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In der Diskussion über städtische Luftverschmutzung und Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen besteht ein Mangel an evidenzbasierten Argumenten, was die Debatte immer wieder blockiert. Bei der Bewertung von Grenzwerten bzw. angedachten Maßnahmen wie Tempolimits sollten kausale Wirkungszusammenhänge differenziert betrachtet und kommuniziert werden. Darüber hinaus sollten weitere gesellschaftlich relevante Dimensionen wie Arbeitsproduktivität und Bildungserfolg, die bislang vernachlässigt wurden, stärker Eingang in die Debatte finden.

In der aktuellen verkehrspolitischen Debatte zur innerstädtischen Schadstoffbelastung durch Stickoxide und Feinstaub sowie zu Tempolimits auf Autobahnen werden zwischen den Befürwortern einer Maßnahme und deren Gegnern Argumente ausgetauscht, die in vielen Fällen einen evidenzbasierten, also auf Daten und nachweisbaren Fakten beruhenden Beleg schuldig bleiben. Dies führt zu einer Verhärtung der Fronten und ist der politischen Debatte nicht zuträglich. Um die Luftverschmutzung in Städten zu reduzieren, wurde zunächst hauptsächlich über die Wahl geeigneter Politik­instrumente wie Fahrverbote oder eine City-Maut diskutiert, inzwischen dominiert jedoch eine Grundsatzdebatte über die Angemessenheit der Grenzwerte die Schlagzeilen.1 Die einen pochen darauf, dass die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Grenzwerte eingehalten werden2 und sehen deren Legitimation durch die Ergebnisse epidemiologischer Langzeitstudien gestärkt.3 Die anderen, darunter eine kleine Gruppe an Lungenfachärzten, sehen keine wissenschaftliche Begründung für die geltenden Grenzwerte und fordern, die den EU-Richtlinien zugrundeliegenden Studien neu zu bewerten. Für ein Tempolimit auf Autobahnen führen die Befürworter neben positiven Umweltwirkungen geringere Unfallzahlen an, während Kritiker das CO2-Einsparpotenzial als gering erachten und einen Zusammenhang zwischen allgemeiner Geschwindigkeitsbegrenzung und Verkehrssicherheit anzweifeln.

Debattenübergreifend fallen zwei Aspekte besonders auf:

  1. Es wird versäumt, der Öffentlichkeit zu erklären, wie empirische Evidenz zur Beantwortung der Fragestellungen zustande kommt, insbesondere wie sich ein kausaler Zusammenhang zwischen einer geplanten Maßnahme (z. B. Tempolimit) und einer Ergebnisgröße (z. B. Unfallzahlen) stichhaltig identifizieren lässt. Daraus folgt, dass sich die vertretenen Positionen auch ohne Verweis auf kausale Evidenz festigen lassen und es der Öffentlichkeit schwerfällt, die verschiedenen Positionen sinnvoll zu bewerten. Dabei wäre eine sorgsame Kommunikation und Interpretation wissenschaftlicher Ergebnisse ebenso wie die Kenntnisnahme ihrer Grenzen essenziell für eine ergebnisoffene Diskussion.
  2. Die bisweilen sehr aufgeladene Debatte ist auf wenige Dimensionen verkürzt und erschwert es, gesellschaftliche Kosten und Nutzen von Maßnahmen umfassend abzuwägen und zu bewerten. So konzentriert sich die Diskussion über Schadstoffbelastung ausschließlich darauf, wie sie sich auf Krankheitshäufigkeit und Sterblichkeit auswirkt, wohingegen Folgen für die körperliche und kognitive Leistungsfähigkeit sowie den Bildungserfolg nicht berücksichtigt werden.

