschaftlichen und finanziellen Verwerfungen, die ein staatlicher Schuldenschnitt in diesen Ländern auslöst, können damit zumindest teilweise kompensiert werden. Weil die Mitglieder des Euroraums ihre Währung aber nicht abwerten können, steht ihnen diese kompensierende Option nicht zur Verfügung.

Ein implizites oder explizites Insolvenzregime für Staaten, das das vollkommen unsichere DSA-Verfahren anwendet, würde also die ökonomische Volatilität in Europa erhalten, die seit Beginn der Eurokrise zu beobachten ist, und vielleicht sogar erhöhen – so, wie es in vielen Entwicklungsländern mit der „Original Sin“-Problematik schon lange der Fall ist. Mit einem solchen „Insolvenzverfahren“ machen die Staaten aber explizit die Finanzmärkte zu Richtern über ihre Solvenz und damit auch ihrer Souveränität: Steigen die Zinssätze aus Angst der Finanzmärkte vor der staatlichen Zahlungsunfähigkeit, so steigt auch die Schuldenstandsquote, die „Tragfähigkeit“ der Staatsschulden nimmt ab, die Zinsen auf Staatsanleihen nehmen zu und damit auch der Druck, den ESM mit seinen harschen Auflagen um Hilfe zu bitten.

Eine Gruppe von Ökonomen hat geschrieben „sovereignty ends when solvency ends“31. Wenn es aber kein Solvenzkriterium für Staaten gibt, dann endet die Souveränität, wenn die Finanzmärkte es verlangen. Das kann keine Formel für die Zukunft des Euro sein. Auch ist zu befürchten, dass ein Insolvenzverfahren für Staaten die wirtschaftliche und politische Spaltung Europas aufrecht erhält oder sogar verschärft. Viele sehen Deutschland als den Zuchtmeister Europas. Vor allem die deutsche Regierung sowie die Bundesbank haben sich in der Eurokrise geweigert, die EZB durch Anleihenkäufe die Märkte für Staatsanleihen beruhigen zu lassen. Die Gegnerschaft der Deutschen gegen Anleihenkäufe ließe sich auch als bewusste Strategie zur Erzeugung von Unsicherheit und Spannung auf den Finanzmärkten interpretieren, um den Rest der Eurozone in die Umsetzung deutscher Vorstellungen guter Wirtschaftspolitik zu pressen.32 Dabei war Deutschland gleichzeitig ein Profiteur der Krise: Da deutsche Staatsanleihen im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staatsanleihen als ausfallsicher gelten, sanken deren Zinsen, was die deutsche Wirtschaft beflügelt und den Haushaltsausgleich durch einen stark verringerten Zinsdienst deutlich erleichtert hat.

Status quo ist vorzuziehen

Was wären Alternativen? Tatsächlich ist der Status quo im Euroraum einer Reform, zu der die Einführung eines Insolvenzregimes für Staaten gehört, vorzuziehen. Die Unabhängigkeit der EZB, das Verbot einer direkten Staatsfinanzierung und das EZB-Mandat, vor allem die Inflation zu stabilisieren, können einen guten Ausgangspunkt für die EZB als – indirekten – „Lender of Last Resort“ für Staaten geben.

Wesentlich für das hier entwickelte Argument war, dass die Volatilität der Zinssätze und damit der Wirtschaftsentwicklung zu großen Teilen von der Möglichkeit einer Staatspleite abhängen. Die EZB ist für die Erfüllung ihres in den Europäischen Verträgen festgehaltenen Mandats darauf angewiesen, dass der „Transmissionmechanismus“ der Geldpolitik wirkt: D. h., Änderungen der von ihr gesetzten kurzfristigen Zinssätze müssen zu gleichgerichteten Änderungen der langfristigen Zinssätze führen, die wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung – darunter auch die Inflation – sind. Weil die Zinssätze für Staatsanleihen und die darauf beruhenden Zinssätze für Privatkredite in der Krise kaum mehr auf die Veränderung der EZB-Leitzinsen reagiert haben, waren die EZB-Käufe von Staatsanleihen notwendig, um die langfristigen Zinsen zu beeinflussen und den Transmissionsmechanismus aufrechtzuerhalten.

