Wie in vielen anderen Weltregionen soll der halbjährliche Wechsel zwischen Winter- und Sommerzeit in der EU abgeschafft werden. Dieser Beitrag untersucht, ob es eine optimale Zeitzone für ein Land gibt und ob ein „Zeitzonenflickenteppich“ tatsächlich mit hohen ökonomischen Kosten einhergeht. Die Zeitmessung ist ein rein nominales Konstrukt und Veränderungen sollten deshalb langfristig ohne spürbare Folgen bleiben. Von praktischer Relevanz ist allein die Sonnenscheindauer.
Mit einer Befragung der europäischen Bürger wollte die EU-Kommission der Debatte um die Abschaffung oder Beibehaltung der Zeitumstellung ein Ende bereiten. Trotz einer denkwürdig niedrigen Partizipationsrate wird das Ergebnis als basisdemokratisches Votum gewertet,1 nach dem das halbjährliche Uhrenumstellen nun das Zeitliche segnen soll. Die Entscheidung der Europäer liegt dabei auch voll im globalen Zeitgeist, jüngstens schafften Russland und die Türkei die Sommerzeit ab, die allermeisten asiatischen Länder, unter ihnen China, Südkorea und Japan, verzichten schon lange auf sie. Zur diesjährigen Umstellung auf die Sommerzeit in den USA am 10. März befürwortete auch Präsident Trump das Aus für die Zeitumstellung und entsprechend die dauerhafte Einführung der Sommerzeit. Die Zeiten ändern sich eben.
Diese Angelegenheit taugte freilich nicht zum echten Politikum, zöge sie nicht weitreichende Konsequenzen nach sich: Beinahe mustergültig für das Kompetenzgerangel zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedstaaten ist nämlich erstere für die Terminierung der Zeitumstellung verantwortlich, während letztere die Zeitzonen auswählen, in denen sie leben wollen. So gibt es drei europäische Zeitzonen, die seit 1996 dank der EU im wahrsten Wortsinne synchron zwischen Sommer- und Normalzeit wechseln. Auf Vorschlag des Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker sollten die Uhren im März 2019 ein letztes Mal verpflichtend auf Sommerzeit umgestellt werden. Auf Druck der Mitgliedstaaten wurde die Abschaffung aber auf frühestens 2021 verschoben.2 Länder, die dauerhaft in der Sommerzeit bleiben möchten, würden einfach eine Standardzeitzone ostwärts wandern.3 Kommt Zeit, kommt Rat, und so rät die EU-Kommission den Mitgliedstaaten, sich zu koordinieren, um einen Flickenteppich an Zeitzonen zu vermeiden. Doch dieser Rat kommt regelrecht zur Unzeit: Aus 16 Mitgliedstaaten hagelt es bereits Kritik an diesem unkoordinierten Ablauf. Schließlich werden auch Präferenzunterschiede deutlich, so wollen etwa die Niederlande und Dänemark die Normalzeit, während Polen vehement für die Sommerzeit eintritt.4
Die Frage nach der Zeit ist seit jeher ein Politikum
Bekannt ist in diesem Zusammenhang das Beispiel Spaniens: Geografisch betrachtet läge das Land in einer Zeitzone mit dem benachbarten Portugal oder den britischen Inseln, doch anders als in London stellen Touristen in Madrid fest, dass dort die Mitteleuropäische Zeit (MEZ) gilt. Dies geht zurück auf den Diktator Francisco Franco, der nach dem Sieg im Spanischen Bürgerkrieg aus Verbundenheit zu Hitlerdeutschland die Berlin-Zeit einführte. Seitdem gibt es neben der räumlichen auch eine zeitliche Trennung zwischen den zu Spanien gehörenden kanarischen Inseln und dem Mutterland. Offensichtlich heilt die Zeit aber doch nicht alle Wunden, denn die Folgen sind heute noch deutlich spürbar: Weil in beiden Ländern die MEZ gilt, liegen zwischen dem Sonnenaufgang im Osten Polens und dem im Westen Spaniens 90 Minuten. Seit Jahren wird deshalb in Spanien die Rückkehr zur „richtigen“ Zeit debattiert, um die Sonnen- an die Uhrzeit anzugleichen. Dafür werden vielfältige Gründe angeführt, beispielsweise dass das Familienleben unter der aktuellen Zeit leide.5
Zeitzonen, Sommerzeit und ihre Kosten