Kausale Zusammenhänge sorgsam betrachten

Allgemein gilt, dass eine Politikmaßnahme evidenzbasiert, d. h. ihre Wirksamkeit nachweisbar sein sollte. Im verkehrspolitischen Diskurs fällt auf, dass dem Verweis auf die zugrundeliegende empirische Evidenz häufig nicht die erforderliche Sorgfalt beigemessen wird. Der kausale Nachweis ist oft nicht leicht zu erbringen, denn ein beobachteter Zusammenhang zwischen zwei Variablen muss nicht kausal sein, sondern kann auch durch andere Faktoren hervorgerufen werden. Während Korrelation einen bloßen Zusammenhang zwischen zwei Variablen beschreibt, erlaubt Kausalität eine ursächliche Zuschreibung. In der Debatte zum Einfluss lokaler Luftverschmutzung auf die Gesundheit werden z. B. manchmal Personengruppen verglichen, die ungleich nah an verkehrsreichen Straßen wohnen und einem unterschiedlichen Niveau an lokaler Luftverschmutzung ausgesetzt sind. Ein Unterschied in deren Gesundheitszustand wird nun rasch der Schadstoffbelastung zugeschrieben. Doch liegt es nahe, dass sich beide Gruppen systematisch voneinander unterscheiden. Da die Luftqualität Haus- und Mietpreise beeinflusst, wählen einkommensschwächere Haushalte eher günstigere Wohnungen in der Nähe von verkehrsreichen Straßen und sind einem höheren Niveau an lokaler Luftverschmutzung ausgesetzt.4 Zudem hat das Einkommen selbst direkt einen Einfluss auf den Gesundheitszustand, da sich einkommensstärkere Haushalte einen gesünderen Lebensstil leisten können und möglicherweise besser über Gesundheitsrisiken informiert sind.5 Der Effekt der höheren Schadstoffbelastung lässt sich also nicht klar von den Effekten anderer Faktoren, die ebenfalls die Gesundheit beeinflussen, trennen. Das impliziert natürlich nicht, dass eine verkehrsbedingte Schadstoffbelastung keinerlei Einfluss auf die Gesundheit hat, doch erlaubt dieser einfache Vergleich noch keine kausale Aussage.

Um die Auswirkung einer Belastung oder einer Maßnahme auf eine Ergebnisgröße klar identifizieren zu können, sollte idealerweise eine Person einmal ohne und einmal mit Belastung beobachtet werden. Im Beispiel würde man dieselbe Person gern in zwei Wohnsituationen studieren, einmal nah an einer verkehrsreichen Straße, ein anderes Mal in einer verkehrsberuhigten Zone. Das ist natürlich nicht möglich. Einer der beiden Zustände bleibt immer kontrafaktisch und nicht beobachtbar. Dennoch wurde ein wissenschaftliches Instrumentarium entwickelt, das es in bestimmten Situationen erlaubt, kausale Beziehungen zu identifizieren.6 Die Grundidee der verschiedenen ökonometrischen Methoden zur Evaluierung kausaler Effekte besteht darin, zwei Gruppen miteinander zu vergleichen, die sich nur darin unterscheiden, wie stark sie lokaler Schadstoffbelastung ausgesetzt sind (exogene Variation). Die Gruppenzuteilung muss dabei unabhängig von allen Faktoren sein, die mit der interessierenden Ergebnisgröße zusammenhängen. Man benutzt also eine anderweitig identische Gruppe, die keiner Schadstoffbelastung ausgesetzt ist (Kontrollgruppe), um die kontrafaktische Situation der Gruppe mit Schadstoffbelastung (Interventionsgruppe) abzubilden. Vergleicht man die Ergebnisgröße zwischen diesen Gruppen, kann die Differenz in der Ergebnisgröße ursächlich der unterschiedlichen Belastung zugeschrieben werden.

