Die nächste Bundesregierung wird die Aufgabe haben, Deutschland zukunftsfähig zu machen. Die Frage, wie zukunftsfähige Staatsfinanzen eigentlich aussehen, wird dabei gerne ausgeklammert. Wenn überhaupt, geht es in der Diskussion um zukunftsfähige Finanzpolitik darum, wie man die Schuldenbremse reformieren, lockern oder zumindest umgehen könnte, um angesichts großer Investitionsbedarfe die geringen finanziellen Spielräume der nächsten Jahre zu vergrößern.
Neben politischem Pragmatismus mag das vor allem daran liegen, dass bis heute gute Finanzpolitik an der Schuldenquote, dem Verhältnis von öffentlicher Verschuldung zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), festgemacht wird. Als magische Zahl gilt dabei in Deutschland und Europa die 60 %-Schwelle. Deren Unterschreitung sichere Handlungsfähigkeit und bewahre zukünftige Generationen vor Altlasten. Doch wie Jan Priewe zeigt, hat die 60 %-Marke keine theoretische Begründung; sie bildete schlicht den Durchschnitt in der Europäischen Gemeinschaft in den frühen 1990er Jahren als die Maastricht Verträge abgeschlossen wurden.
Die zentrale fiskalpolitische Kennzahl, die Zukunftsfähigkeit sichern soll, entstammt damit historischen Umständen. Auch wenn daher ein Hauch von Willkür rührt – warum der Durchschnitt der frühen 1990er, und nicht der 1980er, 2000er oder 2010er Jahre? – muss das nicht verwerflich sein, solange dieselben Umstände weiter bestehen. Doch die Umstände haben sich geändert: Die Renditen 10-jähriger deutscher Staatsanleihen erreichten 1990 9 %, das Wachstum lag bei 5 % und sowohl Inflation als auch Zinszahlungen als Anteil des Haushalts nahmen zu. Heute liegen die Renditen 10-jähriger Anleihen bei -0,2 %, Wachstum und Inflation haben sich mehr als halbiert und die Zinskosten als Anteil des Haushalts gehen seit 1999 stetig zurück.
Aber nur weil die Zinskosten fallen und Renditen negativ sind, bedeutet das nicht das Ende der Herausforderungen für den Bundeshaushalt. Sie liegen heute an anderer Stelle: So macht der Zuschuss zur Rentenversicherung bereits jetzt knapp ein Drittel des Bundeshaushalts aus. In Zukunft werden noch weniger Menschen im erwerbstätigen Alter produktiv genug sein müssen, um für Renten und Pflegekosten aufzukommen. Die demografische Abhängigkeitsquote, die 2019 bei 36 % lag, soll bis 2040 auf 52 % steigen. Doch anstatt Erwerbspotenziale auszureizen, leistet sich Deutschland eine ökonomische Abhängigkeitsquote, dem Verhältnis von Transferleistungsempfänger:innen zu Erwerbstätigen, von 62 %.
Ändern sich die Umstände, sollte sich das Maß anpassen, mit dem wir Zukunftsfähigkeit messen. Angesichts fallender Zinsausgaben und raschem demografischen Wandel sollte die Zukunftsfähigkeit unserer Finanzpolitik heute daran gemessen werden, ob sie eine voll ausgelastete, produktive Wirtschaft ermöglicht. Dieses Ziel ist erreicht, wenn sich alle, die können und wollen, durch ihre eigene Arbeit das Leben und die Rente finanzieren können. Das begrenzt die benötigten Zuschüsse zur Rentenversicherung sowie Sozialleistungen und sorgt für stabile Steuereinnahmen.
Das Ziel der Vollauslastung ist dabei umfassender als das der Vollbeschäftigung, da letzteres nur auf eine niedrige Arbeitslosenquote abzielt. Gerade in Deutschland ist die Arbeitslosenstatistik jedoch kein guter Proxy für die fiskalischen Auswirkungen der Beschäftigungssituation: mit einer Niedriglohnquote von 22 %, einer Teilzeitquote von 50 % bei Frauen und 4,5 Mio. geringfügig Beschäftigten gibt es erhebliche Untiefen im Arbeitsmarkt, und damit in Renten- und Sozialversicherungen sowie im Haushalt, die in der Erwerbslosenstatistik nicht sichtbar werden.
Paradigmenwechsel?