Ursprünglich war die Sommerzeit während des ersten Weltkriegs im deutschen Kaiserreich eingeführt worden, um den Verbrauch des knappen Energieträgers Kohle zu reduzieren. Mit ähnlichem Ansinnen kamen die Wiedereinführungen während des zweiten Weltkriegs und später in den 1970er Jahren, um auf die Ölpreisschocks zu reagieren. Heute gehen Forscher davon aus, dass der Effekt der Energiekostensenkung – wenn überhaupt – allenfalls marginal vorhanden ist.6 Gleichzeitig sehen Mediziner enorme psychische Kosten darin, zweimal jährlich den menschlichen Biorhythmus an die Umstellung zu gewöhnen. Hierbei handele es sich um sogenannte „Mini-Jetlags“, die die innere Uhr des Menschen störten. Diese psychischen Kosten sind individuell unterschiedlich und schwer zu quantifizieren. Dadurch entziehen sie sich gewissermaßen einer ökonomischen Bewertung. Uns ist deshalb daran gelegen, im Lichte der aktuellen Ereignisse nicht die regelmäßigen Zeitumstellungen zu bewerten, sondern lieber die Kardinalfrage zu adressieren, welche die optimale Zeit eines Landes ist.
Ökonomen beschäftigten sich mit den Auswirkungen von Zeitzonendifferenzen, oftmals mit Blick auf den internationalen Handel. Diejenigen, die einen Flickenteppich an Zeitzonen vermeiden wollen, bedienen sich einer Argumentation, nach der Zeitdifferenzen ähnlich wie Sprachgrenzen, geografische Distanz oder kulturelle Unterschiede den Handel erschweren. Sollten in Deutschland die Uhren plötzlich anders gehen als in den Niederlanden, führte dies dazu, dass Bürozeiten in Berlin und Amsterdam auseinanderfielen. Das wiederum verkomplizierte geschäftliche Telefonate und in der Folge handelten Firmen weniger miteinander. Die Literatur spricht hierbei von einem Synchronisations-Effekt, der für den Handel förderlich ist. Die Außenhandelsforscher Peter Egger und Mario Larch fanden anhand von Zeitzonenunterschieden zwischen US-Bundesstaaten und kanadischen Provinzen heraus, dass Zeitzonendifferenzen mit durchschnittlich 11 % weniger Handel einhergehen.7 Sollte diese Zahl zutreffen, deren Berechnung sich allerdings auf Daten aus einer Zeit stützt, in der der Informationsaustausch tatsächlich noch mehr an Telefonaten als an E-Mails hing, käme ein Zeitzonenflickenteppich in Europa einer Katastrophe gleich: Den Extremfall angenommen, Deutschland hätte eine andere Zeitzone als alle seine neun direkten Nachbarländer, bedeutete dies einen Rückgang des Handels um 105 Mrd. Euro.8
Andere Forscher hingegen verweisen darauf, dass Zeitzonendifferenzen insbesondere beim Handel von Dienstleistungen gedeihlich sein können.9 Gerade aufgrund unterschiedlicher Bürozeiten und dank der Möglichkeiten moderner Informationstechnik (IT) kann rund um die Uhr an ein und derselben Sache gearbeitet werden. Man bezeichnet dies als Kontinuitäts-Effekt: Große Unternehmensberatungen lassen beispielsweise Dokumente über Nacht in Asien vorbereiten, bearbeiten diese in Europa weiter und übersenden sie am Feierabend nach Nordamerika. IT-Dienstleister, Ingenieurbüros, Verlage, Grafiker und viele weitere verfahren ähnlich. Bei der Frage, welcher der beiden Effekte wirkmächtiger ist, scheint sich die Sicht durchzusetzen, dass Zeitzonenunterschiede per Saldo eher schädlich sind, weil der Güterhandel (aktuell noch) erheblich bedeutsamer ist als der Dienstleistungshandel.10
Uhrzeit als nominales Konstrukt
Zeitzonenunterschiede müssen aber nicht zwingend zu auseinanderfallenden Bürozeiten führen: Xetra, die wichtigste deutsche Börsenhandelsplattform öffnet täglich um 9 Uhr; ebenso wie die Börsen in Amsterdam, Madrid, Mailand oder Paris. Der Londoner Börse hingegen eröffnet bereits um 8 Uhr lokaler Zeit. Das bedeutet, dass trotz unterschiedlicher Zeitzonen der Handelsbeginn effektiv zur selben Zeit stattfindet. Die Early Birds auf der Insel! Den Spaniern hingegen wird oft und gern und nicht ohne etwas Überheblichkeit vorgeworfen, morgens lange zu schlafen und abends lieber Sangria und Tapas bis spät in die Nacht zu genießen. Bei näherer Betrachtung stellt man allerdings fest, dass sich das Leben der Spanier nur augenscheinlich von unserem unterscheidet; während deutsche Kinder ab 8 Uhr die Schulbank drücken, starten spanische Kinder um 9 Uhr. Geht der gemeine Deutsche zwischen 12 und 13 Uhr Mittag essen, machen dies die Spanier eine Stunde später etc. Die Spanier haben also ihre Lebensweise nicht Francos Uhr angepasst, sondern sie leben einfach so weiter, als ob sie in ihrer „richtigen“ Zeitzone geblieben wären. Auf eine Formel gebracht: Sonne schlägt Franco.