Doch wie lassen sich solche statistisch identischen Gruppen identifizieren? In der medizinischen Forschung sind kontrollierte Experimente üblich, bei denen Individuen zufällig in eine Kontrollgruppe und eine Interventionsgruppe eingeteilt werden (Randomisierung). Die zufällige Zuteilung stellt bei ausreichend großer Gruppengröße sicher, dass Unterschiede zwischen den Gruppen nicht systematisch sind, d. h., dass sich Teilnehmende nicht aufgrund gewisser Charakteristika, insbesondere solcher, die mit der Ergebnisgröße in Verbindung stehen, in eine der beiden Gruppen selektiert haben. Auch die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung bedient sich seit einiger Zeit der experimentellen Methode. Während eine zufällige Einteilung im Labor möglich ist, ist dies in der realen Welt häufig aus rechtlichen, ethischen oder schlicht praktischen Gründen nicht machbar. Das gilt insbesondere bei Fragestellungen zu Gesundheitswirkungen von Luftschadstoffen. Doch auch mit nicht-experimentellen Daten kann eine zufällige Gruppenzuteilung gelingen. In der ökonomischen Literatur finden sich einige Studien, die kurzfristige Änderungen in den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen oder eine natürlich erzeugte Variation des Niveaus lokaler Luftschadstoffe (z. B. durch Wetter oder Windrichtung) nutzen, um kausale Effekte auf die menschliche Gesundheit zu untersuchen.

Empirische Befunde zur Luftverschmutzung

Im Folgenden werden einige wichtige Befunde zusammenfassend dargestellt.7 Zu beachten ist, dass in den angeführten Studien nicht immer notwendigerweise verkehrsbedingte Luftverschmutzung untersucht wird. Allerdings handelt es sich bei den untersuchten Schadstoffen um Stoffe, die auch durch Verkehr verursacht werden. Die Studien decken für unterschiedliche Schadstoffe und Personengruppen, insbesondere Säuglinge und ältere Menschen, einen kausalen Zusammenhang zwischen Schadstoffbelastung und erhöhter Sterblichkeit sowie Atemwegs- und Herzerkrankungen auf. Einschlägige Studien liegen vor für NOx,8 PM9 und CO.10 So wird beispielsweise gezeigt, dass die Reduktion in der Konzentration von Feinstaub von bis zu 2,5 μg um 3,65 μg/m3 von 1999 bis 2011 in den USA zum Gewinn von 150 000 Lebensjahren pro Jahr unter den über 65-Jährigen führte.11

Während sich die bisher genannte Evidenz auf relativ kurze Zeiträume bezieht, konnten für Feinstaub auch die Effekte langfristiger Belastung nachgewiesen werden.12 Die entsprechende Studie wird nachfolgend etwas detaillierter beschrieben, um exemplarisch aufzuzeigen, wie sich kausale Effekte außerhalb des Labors identifizieren lassen. Die Autoren nutzen die historische Tatsache, dass ein von der chinesischen Regierung von 1950 bis 1980 aufgelegtes Programm für kostenlose Brennkohle nur Haushalten in bestimmten geografischen Regionen Chinas zugutekam. Aufgrund eingeschränkter finanzieller Mittel für das Programm wurde der Huai-Fluss zu einer zufälligen Grenze, sodass Menschen nördlich des Flusses kostenlos Kohle erhielten, südlich des Flusses jedoch nicht. Gleichzeitig schränkte das Registrierungssystem „hukou“ die Mobilität zwischen Nord und Süd stark ein, sodass niemand in die bevorzugte Behandlung wechseln konnte. Da die Verbrennung von Kohle zu einem hohen Ausstoß an lokalen Luftschadstoffen führt, waren die beiden Gruppen lange Zeit unterschiedlich starken Schadstoffbelastungen ausgesetzt. Die Konzentration von Feinstaub und Schwebstoffen lag im Norden um 55 % über den Messwerten im Süden. Gemäß der Studie haben die 500 Mio. Bewohner im Norden Chinas dadurch in den 1990er Jahren insgesamt 2,5 Mrd. Lebensjahre, also fünf Lebensjahre pro Person, verloren. Auch für Deutschland gibt es erste empirische Evidenz für den kausalen Zusammenhang zwischen Luftschadstoffen und Gesundheit. Dabei wird die direkt durch das Verkehrsaufkommen verursachte Variation lokaler Luftverschmutzung genutzt, um deren kausalen Gesundheitseffekt zu bestimmen. Die betrachtete Variation wurde durch 71 eintägige Streiks im öffentlichen Nahverkehr in Berlin, Hamburg, München, Köln und Frankfurt zwischen 2002 und 2011 ausgelöst: Aufgrund des höheren Aufkommens an mobilisiertem Individualverkehr stieg die Feinstaub-Konzentration (PM10) an Tagen, an denen im öffentlichen Personennahverkehr gestreikt wurde, um 14 %, die Stickstoffdioxidemissionen um 4 %.13 An diesen Tagen sind die Krankenhausaufenthalte von Kindern aufgrund von Atemwegserkrankungen bzw. akuter Atemprobleme um 11 % bzw. 34 % angestiegen. Der Effekt auf andere Altersgruppen ist hingegen gering. Insgesamt lässt sich festhalten, dass es viele Studien gibt, die kausale Effekte von Luftverschmutzung mithilfe quasi-experimenteller Daten überzeugend identifizieren.

