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Die nationalen Parlamentswahlen in Italien haben politisch ein eindeutiges Ergebnis: Die von Giorgia Meloni angeführte Rechtskoalition konnte sowohl in der Abgeordnetenkammer als auch im Senat eine deutliche absolute Mehrheit der Sitze erzielen. Italienische Wahlergebnisse erfahren in Europa regelmäßig eine große Aufmerksamkeit. Angesichts der Größe des Landes, der schlechten Wachstumsperformance und der nach Griechenland höchsten Staatsschuldenquote gilt die Ausrichtung der italienischen Wirtschaftspolitik auch als eine Determinante der Stabilität der Eurozone. Aus Perspektive der EZB besteht die Sorge, dass das Land durch die derzeit unvermeidbare Straffung der Geldpolitik in eine Schuldenkrise geraten könnte, wenn zu den höheren Zinsen auch noch eine populistische Wirtschaftspolitik käme. Zudem ist dieses Wahlergebnis auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil das Land zuletzt echte Reformchancen hatte. Die Zuflüsse der EU-Corona-Hilfen von fast 200 Mrd. Euro in Kombination mit einem von der Regierung Mario Draghis konzipierten Reformprogramm hatten ein Reformfenster weit aufgestoßen, wie es das in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben hat.

Fakt ist, dass die Gelder aus Next Generation EU (NGEU) kurzfristig weiter fließen, weil die Vorbedingungen erfüllt sind, die noch von der alten Regierung geschaffen worden waren. Weniger als 24 Stunden nach der Wahl hat Italien dann auch die zweite Tranche der NGEU-Mittel im Volumen von 21 Mrd. Euro erhalten. Weniger klar ist, ob das Programm auch in Zukunft friktionslos weiterlaufen kann. Das Wahlprogramm Melonis weicht in substanziellen Punkten von den eingeleiteten Reformen ab, die aber zur Geschäftsgrundlage des italienischen Aufbau- und Resilienzplans gehören, auf dessen Basis die NGEU-Transfers dem Land zugesagt wurden. Hier könnte dem Land ökonomisch ein doppelter Rückschlag drohen, der Verlust von EU-Mitteln und ein Rückfall in den Reformstau und die Klientelwirtschaft. Diese Risiken werden deutlich, wenn man die drohenden Diskontinuitäten zwischen der Wirtschafts- und Reformpolitik durch den Machtwechsel von Draghi zu Meloni analysiert.

Die Regierung Draghi hatte den Weg für Veränderungen geebnet, um einige der seit langem bekannten Wachstumsbremsen zu beseitigen. Das Reformpaket soll die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung vorantreiben. Hier ist etwa die Einrichtung einer E-Vergabeplattform bis Ende 2023 geplant, auf der öffentliche Auftraggeber ihre Angebote veröffentlichen können, um so die Transparenz in der Vergabe- und Ausführungsphase eines öffentlichen Auftrags zu erhöhen. Weitere bedeutsame Vorhaben betreffen das bislang unzureichende Rechtssystem und die Wettbewerbsordnung. So zielen die eingeleiteten Reformen darauf ab, die langen Verzögerungen bei Zivilprozessen zu verringern. Ein neues Gesetzbuch für öffentliche Beschaffung soll Anfang 2023 vorliegen. Eine Novelle des Wettbewerbsgesetzes soll bislang geschützte Sektoren für den Wettbewerb öffnen. Diese letzte Reform ist eine der Bedingungen, die das Land erfüllen muss, um Ende des Jahres die dritte Tranche der NGEU-Zahlungen zu erhalten.

Kontrastiert man diesen Reformfahrplan der alten Regierung mit den programmatischen Aussagen Melonis im Wahlkampf, dann drohen tatsächlich substanzielle Rückschläge und ein Konflikt mit der EU-Kommission über die Einhaltung der Vertragsgrundlage für die weiteren EU-Transfers. Meloni hat angekündigt, dass sie den italienischen Aufbau- und Resilienzplan neu verhandeln will. Besondere Konflikte sind bei der Wettbewerbsreform und der fiskalischen Flankierung des Reformprogramms zu erwarten. Ein illustratives Beispiel in der Wettbewerbspolitik betrifft die derzeit noch geplante Liberalisierung des Marktes für Strandlizenzen. Die hochprofitablen Strandlizenzen erlauben den Begünstigten, Strände mit Eintrittsgeldern zu bewirtschaften. Hier plante die Regierung Draghi eine Vergabe über Auktionen, was zwei der drei neuen Koalitionäre ablehnen. Sie wollen die derzeitigen Besitzstände mit der oft automatischen Lizenzverlängerung beibehalten, obwohl die EU-Kommission bereits vor zwei Jahren dazu ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Die Strandlizenzen stehen beispielhaft für zweifelhafte Privilegien zum Schaden der Verbraucher:innen und der wirtschaftlichen Dynamik. Aber auch ökonomisch wesentlich bedeutsamere Felder sind vom absehbaren Konflikt um die Anwendung von EU-Wettbewerbsrecht betroffen. So plante die Draghi-Regierung auch eine stärker wettbewerbs- und innovationsorientierte Vergabe von Lizenzen in der Gasversorgungsbranche; auch hier ist unklar, ob die neue Regierung an diesem Vorhaben festhalten will.