Nun könnte man argumentieren, dass das Ziel der Vollauslastung bereits in der deutschen Fiskalpolitik integriert ist. Die Schuldenbremse schreibt schließlich kein starres Defizitlimit vor, sondern erlaubt über die Notfallklausel und Konjunkturkomponente bereits eine konjunkturstabilisierende Fiskalpolitik. Konjunkturstabilisierung und Vollauslastung sind bei genauerem Hinsehen jedoch zwei unterschiedliche Zielsetzungen: Während erstere die Konjunktur um einen vergangenen Trend herum zu stabilisieren versucht, zielt letztere darauf ab, das Potenzial der Wirtschaft auszureizen. Nur im Ausnahmefall, falls sich die Wirtschaft bereits historisch auf dem bestmöglichen Wachstumspfad befindet, fallen Konjunkturstabilisierung und Vollauslastung zusammen.
Es gibt jedoch zahlreiche Gründe, warum dieser Fall die Ausnahme darstellt: So können Wirtschaften durch vergangene Abschwünge auf niedrigere Wachstumspfade gelangen, z. B. aufgrund von Hysterese, d. h. dauerhaften Arbeitsmarkt- und (Nicht-)Investitionseffekten. Gedämpfte Erwartungen für die Zukunft führen dazu, dass auch in Nichtkrisenzeiten Investitionen ausbleiben können. Und Eigenheiten des Finanzmarkts, wie z. B. eine steigende Nachfrage nach sicheren Anlagen zur Alterssicherung können dazu führen, dass der Zins für risikobehaftete Investitionen in die Realwirtschaft zu hoch liegt, als dass die Wirtschaft durch Kreditnachfrage an ihre Kapazitätsgrenzen gebracht wird.
Aufgrund dieser und anderer Mechanismen gibt es keinen Automatismus, der Wirtschaften zur Auslastung ihrer angebotsseitig gegebenen Kapazitäten bringt. Im Gegenteil: Wie man an der US-amerikanischen Entwicklung der letzten Jahre sehen konnte, hat eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften zu einer Ausweitung des Arbeitsangebots geführt. Das bedeutet nicht, dass das Potenzial einer Wirtschaft allein durch die Nachfrage bestimmt wird. Ohne Kitaplätze, die es Müttern ermöglichen, der Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft nachzukommen, hat auch zusätzliche Nachfrage keinen Effekt.
Nimmt man das Ziel der Vollauslastung jedoch ernst, bedeutet es eine Abkehr von der Zielsetzung, keine dauerhaften Defizite einzugehen. Denn unter der Schuldenbremse können Konjunkturpolitik und die Vermeidung dauerhafter Defizite nur vereint werden, indem man annimmt, dass der vergangene Trend das Potenzial der Wirtschaft darstellt. Diese Annahme garantiert, dass die Wirtschaft nie dauerhaft unter ihrem Potenzial liegt und damit keine dauerhaften Defizite zu ihrer Stabilisierung nötig sind.
Eine Abkehr von der Vermeidung dauerhafter Defizite bedeutet aber keine Abkehr von der ursprünglichen Intention der Schuldenbremse, einer Begrenzung des Schuldenstands: Solange das BIP-Wachstum die Renditen von Staatsanleihen übersteigt – wie heute der Fall – stabilisiert sich die Schuldenquote trotz Neuverschuldung. Und im Gegensatz zur bisherigen Ausgestaltung der Schuldenbremse würde unter einem Vollauslastungsziel die langfristige Tragfähigkeit der Finanzen gestärkt werden.
Rollentausch von Geld- und Fiskalpolitik
In den vergangenen 30 Jahren sahen Ökonom:innen die Stabilisierung der Konjunktur vor allem als Aufgabe der Geldpolitik an, während die Fiskalpolitik die Schulden zu begrenzen hatte. Wieso sollte das nun anders sein?
Der offensichtlichste Grund für einen Rollentausch ist das Erreichen des „effective lower bound“, des Punktes, an dem Zentralbanken die Wirtschaft nicht mehr durch weitere Zinssenkungen stimulieren können. Doch auch mikroökonomisch scheinen heute öffentliche Investitionen die Voraussetzung für weitere private Investitionen geworden zu sein. Angesichts kommunaler Investitionsrückstände, der Nachfrage nach öffentlichen Dienstleistungen in Erziehung, Bildung oder Pflege sowie dem Bedarf an Klimainvestitionen ist es wenig überraschend, dass öffentliche Investitionen gegenwärtig eher zu „crowding in“ als zu „crowding out“ von privaten Investitionen führen.
Darüber hinaus ist die Wirkung des von der Zentralbank beeinflussten Zinsniveaus auf die Staatsverschuldung umso größer, je höher die Verschuldung selbst ist. In Zeiten hoher öffentlicher Verschuldung ist die Geldpolitik daher besonders effektiv bei der Begrenzung der Verschuldung. In der gegenwärtigen Situation spricht daher vieles für einen Rollentausch von Fiskal- und Geldpolitik.