In vielen Teilen des Euroraums haben die hohen Zinssätze die Wirtschaft massiv gebremst und damit zu einer deutlichen Unterschreitung des EZB-Inflationsziels geführt, dem mit den bisherigen Instrumenten der EZB nicht mehr beizukommen war. Die Deflationsgefahr – also der Verstoß gegen das Mandat der Preisstabilität – war das wesentliche Motiv für die Anleihenkäufe und damit dafür, dass die EZB die Rolle eines indirekten „Lender of Last Resort“ der Staaten übernommen hat. Ihre Unabhängigkeit, ihr Inflationsziel sowie das Verbot der direkten Staatsfinanzierung geben der EZB gleichzeitig die Möglichkeit, ihre Geldpolitik nicht in den Dienst der Regierungen zu stellen. Die EZB kann in Übereinstimmung mit ihrem Mandat ihre Anleihenkäufe einstellen oder Anleihen verkaufen, wenn die Preisänderungsrate das Inflationsziel zu überschießen droht. Auch dürfen sich Staaten nicht darauf verlassen können, direkt von der EZB finanziert zu werden. Somit werden mögliche Fehlanreize vermieden, ohne dass die Staaten gleich zu Opfern der Finanzmärkte werden müssen. D. h., die Zinssätze für Staatsanleihen sollen durchaus schwanken dürfen. Aber sie dürfen es nicht in einem Maße, das die Wirtschaft in einen Zustand der Dauerkrise führt.

Regeln zur Begrenzung der Schulden sind dabei sinnvoll, um einen gemeinsamen Rahmen des Wirtschaftens in der Europäischen Währungsunion abzustecken – auch wenn die bestehenden Regeln deutlich verbessert werden könnten, etwa, indem man die Kreditaufnahme für öffentliche Investitionen explizit erlaubt.33 Allerdings darf ihre Befolgung nicht – wie die Einführung eines Insolvenzregimes es tun würde – mit dauernder Drohung der Staatsinsolvenz durchgesetzt werden. Geboten wäre also, dass Staaten wie in anderen großen Währungsräumen faktisch von der Zahlungsunfähigkeit durch die Intervention der Zentralbanken ausgenommen werden. Die Alternative einer starken ökonomischen Volatilität droht schon jetzt, den Euroraum nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch zu zerreißen.