Empirische Befunde zur Wirkung von Tempolimits

In der Debatte um Tempolimits und Verkehrssicherheit, gemessen an der Zahl der Verkehrsunfälle und Unfalltoten, fehlen hingegen sowohl der wissenschaftliche Nachweis kausaler Zusammenhänge14 als auch eine Klärung, wie solche Zusammenhänge überhaupt identifiziert werden können. Manche Automobilverbände begründen ihre Zweifel am Zusammenhang zwischen allgemeiner Geschwindigkeitsbeschränkung und Verkehrssicherheit mit Verweis auf Länder, in denen ein Tempolimit besteht (z. B. Belgien, Österreich, USA), die Verkehrssicherheit aber nicht höher (oder sogar niedriger) sei als in Deutschland. Solche internationalen Vergleiche sind irreführend, da sich andere Länder hinsichtlich einer Vielzahl an Faktoren, die einen direkten Einfluss auf die Verkehrssicherheit haben, von Deutschland unterscheiden können. Die Zahl der Verkehrsunfälle hängt z. B. von der Qualität der Fahrausbildung und -erfahrung sowie den Straßen- und Wetterbedingungen im jeweiligen Land ab. Außerdem spielt die modell- und altersmäßige Zusammensetzung der Fahrzeugflotte eine Rolle. Kleinwagen schützen möglicherweise weniger stark vor tödlichen Unfällen als ein Oberklassefahrzeug. Ohne die Berücksichtigung nationaler Unterschiede ist der Vergleich von Ländern mit und ohne Tempolimit nicht kausal interpretierbar. Ebenso ist der innerdeutsche Vergleich von Streckenabschnitten mit und ohne Tempobeschränkung nicht zielführend, da die bestehenden Tempolimits, die aktuell ungefähr 30 % aller Autobahnkilometer umfassen, dort eingeführt wurden, wo sich in der Vergangenheit bereits viele Unfälle ereignet haben. Unterscheiden sich jedoch die verglichenen Abschnitte hinsichtlich ihres inhärenten Unfallrisikos systematisch voneinander, eignen sie sich nicht für einen kontrafaktischen Vergleich. Auch bei Vorher-Nachher-Vergleichen bestimmter Streckenabschnitte, auf denen ein Tempolimit eingeführt wurde, sollte man Sorgfalt walten lassen. Die Reduktion von Unfällen lässt sich nicht ausschließlich auf das eingeführte Tempolimit zurückführen, wenn die Wahrscheinlichkeit für Unfälle durch andere Faktoren ebenfalls gesenkt wurde, z. B. durch einen Rückgang des Verkehrs auf der Strecke oder durch verkehrsorganisatorische Maßnahmen wie Umleitungen oder Baustellen.15

Um den kausalen Effekt eines Tempolimits auf die Verkehrssicherheit identifizieren zu könnten, müsste im Rahmen eines randomisierten Feldexperiments eine hinreichend große Zahl an zufällig ausgewählten Streckenabschnitten auf Autobahnen über einen längeren Zeitraum (bestenfalls ein ganzes Jahr, um für witterungsbedingte Effekte aller Jahreszeiten kontrollieren zu können) einem temporären Tempolimit unterworfen werden. Um die optimale Höhe des Tempolimits bestimmen zu können, sollten die eingeführten Geschwindigkeitsbeschränkungen variieren (z. B. 100, 120 und 140 km/h). Der Vergleich der regulierten Streckenabschnitte (Interventionsgruppe) mit den nicht regulierten Abschnitten (Kontrollgruppe) lässt unter der Annahme, dass die Entwicklung der Verkehrssicherheit in beiden Gruppen ohne Intervention vergleichbar gewesen wäre, kausale Rückschlüsse zu. Eine solche Studie wäre mit relativ niedrigem finanziellen Aufwand umsetzbar.