Zeitverschiebung extrem
Nach dieser Logik stellt sich die Frage, ob es denn überhaupt eine „falsche“ Zeitzone geben kann. Ökonomen nehmen gerne extreme Betrachtungen vor, weil dadurch Sachverhalte oftmals klarer werden. Stellen wir uns also einmal gedanklich vor, Deutschland führte die Zeit Tokios (MEZ+8, aber nur im Winter, die Japaner stellen ja nicht um) ein; instinktiv würde man meinen, dass die Folgen verheerend wären. Nun gäbe es aber zwei mögliche Extremszenarien, darauf zu reagieren: Wir leben entweder weiter strikt nach unserer gewohnten Uhr, schicken unsere Kinder um 8 Uhr zur Schule, gehen um 12 Uhr zum Mittagessen und schauen um 20 Uhr die Tagesschau. Die Folgen wären in der Tat verheerend, weil der Biorhythmus durch das Tageslicht geprägt wird und dieser dann überhaupt nicht mehr zu unserem Tagesablauf passte. Die innere Uhr streikte. Eine andere Möglichkeit wäre, wir änderten unsere Gewohnheiten überhaupt nicht, schickten unsere Kinder weiterhin zur gleichen Sonnenzeit zur Schule und akzeptierten einfach, dass die Uhr dies als 16 Uhr ausweist. Unser Mittagessen fände dann um 20 Uhr statt, und Jan Hofer grüßte um 4 Uhr zur Tagesschau. Es ist eindeutig, was die bessere Alternative ist. Alle, die dies verneinen, müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie nicht den Menschen, sondern die Uhr in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rücken.
Nominale und reale Größen
Im Grunde wäre die Einführung der japanischen Zeit eine reine Umrechnung (alles +8) und nichts anderes als die Umstellung von D-Mark auf Euro. Seit jeher unterscheiden Ökonomen bei solchen Zusammenhängen nominale von realen Größen. Adam Smith stellte fest, dass nominale Güterpreise (also das, was auf dem Preisschild steht) nichts anderes als reine Recheneinheiten sind. Dies wurde schon allein durch die damals übliche Vielzahl an Währungen offensichtlich. Davon verschieden sind hingegen reale Preise, in seiner Theorie die hinter der Erzeugung eines Gutes stehende Anstrengung (englisch: toil and trouble). Ob wir nun in Euro oder D-Mark rechnen ist absolut irrelevant, sobald man die reale Arbeits- und Maschinenleistung hinter der Güterproduktion betrachtet. Und genauso verhält es sich mit der Uhr: Es gibt viele Möglichkeiten, Stunden zu zählen ohne das 24-Stunden-System zu verlassen: Nach der babylonischen Zählweise beginnt die erste Stunde des Tages mit dem Sonnenaufgang.11 Angeblich wird so in manchen äquatornahen Gegenden Afrikas noch immer gezählt, was auch nur dort Sinn macht, weil die Sonnenaufgangszeit am Äquator kaum variiert. Nach der Regel des Heiligen Benedikt von Nursia sind es die gemeinsamen Stundengebete, ursprünglich acht an der Zahl, die den Tagesablauf im Kloster gleichmäßig strukturierten. Bei Tagesanbruch wird die Laudes gebetet, zur ersten Stunde, die wie bei den Babyloniern mit dem Sonnenaufgang zusammenfällt. Dass Schulstunden 45 Minuten dauern und zwei solcher Stunden zwei Viertelstunden übrig lassen, die wir an Universitäten als akademische Viertel bezeichnen, haben ihre Ursprünge in der Dreistundentaktung des klösterlichen Lebens.12 Historische italienische Stunden hingegen, die bis in das 17. Jahrhundert auch in Böhmen, Schlesien und Polen verwendet wurden, beginnen mit der Zählung der ersten Stunde bei Eintritt der Dunkelheit.13 Ob diese Form der Zeitrechnung auch Rückschlüsse über die gesellschaftliche Prioritätensetzung der Italiener zulässt? Andere Zeiten, andere Sitten!