  • 1 Eurogroup: Term sheet on the European Stability Mechanism reform, Dezember 2018, https://www.consilium.europa.eu/media/37267/esm-term-sheet-041218_final_clean.pdf (11.2.2019).
  • 2 International Monetary Fund: Modernizing the Framework vor Fiscal Policy and Public Debt Sustainability, 2011.
  • 3 C. Wyplosz: Debt Sustainability Assessment: Mission Impossible, in: Review of Economics and Institutions, 2. Jg. (2011), H. 3, S. 2-37; N. Roubini: Debt Sustainability: How to Assess Whether a Country is Insolvent, New York 2001.
  • 4 B. Eichengreen, R. Haussmann, U. Panizza: The Pain of Original Sin, in: B. Eichengreen, R. Haussmann (Hrsg.): Other People‘s Money, Chicago 2006, S. 13-47.
  • 5 C. Rohde: Insolvenzen: Auslese von Grenzanbietern?, in: Wirtschaftsdienst, 57. Jg. (1977), H. 12, S. 626-630.
  • 6 J. Schmidt: Von der Staatsverschuldung zum Staatsbankrott?, in: Wirtschaftsdienst, 94. Jg. (2014), H. 9, S. 671-679.
  • 7 Ebenda.
  • 8 K. J. Mitchener, M. D. Weidenmier: Supersanctions and Sovereign Debt Repayment, in: Journal of International Money and Finance, 29. Jg. (2010), H. 1, S. 19-36; J. Darwin: After Tamerlane, London 2008.
  • 9 A. Krueger: A New Approach to Sovereign Debt Restructuring, Washington D.C. 2002.
  • 10 K. Armingeon, K. Guthmann, D. Weisstanner: How the Euro divides the union: the effect of economic adjustment on support for democracy in Europe, in: Socio-Economic Review, 14. Jg. (2016), H. 1, S. 1-26.
  • 11 N. Kowall: Globalisierung, Freihandel und Rechtspopulismus, in: ifo Schnelldienst, 70 Jg. (2017), H. 12, S. 16-21.
  • 12 Der Staat hat viele ausstehende Schuldenpapiere mit unterschiedlichen Laufzeiten. Der Zins ist damit ein Durchschnittszins, den der Staat auf verschiedene Anleihen zahlt.
  • 13 International Monetary Fund: Modernizing the Framework vor Fiscal Policy and Public Debt Sustainability, a. a. O., S. 6.
  • 14 International Monetary Fund: From Banking to Sovereign Stress: Implications for Public Debt, Staff Report, 2015.
  • 15 A. Alesina, M. De Broeck, A. Prati, G. Tabellini: Default Risk on Government Debt in OECD Countries, in: Economic Policy, 7. Jg. (1992), H. 15, S. 427-463.
  • 16 S. Gechert, K. Rietzler: Ist Austerität der richtige Weg?, in: Ökonomenstimme, Februar 2013, http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2013/02/ist-austeritaet-der-richtige-weg/ (11.2.2019).
  • 17 International Monetary Fund: Fiscal Adjustment in IMF-supported Programs, Washington D.C. 2003; O. Blanchard, D. Leigh: Growth Forecast Errors and Fiscal Multipliers, IMF Working Paper, Nr. 13/1, 2013.
  • 18 C. Wyplosz, a. a. O.
  • 19 G. Isiklar, K. Lahiri: How far ahead can we forecast? Evidence from Cross-Country Surveys, in: International Journal of Forecasting, 23. Jg. (2007), H. 2, S. 167-187.
  • 20 C. Wyplosz, a. a. O.
  • 21 C. Reinhart, K. Rogoff: Growth in a Time of Debt, in: American Economic Review: Papers & Proceedings, 100. Jg. (2010), H. 2, S. 573-578.
  • 22 T. Herndon, M. Ash, R. Pollin: Does High Public Debt Consistently Stifle Economic Growth? A Critique of Reinhart and Rogoff, in: Cambridge Journal of Economics, 38. Jg. (2013), H. 2, S. 257-279.
  • 23 S. Dell‘Erba, R. Hausmann, U. Panizza: Debt Levels, debt Composition, and Sovereign Spreads in Emerging and Advanced Economies, in: Oxford Review of Economic Policy, 29. Jg. (2013), H. 3, S. 518-547.
  • 24 W. Buiter, E. Rahbari: The European Central Bank as Lender of Last Resort for Sovereigns in the Eurozone, in: Journal of Common Market Studies, 50. Jg. (2012), H. 1, S. 6-35.
  • 25 P. Diamond, P. H. Dybvig: Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity, in: The Journal of Political Economy, 91. Jg. (1983), H. 3, S. 401-419.
  • 26 P. De Grauwe: The Governance of a Fragile Eurozone, in: Australian Economic Review, 45. Jg. (2012), H. 3, S. 255-268.
  • 27 A. Winkler: Zehn Jahre nach dem Konkurs von Lehman Brothers, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 19. Jg. (2018), H. 2, S. 141-162.
  • 28 P. De Grauwe, a. a. O.; P. De Grauwe, Y. Ji: Self-fullling crises in the Eurozone: An empirical test, in: Journal of International Money & Finance, 34. Jg. (2013), S. 15-36.
  • 29 B. Eichengreen, R. Haussmann, U. Panizza: Currency Mismatches, Debt Intolerance, and the Original Sin: Why They Are Not the Same and Why It Matters, in: Capital Controls and Capital Flows in Emerging Economies: Policies, Practices and Consequences, NBER, 2007, S. 121-164.
  • 30 Ebenda.
  • 31 H. Enderlein, P. Bofinger, L. Boone, P. de Grauwe, J.-C. Piris, J. Pisani-Ferry, M. J. Rodrigues, A. Sapir, A. Vitorino: Completing the Euro. A road map towards fiscal union in Europe / Note Europe, Forschungsbericht, 2012.
  • 32 A. Tooze: Crashed: How a Decade of Financial Crises Changed the World, London 2018, S. 382.
  • 33 A. Truger: Reviving fiscal policy in Europe: towards an implementation of the golden rule of public investment, in: European Journal of Economics and Economic Policies: Intervention, 13. Jg. (2016), H. 1, S. 57-71.

Title:Insolvency Regime for States: A Dangerous Path for the Euro Area

Abstract:The Eurozone finance ministers have proposed an insolvency regime for states. The European Stability Mechanism shall only provide credit assistance when states’ debt sustainability is assured. Otherwise, government debt has to be cut. But because debt sustainability is a systematically unclear criterion for insolvency, government default risk is permanently increased for Eurozone members. This increases interest rates and stifles growth and employment. To avoid a further economic and political destabilization of the euro area, the European Central Bank has to become an indirect lender of last resort for states. A critical view of government insolvency does not mean, however, that rules to curb government debt are unnecessary, but that the current rules have to be improved upon.

Beitrag als PDF

DOI: 10.1007/s10273-019-2407-y

Fachinformationen über EconBiz

EconBiz unterstützt Sie bei der Recherche wirtschaftswissenschaftlicher Fachinformationen.