Geld- und Fiskalpolitik agieren außerdem über unterschiedliche Kanäle. Während die Geldpolitik die Wirtschaft über private Verschuldung stimuliert, erreicht die Fiskalpolitik dies über öffentliche Defizite. Der Einsatz von Geld- anstelle von Fiskalpolitik spart also gesamtwirtschaftlich gesehen keine Schulden.1 Im ersten Fall entscheidet allerdings ein technokratisches Gremium über die Geldpolitik, Banken teilen private Kredite zu. Im letzten werden öffentliche Schulden durch ein Parlament legitimiert. Ob Geld- oder Fiskalpolitik zu bevorzugen ist, kommt also auch darauf an, über welchen Kanal und mit welcher Legitimation die Wirtschaft angekurbelt werden soll.
Reformoptionen
Der gegenwärtige Rahmen der deutschen Fiskalpolitik ist von dem europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt sowie der Schuldenbremse vorgegeben. Letztere ist im Grundgesetz verankert und definiert ein maximal zulässiges jährliches Defizit (so die Begrenzung des Defizits nicht aufgrund einer Notlage aufgehoben wird). Eine Änderung der Schuldenbremse an sich würde eine Zweidrittelmehrheit in Bundesrat und Bundestag erfordern. Die Ausgestaltung der Konjunkturkomponente der Schuldenbremse ist jedoch nicht im Grundgesetz geregelt. Die Konjunkturkomponente bestimmt, wie sehr sich die maximal zulässige Nettokreditaufnahme in Abhängigkeit von wirtschaftlichen Schwankungen verändert. Heute gestattet die Konjunkturkomponente nur die Stabilisierung des vergangenen wirtschaftlichen Trends, jedoch nicht die Vollauslastung der Wirtschaft. Ihre Berechnung basiert auf einem einfachen Bundesgesetz, einer Verordnung der Bundesregierung und schließlich der von der Output Gaps Working Group der EU-Mitgliedstaaten (OGWG) entwickelten Schätzmethode für das Produktionspotenzial (die auch im Rahmen der europäischen Fiskalregeln zum Tragen kommt).
Daher wäre es möglich, die Berechnung der Konjunkturkomponente ohne Grundgesetzänderung anzupassen. Um von Trendstabilisierung zu Vollauslastung zu gelangen, bedürfte es einer Überarbeitung der Schätzmethode des Produktionspotenzials, auf Grundlage dessen die Über- bzw. Unterauslastung der Wirtschaft festgestellt wird. Wie bereits erwähnt, wird das Produktionspotenzial heute vor allem auf Basis vergangener Trends berechnet. So ist die Wirtschaft per definitionem nie dauerhaft unterausgelastet, was einerseits dauerhafte fiskalische Defizite verbietet, andererseits zu unplausibel niedrigen Potenzialschätzungen führt.
So ist das für Deutschland geschätzte Potenzial heute z. B. bereits erreicht, wenn die Partizipationsquote von Frauen 9 Prozentpunkte unter der von Männern liegt, wenn 5,6 Mio. Menschen unfreiwillig oder unnötig Teilzeit arbeiten und wenn 2,2 % der Erwerbsbevölkerung Langzeitarbeitslose sind, also Menschen, die aktiv Arbeit suchen und in einem Vermittlungsprozess sind, jedoch keine Stelle finden.
In einer Zeit, in der die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen primär von einer voll ausgelasteten Wirtschaft abhängt, ist das weder eine besonders plausible noch sehr zielführende Definition des Produktionspotenzials: Wäre die Politik heute z. B. sehr erfolgreich darin, das Kita-Betreuungsangebot auszubauen und würde das zu einer höheren Erwerbsbeteiligung von Frauen führen, käme die fiskalpolitische Quittung postwendend. Die Wirtschaft würde ihr – auf der Basis vergangener Trends berechnetes – Potenzial überschreiten, es müsste gespart werden, um Inflation zu verhindern (die nicht eintritt, da das Arbeitskräftepotenzial ausgeweitet wurde).
Wir schlagen daher vor, die Inputs zur Berechnung des Produktionspotenzials so weiterzuentwickeln, dass die Schätzung tatsächlich das wirtschaftliche Potenzial widerspiegelt, oder sich ihm zumindest annähert, anstatt die Vergangenheit zu perpetuieren. Dabei beschränken wir uns auf die Modifikation dreier Inputs der Berechnung des Arbeitspotenzials: die Arbeitsmarktbeteiligung, die jährlich pro Person gearbeiteten Stunden sowie die niedrigst mögliche Erwerbslosenquote.2 Wir definieren das Potenzial der Wirtschaft als erreicht, wenn erstens der Unterschied in der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und Männern auf skandinavischem Niveau bei 3 Prozentpunkten liegt, zweitens unnötige und unfreiwillige Teilzeit mindestens halbiert ist und drittens es nur noch kurzfristige, friktionelle Arbeitslosigkeit gibt.