Trotz dieser nominellen Unterschiede gibt es wie bei Adam Smith einen realen Anker, auf den sich alles bezieht. Hier ist es die Sonnenuhrzeit. Diese bestimmt letztlich unseren Tagesablauf, ganz gleich, ob wir dies als „1 Uhr“, „6 Uhr“ oder „13 Uhr“ bezeichnen. Es lohnt sich sogar darüber nachzudenken, ob nicht am besten alle Länder die Weltuhrzeit (UTC), also die Greenwich-Normalzeit, verwenden sollten. Dann ersparten wir uns das mühsame Umrechnen zwischen Zeitzonen und die daraus resultierenden Missverständnisse. Ein weiterer Vorteil wäre, dass jeder Zeitpunkt unter Nennung von Datum und UTC-Uhrzeit eindeutig beschrieben und global gültig ist. Aktuell bedarf es dafür die Nennung von Datum, Uhrzeit und Zeitzone. Der internationale Flugverkehr funktioniert schon lange auf diese Weise, die 29 Armeen der NATO ebenso. Zeitzonen global ganz abzuschaffen ist aber wohl noch Zukunftsmusik.
Gibt es eine Zeitinflation?
Die Euro-Umstellung war ihrerseits begleitet vom Vorwurf, dass sich mit ihr nicht nur die nominalen, sondern auch die realen Preise verändert hätten. Auch wenn dies durch Inflationsdaten nicht gedeckt ist, war und ist das Gefühl weit verbreitet. Dies mag auch mit einem Effekt zu tun haben, den Verhaltensökonomen als Geldwertillusion (und Psychologen als selektive Wahrnehmung) bezeichnen: Eine Lohnsteigerung von nominal 5 % wird so wahrgenommen, als betrüge sie auch real 5 %. Dabei wird die Preissteigerung der Güter einfach ausgeblendet. Liegt sie bei 2 %, steigt der Lohn real ja lediglich um etwa 3 %. Nach einer gewissen (Lern-)Zeit wird die Illusion allerdings als solche von den Marktteilnehmern entlarvt und löst sich damit auf. Viele volkswirtschaftliche Modelle beruhen auf der Annahme, dass es solche nominellen Rigiditäten zumindest kurzfristig gibt. Die nordamerikanische Sprache ist bekanntlich reich an Essens-Allegorien und so verweisen Ökonomen zur Begründung dieser Rigiditäten auf sogenannte „Menü-Kosten“: Weil es für den Restaurantbesitzer mit Kosten verbunden ist, ständig neue Menükarten zu drucken, um auch nur kleinste Preisanpassungen abzubilden, wird er damit immer etwas warten und nur von Zeit zu Zeit ein neues Menü auslegen. Je länger dies dauert, desto länger sind 5 % nominaler Lohnzuwachs auch real 5 %. Bei der Euro-Einführung betrachteten viele wohl nur die nominelle Halbierung ihrer Einkünfte und ließen die preisseitigen Effekte gedanklich unberücksichtigt.