Weniger einfach gestaltet sich die Identifikation kausaler Effekte im Hinblick auf das durch ein Tempolimit zu erwartende CO2-Einsparpotenzial: Modellrechnungen auf Basis des Zusammenhangs zwischen Geschwindigkeit und Kraftstoffverbrauch lassen für eine bestimmte Fahrzeugflotte recht genaue Prognosen zum CO2-Einsparpotenzial zu, beruhen jedoch auf einer ungewissen Annahme darüber, wie viele Verkehrsteilnehmer sich an das Tempolimit halten. Dies könnte ein feldexperimenteller Ansatz umgehen, der sich jedoch aufgrund der Schwierigkeit, den genauen Verbrauch aller betroffenen Fahrzeuge zu beobachten, auch in Zukunft kaum umsetzen lassen wird.

Gesellschaftlich relevante Indikatoren einbeziehen

Neben der mangelnden Sorgfalt bei der Interpretation und Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse greift die aktuelle verkehrspolitische Diskussion auch thematisch vielfach zu kurz. Die Diskussion über lokale Luftverschmutzung konzentriert sich bisher auf deren Einfluss auf Erkrankungen und Sterblichkeit, die Debatte über Tempolimits dreht sich nahezu ausschließlich um das CO2-Einsparpotenzial und die Verkehrssicherheit. Dies verkennt die Bedeutung weiterer, ökonomisch relevanter Dimensionen. In den vergangenen Jahren stellten mehrere Studien einen negativen kausalen Zusammenhang zwischen Luftverschmutzung (Feinstaub und/oder Ozon) und individueller Leistungsfähigkeit fest. Ein solcher Zusammenhang wurde bei Erntehelfern16 oder Fabrikarbeitern,17 Call-Center-Mitarbeitern18 sowie bei Profi-Fußballspielern in der deutschen Bundesliga19 und Profi-Schiedsrichtern der amerikanischen Baseball-Liga20 nachgewiesen. Die Studien kommen einhellig zu dem Schluss, dass die körperliche bzw. geistige Leistungsfähigkeit und damit die Produktivität an Tagen bzw. in Stunden mit hoher lokaler Luftverschmutzung statistisch signifikant zurückgeht.

Des Weiteren schlägt sich Luftverschmutzung schon bei geringer Belastung negativ in Bildungsergebnissen nieder. So erzielten Schüler in Israel an Tagen mit hoher Feinstaubbelastung in Abschlussprüfungen signifikant schlechtere Test­ergebnisse.21 Noch bemerkenswerter ist die Tatsache, dass sich die höhere Luftverschmutzung an den Prüfungstagen sogar langfristig negativ im späteren Arbeitseinkommen der Schüler bemerkbar machte. Negative Effekte auf Bildungserfolg sind insbesondere auch bei langfristiger Belastung zu verzeichnen, z. B. wenn die Luftqualität an Schulen aufgrund der Nähe zu einer Autobahn oder einer vielbefahrenen Straße über einen längeren Zeitraum hinweg schlecht ist.22 Das Ergebnis ist von zentraler Bedeutung, da der schulische Bildungserfolg den Grundstein für die späteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt und für das Arbeitseinkommen legt. Darüber hinaus ist das Ergebnis für Entwicklungen der sozialen Mobilität und Einkommensungleichheit relevant: Sofern Kinder aus einkommensschwächeren Haushalten höheren Belastungen ausgesetzt sind, weil sie z. B. in Vierteln wohnen oder zur Schule gehen, in denen die Luftverschmutzung tendenziell höher ist, wird soziale Mobilität erschwert und langfristige Lohnungleichheit verstärkt.23 Diese Effekte sind bereits für Werte, die teilweise deutlich unter den aktuellen Grenzwerten liegen, nachweisbar. Entsprechende ökonomische Verluste aus verringerter Produktivität und geringerem Bildungserfolg sind also möglicherweise weitreichend und sollten in der Grenzwertdebatte dringend berücksichtigt werden.24