Diese Anpassungen resultieren in einer Konjunkturkomponente von 20 Mrd. bis 24 Mrd. Euro für 2023. Werden zudem die automatischen Stabilisatoren gestärkt, sodass sich die Budgetsemielastizität von 0,203 auf z. B. 0,5 erhöht, wächst die Konjunkturkomponente für 2023 auf 50 Mrd. bis 60 Mrd. Euro an. Insgesamt wäre in dem Jahr dann ein Defizit von circa 70 Mrd. Euro oder 2 % des BIP möglich. Dabei ist die Erhöhung der Konjunkturkomponente kein Selbstzweck, sondern der erste Schritt in Richtung einer zukunftsfähigen Fiskalpolitik, die die Forschungsergebnisse der letzten Jahre reflektiert und auf die heutigen Herausforderungen, nicht die der 1990er Jahre eingeht.
Damit diese Potenziale erreicht werden können, bedarf es außerdem entsprechender Investitionen. Diese sicherzustellen ist die Aufgabe des demokratischen Prozesses, erst zwischen den Fachressorts und dem Finanzministerium und anschließend im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags.
Eine Fiskalpolitik, die den Spielraum für dauerhafte Defizite erhöht, sollte die Risiken von Verschuldung genau im Blick haben. Im Fall Deutschlands geht es hierbei um Zinsrisiken. Steigen die Zinsen, können gerade bei hohen Schulden die öffentlichen Finanzierungskosten stark ansteigen. Die Schuldenquote erfasst eine solche Zinswende jedoch erst mit großer Verspätung, da deutsche Staatsanleihen eine durchschnittliche Laufzeit von sieben Jahren haben. Ein sensiblerer Indikator ist der Anteil der Zinszahlungen am Haushalt. Steigt dieser um 1 Prozentpunkt, schlagen wir vor, dass die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag darlegen muss, wie sie das Zinsrisiko einschätzt und wie sie plant, damit umzugehen. In der Vergangenheit hätte der Indikator 1992, 1994, 1997 und zuletzt 1999 angeschlagen, also rechtzeitig und wiederholt vor steigenden Zinskosten im Haushalt gewarnt.
Die Zeit für erste Schritte ist jetzt
In Zeiten niedriger Zinsen und großer demografischer Herausforderungen wirkt die Schuldenbremse in ihrer heutigen Ausgestaltung aus der Zeit gefallen. Kurzsichtig stets das jährliche Defizit minimierend, erlaubt sie, dass sich im Hintergrund langfristige Risiken aufbauen. Eine zukunftsfähige Fiskalpolitik zielt stattdessen auf die Vollauslastung der Wirtschaft ab, gibt möglichst vielen arbeitsfähigen und -willigen Menschen die Chance ihr Leben aus eigener Kraft zu bestreiten und erlaubt die notwendigen Zukunftsinvestitionen. Wir schlagen vor, die Berechnung des Produktionspotenzials im Rahmen der Schuldenbremse anzupassen, um einen ersten Schritt in Richtung dieses Ziels zu gehen. Zusätzlich werden in unserem Vorschlag die automatischen Stabilisatoren gestärkt, um Rückschläge in Krisen zu verhindern, sowie zielgerichtete Investitionen ermöglicht, damit realwirtschaftliche Potenziale erhöht werden, die dann tatsächlich ausgeschöpft werden können. Mit der Einführung des Zinsindikators wird schließlich sichergestellt, dass die Zinskosten nicht wie in der Vergangenheit unbeobachtet auf ein hohes und problematisches Niveau ansteigen können.
Zukunftsfähigkeit bedeutet heute eine neue Weichenstellung bei den Staatsfinanzen. So es die Politik ernst damit meint, die Herausforderungen der Zukunft anzupacken, kann sie sich nicht mit einem fiskalpolitischen Korsett aus der Vergangenheit abfinden. Es ist höchste Zeit die Kennzahlen aus den 1990er Jahren einzumotten und erste Schritte in Richtung einer neuen deutschen Finanzpolitik zu gehen.
- 1 Will eine Volkswirtschaft die zur Vollauslastung benötigte Verschuldung reduzieren, bedarf es Strukturpolitik, wie z. B. progressiver Einkommen- oder Vermögensteuern. Ärmere und einkommenschwache Haushalte haben eine höhere Konsumquote als reiche und einkommenstarke Haushalte. Je gleicher Einkommen und Vermögen verteilt sind, desto höher das strukturelle Nachfrageniveau der Wirtschaft.
- 2 Auch wenn die totale Faktorproduktivität sicher ein ebenso problematisches Maß ist.