Analog dazu könnte man jetzt die Überlegung anstellen, ob nicht auch die Zeit ähnlich dem Geld beliebig vermehrt werden kann: Wir könnten beispielsweise die Zahl der Stunden auf 25 erhöhen. Wenn dies schleichend geschieht und dies niemand so richtig durchblickt, wären folgende realen Effekte denkbar: Weil jede Arbeitsstunde dann etwa zweieinhalb Minuten kürzer ist, würden die Leute vielleicht etwas schneller arbeiten und sich noch mehr abmühen, um die Produktion pro Stunde konstant zu halten – sie wissen ja nicht, dass die Stunde kürzer wurde. Der Blick auf die Uhr würde permanent Stress erzeugen, weil die nächste Stunde schneller heranrückt als gewohnt. Nach acht (kürzeren) Stunden Arbeit geht man schließlich nach Hause und stellt fest, dass noch 17 statt bisher 16 Stunden übrig sind, ehe die Arbeit erneut beginnt. Nun erzeugt der Blick auf die Uhr aber weniger Stress; dass die Stunden in der Freizeit immer etwas schneller voranschreiten, ist man ohnehin gewohnt. Nach dieser Logik hätte die Zeitinflation eine Stunde Freizeit geschaffen. Chapeau! Was natürlich jedem auffällt: Die Zahl der Stunden kann nominal zwar beliebig aufgebläht werden, aber die reale Tageslänge entzieht sich unserer Steuerung, weil sie durch die Erdrotation bestimmt wird. Diese 25-Stunden-Fiktion wäre deshalb auch nicht lange aufrechtzuerhalten – sie wäre, wenn überhaupt, ein temporäres Phänomen. Nach einer gewissen Umgewöhnung wäre alles letztlich wieder beim Alten, genauso wie eine Aufblähung der nominalen Geldmenge nicht den dahinterstehenden Reichtum erhöht. Die Geldwertillusion ist übrigens auch unter Ökonomen umstritten: Der Wirtschaftsnobelpreisträger James Tobin kommentierte sie 1972 pointiert mit den Worten, ein Ökonom könne kein größeres Verbrechen begehen, als in seinen Modellen Geldwertillusion anzunehmen.
Das Gedankenexperiment der Zeitinflation mag indes bizarr anmuten, ist aber nicht bizarr genug, als dass es die Menschheitsgeschichte nicht schon praktisch umgesetzt hätte: In Mesopotamien war der Tag in zwölf Doppelstunden („Danna“) eingeteilt. Jahrhunderte später, dann unter hellenistischem Einfluss, geschah die große Inflation: Die Zahl der Stunden wurde einfach verdoppelt, ihre Dauer also halbiert.14 Die Griechen konnten Inflation eben schon vor Erfindung des Buchgeldes. Vielleicht war man angesichts ausbleibender realer Effekte aber derart enttäuscht, dass man von weiteren Feldversuchen absah. Jedenfalls kam es seit Christi Geburt zu keiner nennenswerten Inflation mehr, man blieb bei den von den Griechen geschaffenen 24 Stunden. Eine zeitweilige Ausnahme stellt der Französische Revolutionskalender dar, der eine Woche in zehn Tage zu je zehn Stunden zu je 100 Minuten unterteilte.15 Nach der Kaiserkrönung Napoleons wurde an seiner statt aber wieder auf den gewöhnlichen gregorianischen Kalender umgestellt.
Die Privatisierung der Zeit
Selbstredend ist für obiges Beispiel mit der japanischen Zeit neben diesen sogenannten Randlösungen (totale Umstellung der Lebensgewohnheiten oder totale Umstellung der nominalen Uhrzeiten) auch jede innere Lösung zulässig; damit meint man, dass von beiden Anpassungsmöglichkeiten ein bisschen etwas geschieht. Bei der jährlichen Umstellung auf die Sommerzeit ist es übrigens so gewollt, dass allein der Mensch sich anpasst und nicht die Uhrzeiten. Sommer wie Winter gehen die Kinder zur gleichen Uhrzeit in die Schule, Fahrpläne von Bus und Bahn ändern sich nominell ebenfalls nicht und die Börse öffnet weiterhin um 9 Uhr. Um es mit den Worten des römischen Dichters Ovid zu sagen: Tempora mutantur, et nos mutamur in illis – die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen.