Ein weiteres Konfliktfeld mit der EU-Kommission resultiert aus den Versprechen der Rechtskoalition, durch eine Flat-Tax-Reform massive Steuersenkungen vorzunehmen. Zwar ist der Stabilitätspakt derzeit ausgesetzt und die Kommission im derzeitigen Krisenumfeld besonders nachsichtig. Umfangreiche Steuerausfälle würden aber die fiskalische Absicherung des Draghi-Reformpakets gefährden. So soll der italienische Gesundheitssektor, der in der Pandemie so stark gefordert war, von NGEU-Mitteln besonders profitieren. Wenn hohe Steuerausfälle dem italienischen Staat aber die Möglichkeit nehmen, Eigenmittel in die Modernisierung des Gesundheitssystems zu investieren, würden die NGEU-Mittel letztlich zweckentfremdet. Sie würden im Grunde indirekt genutzt, um in Italien Einkommensteuersenkungen zu finanzieren.

Ein Rückfall in den Reformstau, hohe Steuerausfälle und dadurch stark steigende Defizite würden nicht nur zum Konflikt mit der Kommission führen, sondern auch die EZB in eine schwierige Lage bringen. Zur Eindämmung der deutlich gestiegenen Inflationserwartungen muss die EZB ihren Zinserhöhungskurs aller Voraussicht nach bis weit ins nächste Jahr fortsetzen. Um der Gefahr einer neuen Euro-Schuldenkrise zu begegnen, hat sie das Transmission Protection Instrument (TPI) konzipiert. Dieses soll zur Anwendung kommen, wenn Spreads in der Eurozone über ein Niveau steigen, das fundamental gerechtfertigt ist. Die Vorbedingungen für den Einsatz von TPI sind sehr weich formuliert. So darf ein vom TPI begünstigtes Land nicht gegen den Stabilitätspakt verstoßen. Diese Bedingungen würde die Regierung Meloni sogar bei einer aggressiven Defizitpolitik im nächsten Jahr allerdings immer erfüllen, weil der Pakt ausgesetzt ist. Auch hat sich die EZB bislang nie festgelegt, was sie eigentlich unter „fundamental gerechtfertigten“ Spreads versteht. Im Grunde verdeutlicht das italienische Wahlergebnis die Problematik von TPI und das damit verbundene Dilemma der EZB. Das Instrument kann als Einladung verstanden werden, Parteien mit unrealistischen Wahlversprechen zu wählen, weil auch diese sich Hoffnung auf den EZB-Schutz vor der Marktdisziplin machen können. Verweigert die EZB diesen Schutz anschließend, würde sie immer mehr zu einer politischen Wächterinstanz, wofür sie keine Legitimation hat.

Letztlich ist zu hoffen, dass die neue italienische Regierung sich bald der Realität stellt. Hier bietet die Konditionalität von NGEU der EU-Kommission immerhin einen Hebel. Die dritte zum Jahresende geplante NGEU-Tranche ist an die Erfüllung von 55 Zielen geknüpft, dazu gehört eben auch die Vervollständigung des Wettbewerbsgesetzes. Die anstehenden Personalentscheidungen für wichtige Ministerämter und der anstehende Haushaltsentwurf für 2023 wird zeigen, wohin die Reise geht. Wenn die Flat-Tax im Budgetentwurf nicht vorkommt, wäre das ein erstes Indiz dafür, dass die Meloni-Regierung das Reformfenster nicht völlig schließen wird. Gelingt es, Italien auf Reformkurs zu halten, wäre das nicht nur ein Erfolg für die EU-Governance, sondern noch vielmehr für das Land selber.

 

© Der/die Autor:in 2022

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DOI: 10.1007/s10273-022-3286-1