Im Fall von Geschwindigkeitsbegrenzungen sollte sich eine umfassende Analyse nicht einseitig auf CO2-Reduktion und Verkehrssicherheit konzentrieren, sondern die Gesamtheit der damit verbundenen privaten und gesellschaftlichen Kosten und Nutzen berücksichtigen. Gelingt dies, lässt sich eine für die Gesellschaft optimale Geschwindigkeit bestimmen, die als Obergrenze festgeschrieben werden sollte. Kraftstoffkosten stellen private Kosten dar, während die durch eine höhere erlaubte Geschwindigkeit gewonnene Zeitersparnis einen privaten Nutzen abbildet. Die Kosten von Unfällen sind den privaten oder gesellschaftlichen Kosten zuzurechnen. Auf Seiten der gesellschaftlichen Kosten fallen weitere durch das verursachende Individuum nicht wahrgenommene, aber auf andere übertragene (externe) Kosten an, z. B. durch lokale Luftverschmutzung, Lärm oder CO2-Emissionen. In diesem Kontext nutzt die vorliegende quasi-experimentelle Studie die durch die partielle Anhebung des allgemeinen Tempolimits auf einigen, relativ zufällig ausgewählten Streckenabschnitten im Westen der USA in den 1980er und 1990er Jahren erzeugte Variation an erlaubten Höchstgeschwindigkeiten.25 Für den untersuchten zeitlichen und geografischen Raum kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass die optimale Geschwindigkeit bei etwas unter 55 Meilen pro Stunde (etwa 89 km/h) liegt und die Anhebung auf 65 Meilen pro Stunde (105 km/h) unter Berücksichtigung aller privaten und gesellschaftlichen Effekte größere Kosten als Nutzen verursachte und somit nicht optimal war. Da sich Kosten und Nutzen länderspezifisch unterscheiden können, ist das Ergebnis jedoch nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragbar.

Evidenzbasierung erfordert eine genaue Zielfunktion und aktuelle Daten

Die aktuelle öffentliche Debatte um Grenzwerte und Tempolimits bleibt in vielen Fällen einen evidenzbasierten Beleg schuldig. Eine sorgsamere und differenziertere Ausein­andersetzung mit kausalen Wirkungszusammenhängen ist notwendig. Die folgenden Punkte sind wichtig, um in Zukunft empirische Studien mit einer klaren Identifikation kausaler Effekte durchführen zu können:

  1. Die aktuelle Datenverfügbarkeit reicht für eine sorgsame wissenschaftliche Analyse oft nicht aus. Daher ist es dringend nötig, Daten in besserer Qualität und höherer Quantität zusammenzutragen und der Forschung zur Verfügung zu stellen. So wäre es hilfreich, Luftverschmutzungsdaten nicht nur an ausgewählten Standorten in einer Stadt zu sammeln, sondern ein breites Netz an zufällig verteilten Messstationen aufzubauen. Die Messdaten sollten möglichst in Echtzeit öffentlich zugänglich sein. Weiterehin sollte die Verfügbarkeit von Langzeitdaten zum Gesundheitszustand von Personen für die wissenschaftliche Analyse – im Einklang mit den datenschutzrechtlichen Bestimmungen – initiiert werden. Dazu gehört die Georeferenzierung und die Verknüpfung mit weiteren sozioökonomischen Merkmalen. Selbstverständlich muss sichergestellt werden, dass sensible Daten hinlänglich anonymisiert werden und keine Rückschlüsse auf einzelne Individuen oder Haushalte möglich sind.
  2. In der gesellschaftlichen Debatte um Grenzwerte und Fahrverbote fehlt häufig eine genaue Definition der gesellschaftlichen Zielfunktion und der bei der Maximierung dieser Funktion zu beachtenden Nebenbedingungen. Im Verkehr gibt es viele Dimensionen, die gesellschaftlich relevant erscheinen, z. B. weniger Unfälle, umweltverträglicher Verkehr durch weniger Schadstoffausstoß und weniger Lärm oder eine Verringerung der im Stau verbrachten Zeit. Eine mögliche Nebenbedingung besteht in der Reduzierung negativer Beschäftigungseffekte durch bestimmte Regulierungsmaßnahmen. Nur wenn Klarheit und gesellschaftlicher Konsens über die zu maximierende Zielfunktion und die zu beachtenden Nebenbedingungen besteht, können geeignete Politikinstrumente ausgewählt werden.
  • 1 Vgl. z. B. M. Achtnicht, M. Kesternich, B. Sturm: Die „Diesel-Debatte“: ökonomische Handlungsempfehlungen an die Politik, in: Wirtschaftsdienst, 98. Jg. (2018), H. 8, S. 574-577, https://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2018/8/die-diesel-debatte-oekonomische-handlungsempfehlungen-an-die-politik/ (8.5.2019).
  • 2 Im Fall von Stickoxiden haben die Grenzwerte Eingang in die EU-Gesetzgebung gefunden, bei Feinstaub sind diese jedoch deutlich strikter als aktuelle EU-Grenzwerte.
  • 3 Für einen Überblick vgl. z. B. G. Hoek, R. Krishnan, R. Beelen, A. Peters, B. Ostro, B. Brunekreef, J. Kaufman: Long-term Air Pollution Exposure and Cardio-respiratory Mortality: A Review, in: Environmental Health, 12. Jg. (2013), H. 1, S. 43.
  • 4 K. Chay, M. Greenstone: Does Air Quality Matter? Evidence from the Housing Market, in: Journal of Political Economy, 113. Jg. (2005), H. 2, S. 376-424.
  • 5 T. Lampert, L. Kroll, E. von der Lippe, S. Müters, H. Stolzenberg: Sozioökonomischer Status und Gesundheit, in: Bundesgesundheitsblatt, 56. Jg. (2013), S. 814-821.
  • 6 Vgl. z. B. F. Kugler, G. Schwerdt, L. Wößmann: Ökonometrische Methoden zur Evaluierung kausaler Effekte der Wirtschaftspolitik, in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 15. Jg. (2014), H. 2, S. 105-132.
  • 7 Für eine ausführlichere Darstellung: W. Habla, V. Huwe, M. Kesternich: Plädoyer für eine evidenzbasierte Politik in der Debatte um Grenzwerte und Tempolimits, ZEW Policy Brief, Nr. 3-2019 (im Erscheinen).
  • 8 O. Deschênes, M. Greenstone, J. Shapiro: Defensive Investments and the Demand for Air Quality: Evidence from the NOx Budget Program, in: American Economic Review, 107. Jg. (2017), H. 10, S. 2958-2989.
  • 9 Vgl. etwa K. Chay, M. Greenstone: The Impact of Air Pollution on Infant Mortality: Evidence from Geographic Variation in Pollution Shocks induced by a Recession, in: The Quarterly Journal of Economics, 118. Jg. (2003), H. 3, S. 1121-1167; G. He, M. Fan, M. Zhou: The Effect of Air Pollution on Mortality in China: Evidence from the 2008 Beijing Olympic Games, HKUST IEMS Working Paper, Nr. 2015-03; C. Knittel, L. Douglas, J. Nicholas: Caution, Drivers! Children present: Traffic, Pollution, and Infant Health, in: The Review of Economics and Statistics, 98. Jg. (2016), Hg. 2, S. 350-366.