Eine Präferenz für die Sommerzeit ist folglich Ausdruck dessen, dass viele Menschen gerne früher aufstehen wollen, um nach der Arbeit noch mehr vom Tageslicht zu haben; aber dies ist auch vollkommen unabhängig von einer regelmäßigen Zeitumstellung oder einem Zeitzonenwechsel darstellbar: In Berufen, in denen die Angestellten flexible Arbeitszeiten wählen können, kann jeder letztlich in seiner „eigenen“ Zeitzone leben und diese beliebig wechseln – quasi die Privatisierung der Zeit! Handwerker machen dies schon heute häufig vor. Und ohne die Zeit umzustellen, könnten wir als Gesellschaft auch entscheiden, unsere Kinder im Sommer einfach eine Stunde früher in die Schule zu schicken und um 8 Uhr die Börse öffnen zu lassen. Schon heute haben manche Geschäfte unterschiedliche Öffnungszeiten im Sommer und Winter, viele Kirchen stellen ihre Gottesdienstzeiten um – zumindest nominell, denn wenn die Abendmesse statt um 18 Uhr im Winter, um 19 Uhr im Sommer stattfindet, hat sich effektiv gar nichts geändert. Gottes Mühlen mahlen nicht nur langsam, sondern offenbar auch zeitlos.
Wie das Beispiel Spaniens eindrucksvoll zeigt, ist es langfristig vermutlich irrelevant, was die nominelle Zeitrechnung besagt. Es ist anzunehmen, dass die sich am Sonnenlicht orientierenden Lebensgewohnheiten den Tagesablauf viel mehr bestimmen als irgendeine künstliche Zeitmessung. Entschiede sich Deutschland für einen Wechsel in die osteuropäische Zeitzone (also permanente Sommerzeit), dauerte es nicht lange und ehern gesetzte Zeiten über Schulbeginn, Starts und Landungen an Flughäfen oder den Beginn der Tagesschau müssten eventuell neu diskutiert werden, um den tatsächlichen Lebensgewohnheiten der Menschen Rechnung zu tragen. Somit zeigt sich, dass auch noch so leidenschaftlich geführte Debatten über die „richtige“ Zeit effektiv folgenlos bleiben dürften. Im Übrigen dürfte die Abwesenheit langfristiger Anpassungen der Lebensgewohnheiten wohl auch der Grund dafür sein, dass die ursprünglich angeführten Energiespargründe empirischen Überprüfungen häufig nicht standhalten.16
Leidet die Wirtschaft wirklich?
Obschon die Wahl der Zeitzone irrelevant ist, wie hier versucht wurde zu zeigen, gilt es dann nicht trotzdem, den Flickenteppich an Zeitzonen in Europa zu vermeiden? So warnte etwa die Tagesschau vor einem „Zeitzonen-Chaos in Europa“17. Die Antwort ist simpel: Nein, auch unterschiedliche Zeitzonen würden langfristig keinen Einfluss haben: Die Spanier leben zwar in unserer Zeitzone, haben aber dennoch andere Bürozeiten, weil sie sich der Sonne anpassen. Umgekehrt könnten die Italiener, die bekanntlich auf ähnlichen Längengraden wie wir leben, die Winterzeit einführen und wir die Sommerzeit und trotzdem würde sich nichts ändern. Geht man nämlich davon aus, dass die Menschen in Italien und in Deutschland aktuell zur gleichen Sonnenuhrzeit (oder gemessen in UTC) in ihre Büros gehen – und nur unter dieser Annahme greift das Argument überhaupt – stünde bei Italienern künftig bei Arbeitsbeginn eben eine Stunde weniger als bei den Deutschen auf der Uhr. Effektiv ist es also wieder egal. Somit ist auch der Zeitzonenflickenteppich folgenlos, wenn die Gesellschaft nominale Anpassungen wie im Beispiel Spaniens zulässt. Und wenn wir ohnehin davon ausgehen, dass die Deutschen früher als die Italiener zu arbeiten beginnen, haben wir schon jetzt und trotz gleicher Zeitzonen einen „realen“ Flickenteppich. Den gibt es übrigens auch innerhalb Deutschlands: Sachsen-Anhalt, das selbsternannte „Land der Frühaufsteher“, wirbt damit, einen Neun-Minuten-Vorsprung gegenüber dem Rest der Republik zu haben, weil seine Bewohner statistisch betrachtet etwas früher als die restlichen Bundesbürger aufstehen.18
Eine eindeutige Mehrheit in Deutschland präferierte in der EU-Volksbefragung übrigens die Sommerzeit; vielleicht würden die Deutschen eben doch gern ein bisschen so werden wie die Spanier: morgens vermeintlich länger ausschlafen und Riesling und Mettbrötchen bis spät in die Nacht genießen. Aber sie sollten sich nicht täuschen: Die Sonne schlägt nicht nur Franco, sie lässt sich gewiss auch nicht von den Deutschen austricksen. Und so bleibt seit Kohelet der zeitlose aber tröstliche Befund: Alles hat seine Zeit.