  • 10 J. Currie, M. Neidell: Air Pollution and Infant Health: What Can We Learn From California‘s Recent Experience, in: The Quarterly Journal of Economics, 120. Jg. (2005), H. 3, S. 1003-1030; J. Currie, M. Neidell, J. Schmieder: Air Pollution and Infant Health: Lessons from New Jersey, in: Journal of Health Economics, 28. Jg. (2009), H. 3, S. 688-703; W. Schlenker, W. Walker: Airports, Air Pollution, and Contemporaneous Health, in: Review of Economic Studies, 83. Jg. (2015), S. 768-809.
  • 11 T. Deryugina, G. Heutel, N. Miller, D. Molitor, J. Reif: The Mortality and Medical Cost of Air Pollution: Evidence from Changes in Wind Direction, NBER Working Paper Series, Nr. 22796, 2018.
  • 12 Y. Chen, A. Ebenstein, M. Greenstone, H. Li: Evidence on the Impact of Sustained Exposure to Air Pollution on Life Expectancy from China‘s Huai River Policy, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, 110. Jg. (2013), H. 32, S. 12936-12941.
  • 13 S. Bauernschuster, T. Hener, H. Rainer: When Labor Disputes Bring Cities to a Standstill: The Impact of Public Transit Strikes on Traffic, Accidents, Air Pollution and Health, in: American Economic Journal: Economic Policy, 9. Jg. (2017), H. 1, S. 1-37.
  • 14 Nach unserem Wissen liegt bislang lediglich eine kausal interpretierbare Studie vor: A. van Benthem: What is the Optimal Speed Limit on Freeways?, in: Journal of Public Economics, 124. Jg. (2015), S. 44-62.
  • 15 Vgl. A. Schmallowsky, T. Scholz, T. Wauer: Auswirkungen eines allgemeinen Tempolimits auf Autobahnen im Land Brandenburg, 2007, https://mil.brandenburg.de/cms/media.php/lbm1.a.2239.de/studie_tempolimit.pdf (25.2.2019).
  • 16 J. Graff Zivin, M. Neidell: The Impact of Pollution on Worker Productivity, in: American Economic Review, 102. Jg. (2012), H. 7, S. 3652-3673.
  • 17 T. Chang, J. Graff Zivin, T. Gross, M. Neidell: Particulate Pollution and the Productivity of Pear Packers, in: American Economic Journal: Economic Policy, 8. Jg. (2016), H. 3, S. 141-169.
  • 18 T. Chang, J. Graff Zivin, T. Gross, M. Neidell: The Effect of Pollution on Worker Productivity: Evidence from Call Center Workers in China, in: American Economic Journal: Applied Economics, 11. Jg. (2019), H. 1, S. 151-172.
  • 19 A. Lichter, N. Pestel, E. Sommer: Productivity Effects of Air Pollution: Evidence from Professional Soccer, in: Labor Economics, 48. Jg. (2017), S. 54-66.
  • 20 J. Archsmith, A. Heyes, S. Saberian: Air Quality and Error Quantity: Pollution and Performance in a High-skilled, Quality-focused Occupation, in: Journal of the Association of Environmental and Resource Economists, 5. Jg. (2018), H. 4, S. 827-863.
  • 21 A. Ebenstein, V. Lavy, S. Roth: The Long-Run Economic Consequences of High-Stakes Examinations: Evidence from Transitory Variation in Pollution, in: American Economic Journal: Applied Economics, 8. Jg. (2016), H. 4, S. 36-65.
  • 22 J. Heissel, C. Persico, D. Simon: Does Pollution Drive Achievement? The Effect of Traffic Pollution on Academic Performance, NBER Working Paper, Nr. 25489, 2019.
  • 23 Vgl. S. Roth: Air Pollution, Educational Achievements, and Human Capital Formation, IZA World of Labor, Nr. 381, 2017.
  • 24 Vgl. auch J. Graff Zivin, M. Neidell: Air Pollution‘s Hidden Impacts, in: Science, 359. Jg. (2018), H. 6371, S. 39-40.
  • 25 A. van Benthem, a. a. O.

Title:Plea for Evidence-based Policy in the Context of Air Pollution Thresholds and Speed Limits

Abstract:The authors diagnose a lack of evidence-based arguments in the discussions about urban air pollution and highway speed limits that leads to deadlock and does not further the debate. Two aspects stand out across the board: First, discussants fail to explain how studies about the effects of political measures qualify as causal and thus reliable evidence. Secondly, the debate neglects important dimensions affected by potential interventions and thus prevents a comprehensive assessment in terms of social costs and benefits. They call for a more differentiated examination of causal relationships and for an encompassing evaluation of potential transport policies.


DOI: 10.1007/s10273-019-2452-6