- 1 In Summe stimmten 4,6 Mio. Europäer ab, was weniger als 1 % der Bevölkerung entspricht. Von diesen sprachen sich 84 % für die Abschaffung der Zeitumstellung aus.
- 2 O. V.: Zeitumstellung endet frühestens 2021, Zeit online vom 3.12.2018, https://www.zeit.de/wissen/2018-12/zeitumstellung-sommerzeit-winterzeit-eu-abschaffung-norbert-hofer (18.2.2019).
- 3 European Commission: Fact Sheet, State of the Union 2018: Q&A on the Commission‘s proposal to put an end to seasonal clock changes, Strassburg, 12.9.2018, http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-18-5641_en.htm (15.10.2018).
- 4 Ende der Zeitumstellung wird fraglicher, in: NTV vom 9.10.2018, https://www.n-tv.de/politik/Ende-der-Zeitumstellung-wird-fraglicher-article20662447.html (2.4.2019).
- 5 O. V.: Spain Considers a New Time Zone, in: Time and Date vom 14.12.2018 https://www.timeanddate.com/news/time/spain-time-zone-new.html (27.3.2019).
- 6 Vgl. N. Rivers: Does daylight savings time save energy? Evidence from Ontario, in: Environmental and Resource Economics, 70. Jg. (2018), H. 2, S. 517-543.
- 7 Dies ist der mittlere Effekt. Vgl. P. H. Egger, M. Larch: Time zone differences as trade barriers, in: Economics Letters, 119. Jg. (2013), H. 2, S. 172-175.
- 8 Laut der COMEXT-Datenbank lagen die Aus- und Einfuhren in jene Länder im Jahr 2017 bei 477 Mrd. bzw. 481 Mrd. Euro.
- 9 Vgl. B. Dettmer: International service transactions: Is time a trade barrier in a connected world?, in: International Economic Journal, 28. Jg. (2014), H. 2, S. 225-254.
- 10 R. Tomasik: Time zone-related continuity and synchronization effects on bilateral trade flows, in: Review of World Economics, 149. Jg. (2013), H. 2, S. 321-342.
- 11 Vgl. O. Neugebauer: A history of ancient mathematical history, Berlin 1975.
- 12 Vgl. L. O. Lumma: Liturgie im Rhythmus des Tages. Eine kurze Einführung in Geschichte und Praxis des Stundengebets, Regensburg 2011.
- 13 Vgl. G. Dohrn van Rossum: Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München 1992.
- 14 O. Neugebauer, a. a. O.
- 15 Der französische Revolutionskalender, http://web.archive.org/web/20051226203432/http://www.kalendersysteme.de/deutsch/kalender/systeme/kalender_20.html (21.10.2018).
- 16 Vgl. R. Kellogg, H. Wolff: Daylight time and energy: Evidence from an Australian experiment, in: Journal of Environmental Economics and Management, 56. Jg. (2008), H. 3, S. 207-220.
- 17 K. Bensch: Droht ein Zeitzonen-Chaos in Europa?, Tagesschau vom 14.9.2018, https://www.tagesschau.de/ausland/zeitumstellung-europa-103.html (17.10.2018).
- 18 C. Richter: Des frühen Aufstehens müde, in: Deutschlandfunk Kultur vom 30.10.2018, https://www.deutschlandfunkkultur.de/umstrittenes-motto-von-sachsen-anhalt-des-fruehen.1001.de.html?dram:article_id=335484 (27.3.2019).